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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

10.1.

Während ich beim Fahren in die untergehende Sonne blinzelte kam mir die Idee, ob ich in diesem Jahr nach dem Ratschlag meines unvergessenen Lehrers für Deutsch und Geschichte leben sollte: ohne Zeitung. Nicht zur Abwechslung und auch nicht als alberner Vorsatz. Aber er war der Ansicht (ich nehme an, gewesen), auf diese Tour käme man auf ein noch einmal ganz anderes Plateau (er drückte sich natürlich nicht so aus, aber den Ton vergisst man halt leicht, den Inhalt der Rede dagegen nicht, nicht wahr?)

Wie ein Zeichen hatte ich bei meiner Rückkehr einen ungewohnt kleinformatigen Umschlag im Briefkasten vorgefunden, darin das Notizbuch von Isabelle Graw. Vor Unzeiten bestellt, kam es jetzt wie gerufen. Ich brauchte ja anderen Stoff als Ersatz. Was die morgendliche Lektüre angeht: Ich habe sie gern unterhaltsam. Außerdem hatte ich tatsächlich schon seit beinahe einem Jahr kein Buch mehr von einer Autorin gelesen. Das war also ein Zusatzpunkt, der für In einer anderen Welt sprach. So gesehen, aus männlicher Perspektive, ist allein der Titel viel versprechend. Und schon im Vorwort geht es auf eine angenehm komplexe Weise um die Beschreibung sowie Abgrenzung eines Ichs, das diese Texte verfasst haben soll. Während ich las, ließ ich das Ultraschallgerät surren, in dessen Innenraum die Rheinmuscheln ihrer Reinigung harrten. Jetzt bei der Niederschrift frage ich mich, ob das ganze Tier Muschel heißt oder ob bloß das Innere, das man essen kann, als Muschel bezeichnet wird. Und die Gehäusehälften der Muschel, die ja zeitlebens als eine Art Exoskelett der Molluske dienen als — Muschelschalen?

Dazu brannte bis zum Sonnenaufgang eine Kerze. Auch zum Andenken an den kleinen Hund Floyd, sowie an den Kater Dusty, die ersten Toten in diesem Jahr, die ich kannte. Dusty aber lebt weiterhin, als GIF oder Clip einer namenlosen schwarzen Katze, der aus einem engwandigen Glas Wasser schlürft. Würde die Katze allein durch einen Filmschnipsel am Leben erhalten, der irgendwo in den Untiefen eines Speichers aufbewahrt wird, um dort seines Anklickens zu harren? Ich glaube nicht. Ein Platz auf der Website bedeutet einen Platz in der Öffentlichkeit. Und wenn nur zwei User das GIF der schlürfenden Katze betrachten, ist der Kater Dusty direkt unter ihnen.

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9.1.

Nebel bringt den Himmel auf die Erde. Über Nacht waren wir alle mit allem nach dort oben gebracht worden. Hier am Niederrhein wirkte es besonders magisch auf mich. Draußen, wo die Weite mit einem Mal tatsächlich unendlich geworden war, näherten sich unscharfe Gestalten von hinter der großen, beschlagenen Scheibe. Und in Zons, wo vor der Statdmauer noch immer ein Schweinebrunnen an den Schweinediebstahl von 1575 erinnert (die Ringelschwänzchen der Bronze-Schweine von unzähligen Händen goldglänzend poliert), zeigten bis hinauf auf den Damm sich einzelne Figuren im milchigen Grün; ungefähr so angezogen wie die Leute zu Breughels Zeiten. Winzige Muscheln zwischen den Rheinkieseln, einige davon unbeschädigt. Ein Frachter aus Belgien drang lautlos durch die Suppe voran. Die Nationalfarben beinahe leuchtend an der breiten Flagge. Nicht totzukriegen.

