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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

9.4.

Jean Cocteau hat geschrieben, dass es darauf ankommen werde, wie ein Mensch gelebt zu haben, aber als ein Künstler in Erinnerung zu bleiben.

Anders als bei manchen Bonmots wirkt bei seinem schon entscheidend, dass man sich zu vergegenwärtigen versucht, in welcher Situation, rein zeitlich, er auf diesen Gedanken gekommen sein mag. Beziehungsweise: Wie sah das Leben eines Künstlers, der allermeisten wohl zu diesem Zeitpunkt aus. Um ein besonders krasses Beispiel anzuführen: Cocteau, dessen Lebensart sich ja noch heute aus seinen wie aus einem einzigen durchgezogenen Strich, wie aus einem Farbfaden drapierten Zeichnungen ableiten ließe, hatte wohl einen Kollegen wie Chaim Soutine im Auge, dem er ein menschenwürdiges Leben gewünscht hätte. Eines mit erhobenem Kopf; eines, zu dessen Anmut die vor Saftigkeit strotzenden Gemälde in einem staunenswert spannungevollen Gegensatz bestünden.

Heute muss hier oder in Frankreich kein Künstler mehr von Abfällen leben, mit gesenktem Kopf, ohne Dach, den Launen des Wetters schutzlos ausgeliefert wie ein Schwein.

Sonnenschein, violette Stürme und strahlender Sonnenschein wechselten heute einander ab in rascher Folge. Zwischendrin machten wir eine Ausfahrt nach dem nahen Gerswalde, das bald hinter Pinnow liegt. Der Ort war in den neunziger Jahren zu einem der zahlreichen Inbegriffe des schrecklichen Ostens geworden, nachdem dort junge Ureinwohner einen der ihren, der den kuriosen Vornamen Marinus hatte, in einem Schweinetrog zu Tode gefoltert hatten, weil er nicht zugegeben wollte, dass er «Jude» war. Was er im Übrigen auch gar nicht zugeben konnte, da Marinus nicht jüdisch gelebt hatte. Mittlerweile ist sprichwörtliches Gras über die Sache gewachsen. Seitdem Lola Randl den Schlüsselroman «Der Große Garten» veröffentlicht hat, ist Gerswalde sogar zu so etwas wie einem Nukleus des Clay-Cube-Movements erklärt.

Die freundliche Übernahme des Schandfleckens durch wohlgesinnte Hauptstädter ist freilich noch längst nicht abgeschlossen. Aber es sind schon einige Häuser, an denen die typischen Fensterrahmenfarben, die puristische Vorgartengestaltung, die Typografie an den Klingelschildern und Briefkästen vom Kommenden der künftigen Dorfgemeinschaft künden.

Der See, um den Gerswalde angesiedelt wurde ist, das las ich auf einem Schild an der aus grobem Fels gefügten Fassade des Gemischtwarenladens, nicht geeignet zum Baden. Im Gemischtwarenladen selbst verkündete einer der in der Warteschlange Stehenden seltsam anlasslos, er sei «rechtsradikal eingestellt».

Man wird trotzdem das Wasser im See zu giftig ist, auch noch einmal im Sommer wiederkehren müssen, wenn auch der Große Garten geöffnet hat, um das ganze Bild in sich aufnehmen zu können.

Einstweilen gab es ja bloß die Häuser und Gärten. Und die wirkten, wie schon in Pinnow, nicht gerade uniform, aber doch gleichförmig auf mich. Das hat mich erinnert an eine Zeit zu Anfang des neuen Jahrhunderts, als es in den Wohnungen von Kunstsammlern immer irgendwo diesen einen Teppich gab — er war nicht von Ikea; und trotzdem lag in sehr vielen Wohnungen immer ein Exemplar seiner Art: aus einer Wolle in abgetöntem Weiß mit einem Rautenmuster aus dunklen, graphitfarbenen Linien. Die Häuser hier in der Uckermark sehen, wenn die wohlgesinnmten Hauptstädter sie modernisiert haben, einander ähnlich wie damals diese Teppiche einander ähnlich gesehen haben.

