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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

20.1.

Erstes Zwischenergebnis meines Lebens ohne Zeitung: great. Natürlich. Führt das nicht immer zu Hochgefühlen, wenn man sich etwas abgewöhnt? Eine ungewohnte Gedankenfülle, allein da, um von mir ausgewickelt zu werden. Knisterndes Papier.

Cheat days oder moments bislang keine — Bis auf die Titelseiten, die ich überflogen habe. Im Vorübergehen.

Eigentlich ist es abstoßend, dass Produktivität, dass allein die Aussicht auf eine Steigerung des Ertrages, mir das Höchste der Gefühle bedeutet. Bin ich mein Züchter? mein Wirt?

Auch Träume wollen gelesen werden. Und um sich ihre Aufmerksamkeit zu verschaffen, greifen sie freilich zu subtilen Mitteln: So war im Eingangsbereich meines Traumgeschehens in der vergangenen Nacht eine blausilbern gefärbte Topfpflanze aufgestellt. Im Hinausgehen erklärte ich meiner Begleitung, dass es sich dabei um einen Wacholder handelte. Daran wurde dann ich noch stundenlang nach dem Aufwachen erinnert. Der Traumaugenblick selbst drängte sich mir geradezu auf wie ein mich umschmeichelndes Tier; ich sollte ihn deuten.

Zunächst dachte ich an das Naheliegende, an den Ausflug ins Engadin, wo uns im Hotel eine sogenannte Latwerge, ein Sirup aus Wacholder serviert worden war. Als diese Deutung nichts bewirkte, schrieb ich mir das Wort zwecks Etymbetrachtung auf und zeichnete die geträumte Pflanze sogar, um diesen Einfall gebührend zu würdigen. Und siehe da Wach/older — stimmte wohl: nach dem Aufwachen ist man älter. Eine simple Botschaft, aber so sind die da drüben im Unbewussten nun mal drauf.

Jedenfalls wurde ich von da an in Ruhe gelassen.

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19.1.

Nachmittags noch zum Maskenhändler, bevor die Preise anziehen. Der Laden hat vor ziemlich genau einem Jahr hier auf der Allee eröffnet. Ursprünglich hatte der Inhaber, ein Portugiese, in den weitflächigen Räumlichkeiten gegenüber des Neubaus der F.A.Z. ein Reisebüro betreiben wollen. Diese Geschäftsidee wurde dann bekanntlich von den Zeitläuften zunichte gemacht. Seine Vermieterin, eine Chinesin, hat ihn daraufhin aber nicht aus dem Mietvertrag entlassen, sondern zum Verkäufer in ihrem Fachhandel für Atemschutzmasken aller Art ernannt.

In den Anfangstagen wurde dort zudem noch Rotwein aus dem Bordeaux verkauft. Jetzt stehen auf dem mit portugiesischen Fayencen gefliesten Boden halt stapelweise die Kartons mit den Masken herum. Der Laden ist ein Provisorium geblieben, das ist vielleicht ein Zeichen unserer Zeit. Dabei aber voll auf den Moment des Verkaufs konzentriert. Ein Verweilen ist weder erwünscht noch begründbar. Man nennt seinen gewünschten Schutzfaktor, bezahlt in bar und geht. Ich fragte den Portugiesen freilich, ob er jetzt, da die FFP2-Masken obligato geworden, auch ausreichend davon auf Lager hätte. Er verwies auf die Chinesin: die säße «auf Millionen». Ob Kartons, ob Paletten oder gar Schiffscontainer davon, behielt er, ihr Gesicht wahrend, für sich.

