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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

29.4.

Abends, bei der Ernte von Blüten am Traubenkirschenstrauch — der Strauch ist gewaltig, man könnte darunter hausen und derzeit duftet er auch so: gewaltig (man lebte im Freien unter der Kuppel eines duftenden, summenden Hauses) — entdeckte ich auf der Wiese unweit einen Fuchs.

Zuerst noch hatte ich ihn für einen Hund gehalten. So wurde ich ihm gewahr. Irgendwie farbend, hundsfarben wahrscheinlich, von hundsförmiger Gestalt.

Näher kommend legte er sich vor mir hin. Bald erkannte ich in ihm den Fuchs. Doch das Wildtier floh nicht. In der Dämmerung bekam ich sogar den Eindruck, es verlangte nach mir.

Als ich mich ihm noch weiter angenähert hatte, verzog er sich in ein Gebüsch. Sein Fell matt und struppig, wie mit der Schnipfelschere geschnitten. Um seine Schwanzspitze ein heller Ring, eine Boje in der Dunkelheit…

Was, wenn das der erste Schritt einer Spezies auf uns zu war; in Gestalt dieses einen Kitsune?

Er saß dort, hatte dort gesessen, wie um die Hunde zu beobachten, die, satt, mit seidig glänzendem Fell, auf seinen Wiesen spazieren geführt wurden.

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28.4.

Mittags bekam ich unerklärlicherweise Lust auf Mappo Tofu. Da ich die dafür notwendigen Zutaten ohnehin besorgen müsste, steuerte ich der Effizienz halber das einzige China-Restaurant im Viertel an.

Innerhalb der Szene exotischer Restaurants in Deutschland sind die chinesischen mittlerweile von den nachrückenden Japanern, Vietnamesen und seit kurzem erst Koreanern in die unterste Schicht abgedrängt worden. Von daher war es für mich nicht weiter verwunderlich, dass dort lediglich ältere und noch sehr viel ältere Einwohner Pankows den Gastraum bevölkerten.

Die Küche der chinesischen Einwanderer hat in Deutschland zu lange gezögert, um noch den Anschluss zu schaffen an den Trend zur Authentizität. Dass jetzt in Pankow als Vorsuppe eine «Soljanka süß-sauer» aufgetischt wurde, kam mir vergleichsweise überraschend vor.

Ein Greis, er saß in einer Art Gefährt mit Elektroantrieb, surrte zur Türe herein. Er bat darum, zu einem der freien Tisch gelotst zu werden «Ich sehe so gut wie überhaupt nichts mehr.»

An dem ihm zugewiesenen Nebentisch vorgefahren, musste er erst gar nicht von seiner Kellnerin verlangen, dass sie ihm aus der Karte vorlas — geradezu rührend kümmerte sie sich aus freien Stücken heraus um ihn und es wurde ihm so eine Bestellung von Meeresfrüchten mit Cashewnüssen empfohlen, zuvor ein Glas Martini Bianco, denn der Elektrogreis hatte nach einem Aperitiv verlangt.

Am anderen Nebentisch hatte sich mittlerweile eine ächzende Matrone mit Lambruscofarbener Kurzhaarfrisur niedergelassen. Ihr gegenüber saß ein junger Mann, der offenbar in einer verwandschaftlichen Beziehung zu dieser Frau stand. In leiernder Stimmlage bestellte sie bei dem Kellner «zwee solche Suppen».

Wie mit einem Mal fiel mir auf, dass sie mich an Frau Merkel erinnerte.

Der Erblindende schaute mich an mit diesem schwer zu beschreibenden Fernblick, den ja manche schon für seherisch gehalten haben wollten. Seine Lippen waren von der Soße gelblich gefärbt. Die Finger seiner linken Hand umspielten den joystickhaften Geschwindigkeitshebel an seinem Stuhl.

Falls man übrigens den Eindruck bekommt, dass das Niveau in den Restaurants kontinuierlich absinkt, heißt das noch lange nicht, dass dort die Qualität der Küchen nachlässt; allzu oft hat man bloß selbst noch besser zu kochen gelernt.

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27.4.

Auf dem Heimweg, vorbei an der sogenannten Kleingartenanlage, die doch in Wahrheit einfach ein von den Häusern umrandetes Stück Natur ist wie Dürers Rasenstück, höre ich die Nachtigallen — drei, vier vielleicht sogar, die heute abends zum ersten Mal in den Sängerstreit ziehen; sitzenderweise.

Flötend; schlirzend; tröpfelnd.

Und ebenso zum ersten Mal in diesem Jahr 022 weht mich von dort her die duftende Kühle an, jasminhaft, mit dem das Grüne jetzt die Sonnenwärme des Tages aushaucht.

Wie Katharina von den Waves bin ich auf der Sonnenseite unterwegs.

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26.4.

Dass Wolken aus gefrorenem Wasser bestehen, also Eis; dass die Atmosphäre dort oben lebensfeindlich und kalt sein soll — blau wie sie sich mir darstellt — es fällt mir schwer zu glauben, an einem sonnigen Tag wie heute.

Und im Rest des Jahres denke ich nicht darüber nach.

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25.4.

Mittags auf der Terrasse eines Penthouses in Kreuzberg: Der Künstler ist über Paris und Venedig eingeflogen zum Briefing seiner Gewerke. Ein veritabler Schwarm aus Produzierenden, Kommunizierenden und Finanzierenden hat sich um ihn versammelt. Elastische Formation. Wie Stare.

Nicht alle Fragen lassen sich klären. Es werden Zusagen gemacht. Einige der Assistenten befinden sich momentan im Luftraum und können aus technischen Gründen nicht zugeschaltet werden.

Das konstante Ping-Geräusch der iPhones erinnert mich an Konferenzen unter Werbern in den neunziger Jahren, obgleich es damals ja noch keine Mobiltelefone gab.

Aber auch damals saß ich in Räumen, in denen viele der Anwesenden mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit stets anderswo waren. Außer Haus.

Aber die Sonne scheint. Erste Erdbeerhäuschen.

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