Ob das ein Shibboleth ist, ein Code, eine Chiffre oder bloß Geschmack: ich weiß es nicht. Aber einst wird es heißen, dass dort Menschen gewohnt haben.

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8.4.

Andere werden Marcel Duchamp sagen, für mich ist Donald Judd der Jahrhundertkünstler.

Gar nicht einmal wegen seines Atelierruhms, also inwiefern er andere Künstler mit seiner Kunst beeinflusst hat oder noch immer beinflussen kann, sondern mit dem noch schwieriger zu erfassenden Einfluss, den andere Bereiche des Lebens von Judds Kunst ausgehend abbekommen haben (wie von einem freiliegenden Kern spaltbaren Materials).

Es ist diese spezielle Wirkung seiner Kunst, die mindestens einen Kunsthistoriker schon dazu getrieben hat, Donald Judd den freischaffenden Designern, den Gestaltern im eigenen Auftrag, zuordnen zu wollen — allen, bloß nicht den Künstlern; mir sind solche Kateforien egal. Ich wüsste auch nicht, wie ich die Kunstwerke von Donald Judd, seine Stacks und Boxes anders nennen würde als Judd selbst, der sie mit Specific Objects als Boxes und Stacks bezeichnet hat.

Und ich teile freilich sein Unbehagen, ihn als einen Bildhauer zu bezeichnen — das Hauen stört mich. Vor allem geht es bei ihm doch um noch viel mehr als um die Boxes und Stacks.

Der Nachbarort hier, in der Nordwestuckermark hat sich seitdem wir vor Corona zum letzten Mal hiergewesen sind, stark verändert. Und das, obwoh dort kein einziges Haus mehr hinzugekommen ist. Es ist dort noch nie ein einziges Haus neu hinzugekommen, seitdem die Berliner diesen Ort, es ist noch nicht einmal ein richtiges Dorf, bei mir daheim würde man die Ansammlung von Gebäuden um eine Kirche als Flecken bezeichnen, als Latifundium entdeckt haben. Pinnow heißt der Flecken, die Berliner, diese Berliner in the know, sagen «die Hamptons».

Seitdem wird dort Haus um Haus, Gehöft um Gehöft, Langscheuer um Heustadel auf eine spezifische Weise umgebaut, die mich an Donald Judd und sein Marfa erinnern. An eine Ansammlung von Zweckbauten im Nirgendwo, die von ihrem ursprünglichen Zweck — Landwirtschaft, Schule, Gärtnerei — enthoben werden, um als Landsitz wie neu geboren zu erstehen.

Die Pinnow umgebende Landschaft, die Nordwestuckermark erinnert von ihrer Ödheit her stark an die Wüste von Texas, in der Judd seine leerstehenden Hangars und Militärschuppen fand. Hier (knappe hundert Kilometer hinter Berlin auf Polen zu) gibt es, polemisch ausgedrückt, noch nicht einmal mehr Landschaft. Und freilich auch keinen Öffentlichen Nahverkehr, keine Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe, keine Restaurants, noch nicht einmal einen Döner-Imbiss, geschweige denn einen Spätkauf.

Aber es gibt, und darin unterscheidet sich Pinnow von Marfa: jede Menge Anwesen. Keine Ateliergebäude, in denen Künstler gleich welcher Metiers hier, weil es hier Platz genug für alle gibt, an raumgreifenden Skulpturen oder Gemälden schaffen.

In Marfa hat Donald Judd eine ideale Umgebung für seine Kunstwerke geschaffen. In Pinnow werden Lebensentwürfe präsentiert.