Abends dann sogenannte Pinsa, eine italienische Spezialität, eine Urform der Pizza im Grunde, die uns bislang unbekannt war. Ja, ich hatte das anfänglich für einen Schreibfehler auf dem Schild gehalten; einen ziemlich teuren natürlich und somit meiner Schadenfreude umso dienlicher. Aber: Auch ich lerne nie aus. Das Schild war tutto completti, so, wie es war. Bei der Pinsa handelt sich um eine Art Pizza, deren Belag auf einem «altrömischen Teig» gebacken wird. Der Vorteil dieses Teigs besteht angeblich darin, dass er bis zu 25% weniger Kalorien enthält. Wovon der Flyer des Pinsa-Bächers schweigt: Er schmeckt auch mindestens 25 mal besser! Zum ersten Mal hatte ich nach dem Pizza-Genuss nicht das Gefühl, ein Stück zu viel gegessen zu haben. Schaumig leicht und dennoch knusprig wie die Pinsa selbst gestaltete sich daraufhin mein Schlaf…

 

Das Restaurant, das übrigens haarsträubend eingerichtet ist, wurde mitten im Lockdown eröffnet. Mit seinen Pinsen kommt es genau zur rechten Zeit.

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18.1.

Am Nachmittag strömten die Nachbarn hinaus auf das Feld, in den Garten; sie nahmen Aufstellung vor den mit Schnee bedeckten Büschen, rollten den unter den Büschen liegenden Schnee zu Kugeln, aus denen sie Schneemänner stapelten. Nach ein paar Stunden war der Rasen zertrampelt, die makellose Schneeschicht perdu — Während all dessen filmten oder fotografierten meine Nachbarn sich gegenseitig. Meine Gabe für die Elstern blieb dabei unangetastet. Später, als die weiße Decke des Rasens komplett zertrampelt war, verlagerten sie ihren Shoot out auf die Straße vor unserem Haus. Schneeballschlacht, und im Hintergrund schwarz glänzende Limousinen.

Mittlerweile geht es wohl nicht mehr darum, ob du etwas erlebst, oder was du davon erzählen kannst; sie wollen dein Foto sehen.

Bei Isabelle Graw bin ich mittlerweile an der Stelle angelangt, wo Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde. Es stimmt also tatsächlich, dass die Texte mit der Zeit nur noch an Bedeutung gewinnen. Ich muss bloß noch geduldiger werden.

Ein Reporter des New Yorker hat mit seinem Telefon die Eindringlinge verfolgt, die das Innerste des Kapitols erobert haben. Das Beeindruckende an dem Film von Luke Mogelson ist, dass die Horden im Angesicht des leeren Zentrums tatsächlich verharren. Dort sind bloß Akten. Sie suchen nach Opfern, aber finden nichts als Papier. Einer wühlt noch in den Fotokopien herum, doch es gibt nichts — und über ihnen stimmt der Gehörnte seinen archaischen Schlachtruf an. Und dann beten sie mit ihm gemeinsam. Dass einer von ihnen — off camera — gesagt hat: Wir könnten doch jetzt eine Regierung gründen, wirkt mittlerweile bloß peinlich (aber damals, in dem Moment?)

Das Zentrum ist leer. Es gibt nichts zu holen.

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17.1.

Die Elternlosigkeit stelle ich mir vor wie die letzte Entwicklungsstufe vor dem eigenen Tod. Wohin wendet man sich dann? wohin zieht oder drängt es einen bei Gefahr? Wahrscheinlich in das Offene, in die Natur.

Im Fernsehen war vorgestern ein Mann zu Gast, der, so wurde erzählt, einige Zeit lang in einer Streusalzkiste geschlafen hatte. In die Sendung eingeladen hatte man ihn aber, weil er sich aus dieser Existenz im Offenen befreit hatte. Im Einspielfilm wurde gezeigt, dass er mittlerweile einen Malereibetrieb hat, es kommen auch seine Kunden zu Wort, sowie sein Lehrmeister. Obwohl es also gut gelaufen ist für ihn, wirkte er auf mich verstört; gerade so, als ob die Fernsehleute den Deckel seiner Streusalzkiste angehoben hatten, um ihn zu befragen. Dazu passend schaut Isabelle Graw aus dem Fenster und sieht dort auf der stark befahrenen Straße eine Gestalt, die eine «Mega-Karre» aus zwei ineinandergeschobenen Einkaufswägen bergan zu schieben versucht. Es regnet. Das Offene ist nicht überallhin offen, aber es hat kein Dach. Die Erinnerung an das Video zu Let’s Dance war sofort da, leuchtend, als hätte man mir ein Dia eingeschoben. Dass dort eine schwere Maschine durch den Straßenverkehr geschoben wurde, hat sich mir eingeprägt.