Am Morgen noch die Lockung eines Kälbchens, das — antizyklisch geboren — seinen niedlich runden Kopf unerbittlich ins leere Euter der Mutter stieß, um mit milchverschmierter Schnauze wieder aufzutauchen. Rotbraun gescheckt, im aufgehellten Braunton der Muscheln; ihrem Farbton von Rost, Farbe der Algen. Im Augenwinkel huschte eine Flamme vorüber: Ein Fuchs, verletzt am rechten Hinterlauf. Und später ein blondes Eichhörnchen, dessen Schweif ins Weiße ausgebleicht war.

Auf der Heimfahrt durch den verschneiten Westerwald kam allmählich die Sonne durch. Wolkenloser Himmel über Frankfurt, die Sonne wärmt durch die Windschutzscheibe. Drinnen sehr laut Ghost Town (Extended Version).

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8.1.

Seidenglatte Fahrt, beinahe ein Flug von Gallus nach Allerheiligen. Gleich hinter Frankfurt waren die Wälder und Felder entlang der Böschungen mit Schnee bestäubt; verblüffender Effekt (Bob Ross Black Canvas Paintings). Wir sprachen über Pynchon. Was er wohl gedacht hat, als er Jake, den Gehörnten im Pelz, mit dem tättowierten Hammer Thors auf der nackten Lende, den amerikanischen Farben quer über’m Gesicht vor sich hatte — auf dem Bildschirm vor sich, selbstverständlich. Thomas Pynchon wird 84 in diesem Jahr. Er lebt jetzt schon so lange, dass er die Perversion von Jerry Rubins Manifest noch bezeugen kann.

Friederikes Mutter hat zwei große Wollkörbe. Beide sind übervoll gefüllt mit Knäueln von sämtlichen Wollsorten und Farben. Sehr viel mehr Wolle, als sie für die Stücke, an denen sie gerade strickt, benötigt. Ich dachte an meine Bücher daheim.

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7.1.

Den restlichen Tee hatte ich am vorangegangenen Nachmittag verbraucht. Zu Weihnachten war uns eine Tüte mit Kaffeebohnen, original in der Röstung für die Spiegelkantine geschenkt worden. Ein Logo der Spiegelkantine, ein Blick in die Lampen von Verner Panton aus der Froschperspektive, war auf die Tüte gedruckt. Der Kaffee schmeckte herrlich. Würzig, rau. Ich stellte mir vor, wie — vielleicht war es Cordt Schnibben selbst, der dort in Hamburg an einer raumhohen Fensterfront stand und hinaussah, durch die Scheibe, auf einen vom Nebel verhangenen Kanal, gefüllt mit dunklem Wasser. Es hatte gerade zu schneien begonnen, ganz sanft schwebten die Flocken umher und ich dachte an das Titelbild der nächsten Ausgabe: Ein bunter Scherenschnitt von Trump auf der Kuppel des Capitols, wie King Kong, die Flammen lodern empor, er spielt auf einer Harfe (die Harfe besteht aus seinem gelben Haar) — oder würde dieses gelbe Haar selbst eine der Flammen abgeben müssen, die am Capitol emporzüngelten? Oder: Würden nicht Trumps schwarze Augen, sein schwarzer Mund allein, grob vereinfacht dargestellt wie bei Edvard Munch, in einer der orangefarbenen Flammen genügen?

Ich schaute in meine leere Kaffeetasse. Noch lieber bliebe ich bei Tee. Mir war zuletzt eine Probe überreicht worden, das geleerte Tütchen hatte ich aufbewahrt. Das Kraut wurde als Assam Nr. 5 TGBOP BOISAHABI bezeichnet. Laut dieses etwas überdeterminiert formulierten Etiketts handelte es sich obendrein um einen «feinen, kraftvollen Herrentee mit malziger, kastanienroter Tasse» (der mir trotzdem sehr gut gemundet hatte).

Auf dem Weg ins Plaza fiel mir ein normal alter Vater auf, der sein Kind im Wagen an mir vorüberschob wie in einem Film. Die filmhaftigkeit der Szene wurde vor allem durch die Augen seines Kindes hervorgerufen, die groß und klar und wasserblau glänzten. Das Kind drehte seinen marzipanzarten Kopf nach mir, der ich in die entgegengesetzte Richtung davon strebte. Ich fürchtete, gleich dreht er ab. Als ich wenige Augenblicke später einen Vogel fotografieren wollte, sprach mich ein Mann an. Er hatte sich von mir unbemerkt genähert, sodass ich erschrocken war.