Im Gegensatz zum White Cube, in dem alles gleich gut ausschaut, alles wie Kunst, dominiert hier der Clay Cube: Es sind gedeckte, natürlich wirkende, oftmals ungewöhnlich dunkle Fassaden- und Wandfarben, mit denen die hohen Räume nach ihrer Entkernung angeputzt oder gestrichen wurden. Vor diesen dunklen Wänden wirkt alles eben nicht direkt wie Kunst, sondern alles wirkt rustikal. Jede Schafgarbendolde, die sich vor einer asphaltfarbenen Wand öffnet, wirkt skulptural. Auch irgendwie traditionell. Dadurch auch selbstverständlich. Beinahe wie gewachsen. So, als fände sich hier alles zum ersten Mal. Auch selbst.

Ist das jetzt noch Gestaltung, oder wird es bald Kunst?

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5.4.

Einhundert Seiten muss man lesen, heißt es, um eine weitere schreiben zu können.

An der Strandpromenade von Usedom sollen also demnächst die Kiefern ausgedünnt werden, um den Blick aufs Meer zu verbessern. Durchsichtiger zu gestalten. Ob das eine gute Idee ist, fragte ich mich. Schon auf dem Weg nach Usedom, irgendwo zwischen Malchow und Billerow war mir auf den sagenhaft flachen Feldern zur linken der Alleen der Staub aufgefallen, vielleicht war es auch Sand aus der legendären Streusandbüchse, der dort in gelblichen Wolken und Schwaden über das Land geweht wurde.

Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen. Die Feuchtigkeit von oben hielt den Sand fest. Am Strand lagen haufenweise Muscheln, alle von der selben, einer nicht interessanten Art: weder von ihrer Form her, noch von ihrer Färbung; nicht einmal ihre Größe wegen würde es sich lohnen, eine davon aufzubewahren. Das Knirschen der Muscheldüne unter den Sohlen meiner durchnässten Tennisschuhe empfand ich allerdings als befriedigend.

Ein Teil der Insel gehört zu Polen. Am Ende der längsten Strandpromenade Deutschlands (länger als 12 Kilometer) ließen sich vage die Silhouetten von Schiffskränen erkennen, eventuell war dort, auf polnischem Terrain, eine Reederei? Man schaut jetzt mit einem gewissen Kitzel in diese Richtung, denn gleich hinter Polen liegt schon das Kriegsgebiet.

Vor der Zugbrücke nach Usedom, deren Geländer in einem schönen Farbton lackiert sind, kommt das Stettiner Haff. Auf dem Hinweg dachte ich Das kann ich noch auf dem Heimweg fotografieren, kurz darauf fing es zu regnen an.

Das Stettiner Haff ist fotogen. Es besteht aus einem Wald aus lauter Baumstümpfen, die aus dem blauen Wasser der Ostsee ragen. Die Baumstümpfe sind schwarz, wie verkohlt.

Wie viele Stunden man gehen muss, bis man eine Seite schreiben kann? Dieser Eintrag entspricht ungefähr einer Seite. Gegangen bin ich dafür einen ganzen Tag.

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3.4.

Ankunft in der Uckermark. Kotek heißt Kätzchen auf Polnisch.

Die Feldlerche steht in der Luft, Schneeflocken treiben mit dem Wind über die Wiesen, unter der Eiche blühen Veilchen, ein Briefkasten, den hatte ich ganz vergessen: und dass ich ihn vom Fenster aus sehen könnte. Ohne Fernrohr. Aufgrund seiner Gelbheit.

Als ich heute am Vormittag den gepflasterten Weg entlang ging, der später, um einiges später erst, auch zu dem See führen würde, in dessen Gestrüpp ich vor vier Jahren das Haus einer besonderen Schnecke gefunden hatte, bestieg rechter Hand ein ziemlich kleines Schwein ein um entscheidendes größeres — aber andersherum. Also aus Sicht der Fortpflanzung verkehrt. Ich versuchte erst weg zu schauen, wenigstens nicht hinzusehen, dann doch wieder und jetzt ging es auf einmal richtigherum. Das kleine Schwein, das erfuhr ich allerdings erst im Nachhinein (und auch das nur aus zweiter Hand) hieß Eberhard, das größere Susi. Eberhard, das ist mir vor allem im Gedächtnis geblieben, hatte an sich eine beschwichtigende Art, zu grunzen. Daran würde ich ihn wahrscheinlich sogar wiedererkennen. Wohingegen Susi fortwährend etwas aus dem Matsch vor ihr fraß. Und im Hintergrund, beim Hinschreiben leuchtet es geradezu auf: ein in blendendes Weiß gefiedertes Huhn.