Heute liegt Schnee. Durch das Fernrohr konnte ich beobachten, wie das Elsterpaar in der weißen Schicht umherhüpfte, um nach dem darunterliegenden Rasen zu graben. Ich füllte eine Schale mit Nüssen, Haferflocken und Apfelresten, stellte die dort unten auf. Es dauerte eine ganze Weile, bis die beiden sich der Schale näherten. Dann wurde sie, ein Fremdkörper im Offenen, umtanzt, aber noch immer wurde das darin angebotene Futter nicht angerührt. Eine für mich natürlich überhaupt nicht mehr nachvollziehbar lange Weile saßen daraufhin beide in einem kahlen Geäst nahe der Schale und plusterten sich auf. Bis dahin herrschte zwischen beiden jene Einigkeit, die ich von meinen Beobachtungen kannte, beziehungsweise, die sie für mich als Beobachtungsobjekte überhaupt interessant gemacht haben. Bei den Elstern gibt es keine Geschlechtsunterschiede (jedenfalls kann ich durch mein Fernrohr keine erkennen). Kaum, dass nun die eine sich eine Nuss von der Schale genommen hatte, fingen sie an, sich gegenseitig von der Futterstelle zu verjagen. Bei der, die die andere erfolgreich auf Distanz hielt, ging ich unwillkürlich davon aus, dass sie der männliche von beiden Vögeln war. Das war das Eine. Traurig machte mich, dass ich mit meiner Gabe ihre Einigkeit gespalten hatte. Mein Eingriff in das Offene hat mir die Freude an seiner Betrachtung verleidet. Den Anblick der hungernden Elstern, die Beobachtung ihres erfolglosen Pickens hätte ich besser aushalten sollen.

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16.1.

Greif zur Feder, Kumpel! Gestern dachte ich, allmählich wäre es nun an der Zeit, für’s Mittagessen einzukaufen. Dabei, das fiel mir beinahe zeitgleich ein — beziehungsweise liess ich mir auch das von meinem Gefühl sagen — war ich doch nicht zuhause. So aß man dort: draußen, im Freien, im Stehen, im Gehen. Das war nicht schön. Immer wieder schaute ein Mensch mich an wie ertappt, ließ seinen Schatz in Silberfolie sinken. Neulich, das allerdings noch in Frankfurt, kam mir um die selbe Zeit eine Reihe oder Folge junger Männer entgegen, die einen zufriedenen Eindruck auf mich machten. Obwohl es da auch kalt gewesen war. Aber diese waren auf dem Weg zurück in ihr warmes Bürogebäude. Die Styroporbehälter und Pizzakartons, die sie trugen, würden die Speise noch warm behalten haben; sie aßen am Platz.

Bei Isabelle Graw ging es heute um Rückkehr nach Reims, das ich noch nicht gelesen hatte und jetzt wohl auch nicht mehr lesen werde, weil mich die Milieuflucht von Isabelle Graw selbst mehr zu interessieren scheint. Der Text gehört zu ihrem Triptychon der Männerarten, das die erste Hälfte des Bandes beschließt. Getragen wurden die unterschiedlichen Themen in diesem Teil der Anderen Welt von der Trauer über den Tod ihrer Mutter, die in das Gefühl des Alleineseins in der Elternlosigkeit übergeht.

Was Mozartkugeln angeht, so munden mir die «Constanze Mozart Kugeln» sehr viel besser noch als die üblichen. Ich wusste bloß lange nichts von ihrer Existenz, habe sie gestern erst im Rewe des Hauptbahnhofs, in dem ich mich aufwärmen ließ, entdeckt.

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