«Keine Angst, ich bin von der Polizei.» Er zeigte mir einen Ausweis der Kriminalpolizei. Auf seinem Outdoor-Handy rief er das Bild einer jüngeren Frau auf, die dort grell ausgeleuchtet neben einem an der Wand befestigten Metermaß aufgenommen worden war: «Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?»

Ich antwortete mit einer Gegenfrage, was mir leider erst bewußt werden konnte, als ich meinen Satz selbst zu Gehör bekam. Auf meine Erwähnung des wie ausgedacht klingenden Namen des konspirativen Hausbewohners ging er gar nicht erst ein. Der Ermittler sah derart unscheinbar aus, dass ich mich kaum sattsehen konnte. Beziehungsweise musste ich wieder und wieder zu ihm hinsehen, aber ich konnte mir kein einziges Detail einprägen. Er war wie die Frau, nach der er suchte: Einer von vielen, von sehr vielen.

Sie waren (beinahe) überall.

Morgen fahren wir weg; weit weg. Vielleicht ist dort ja die Welt noch in Ordnung.

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6.1.

Die Nadel des Barometers verharrt auf einer Position von 1010 Hektopascal (in seiner Sprache «fünf vor zwölf»). Aber morgens grüßt mich jetzt immer ein heiter gelaunter Mann, sein Gesicht, wie es scheint, zwischen zwei vulominöse Pompons gedrängt — geformt, gebunden ausgekämmt, toupiert aus seinem eigenen Haar; in Wirklichkeit hat er sein gesicht wohl nicht dazwischen gedrängt, ihm steht seine Krause, in zwei Pompons geformt, zu beiden Seiten vom Kopfe ab. Es ist der Theaterschauspieler Jeremy O. Harris, der mich mit seinem heiteren Grinsen ansteckt. Auf dem Kopf trägt er zudem noch eine Trucker Cap mit der Aufschrift Salzburg . Ich habe keine Ahnung, warum mich der Anblick dieses Fotos heiter stimmt. Aus welchem Grund ich mich von seinem Punctum anstecken lasse (oder ob es überhaupt bloß das Punctum ist oder schon wieder Rassismus). Ich werde es auskosten, solange es währt.

Am Nachmittag klingelte es an der Tür. Ich hatte nichts bestellt, ging aber trotzdem an die Sprechanlage.

«Guten Tag, hier spricht die Polizei, würden Sie uns bitte ins Haus lassen?» Wenig später standen zwei Männer in Zivil vor unserer Tür. Ich legte eine Maske an. Der Kriminalkomissar, ein junger Mann von vielleicht 26 Jahren gab mir seine Visitenkarte. Sie waren auf der Suche nach einer Person, die bei uns im Haus gemeldet war. Dazu nannte er mir noch einen Namen, der, wie ein Brautkleid, mir aus den Bestandteilen diverser Herkunft zusammengesetzt erschien und im Endeffekt dadurch wie ausgedacht; doch außer dem sagte mir der Name des Gesuchten freilich nichts. Und das sagte ich dem Kriminalkomissar, dessen sonore Stimme mich an die von Dicke Bürste erinnerte: Ich wohnte ja erst seit einem Jahr fest in diesem Haus; war in den Jahren zuvor immer bloß für ein paar Tage im Monat hiergewesen. Da nickten sie freilich verständnisvoll. In ihren Augen war ich unbescholten, das strahlten sie aus. Ich empfing einen freundlichen Vibe.

Als sie sich verabschiedet hatten, lief ich rastlos in der Wohnung auf und ab. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Da hatte ich kaum ein bisschen gebetet, dass doch endlich was passiert und dann war es gleich ein veritabler Kriminalfall, in den ich verwickelt würde!

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