Das Bukolische des Landlebens, die veritable Landlust lauert hier an jeder Ecke. Sogar unter den Steinen, es sind Feuersteine, man will sie alle einzeln anheben und in Händen halten. Zumindest eine Weile, auf dem Weg, dann wirft man sie wieder weg. Zu den anderen. Die Landlust ist wie ein Dämon, man lässt sich von ihm besitzen.

In dem Buch, in dem ich vor dem Zubettgehen las, beschreibt Fritz W. Kramer einen gewissen Kult der Besessenheit bei den Shona im nördlichen Afrika, den des sogenannten Varungu. Die von ihm Besessenen «schliefen in Betten mit weißen Bettlaken, sie trugen weiße Hemden und weiße Hüte, sie aßen mit Messer, Gabel und Löffel von weißen Tellern und tranken aus weißen Tassen; Reis, Fisch, Huhn, Pfeffer, Zwiebeln, Tomaten und gekochte Eier, der alltäglichen Küche unbekannt, waren ihre Kultspeisen.» Mit ihrer Besessenheit hatten sie sich den als gottgleich empfundenen Europäer einverleibt.

In der Gaststätte Zum Schwan, wo wir gestern zu Mittag aßen, hängt an einer ansonsten leeren, resedagrün angestrichenen Wand ein Relief aus Salzteig, das drei ineinander zu einer Brezel verschlungene Leiber zeigt, die nackt sind, aber nicht «bloß», da sie aus Flaschen und Kelchen trinken.

Wie um die Landlust zu bannen. Wie um sie zu beschwören!

Denn die Theorie von unseren Sexualitäten erscheint stets auf das weiß bezogene Rechteck des Bettes bezogen — klar umrissen, beschnitten wie ein leeres Blatt, die Seite. Die Landlust verspricht außerordentliches.

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1.4.

Die Kaltfront breitet sich in den Süden aus (das Barometer hängt hier bei 1005 Hektopascal). In der Landesschau hatten sie gestern eine eigenständige Meldung zwischen Krieg und Corona: dass man seine Pflanzen ins Haus holen sollte und die Setzlinge bis auf weiteres noch nicht auspflanzen.

Als ich auf einer Geburtstagsfeier vor ein paar Jahren im Sommer gefragt worden bin, was genau mir eigentlich an Württemberg so gut gefällt — so gut, dass ich mir lieber die Landesschau anschaue als die Nachrichten im RBB; und dass ich mich damit also ungefähr vergleichbar verhalte mit jenen Russen in Deutschland, von denen Karl Schlögel gesagt hat, dass sie nur physisch hier in Deutschland leben und im Geiste noch immer dort —, fiel mir vor allem die Landschaft und das Landwirtschaftliche ein. Das ist dort nämlich anders als hier auf eine selbstverständliche Weise miteinander verbunden und braucht nicht erst oktroyiert werden.

Aber transplantabel scheint dieses Verantwortungsgefühl für die Pflanzen zu sein. Als es gestern nachts dröhnend stürmte, dachte ich freilich daran, das Porzellanröschen Lewisia cotyledon doch herein zu holen, weil es schon so hübsch blüht. Angeblich ja winterhart, aber halt auch ein amerikanisches Gewächs — ob dessen Winter auch wie meiner ist? Miles away from home…

Wo ich hab‘ nicht Haus noch Bleibe

Manchmal nur durch Träume treibe

Suche nach meinem alten Raum.

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