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2023: RINGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Ringe». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021 und 2022 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen Jahren finden sich bei waahr.de

31.12.

Gestern, als wir spät in der Nacht aus dem Kino (Anatomie eines Falls) heimkehrten, hatten die Katzen uns schon im Durchgang zum Flur erwartet wie Eltern. Sie standen dort in der Dunkelheit, schauend, reglos.

In dem Film hatte ein Hund mitgespielt, er stand im Abspann vor allen menschlichen Darstellern. Zuoberst. Sein Name war also Messy (der Name seiner Rolle war Snoop).

Von draußen drang dumpf der Geschützdonner zu uns herauf. Auf dem Heimweg durch den menschenleeren Park wölbte sich ein blitzender, beständig flackernder Saum über die Weite. Dort hinten war Wedding. Wir gingen in die Dunkelheit hinein, in den Widerhall.

Die Katzen haben keinerlei Verständnis für Änderungen im Tagesablauf. Alles soll immer gleich bleiben. Dabei bringen sie selbst doch permanent eine Überraschung für uns. Nicht mit sich, sondern nur (sich).

Der Hund in dem Film spielte einen Blindenhund.

Die Katze im Kleinen Lord war ausgestopft.

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28.12.

Das Reich der Katze ist so weit ihr Auge reicht. Ihr Schauen aus dem Fenster ist kein «Schauen in die Schweiz», für die Katze bedeutet es eine Aktivität.

Ich weiß nicht, was die Katze dort sieht. Und werde es nie herausfinden können (erinnert mich an die Begebenheit, die Wolfgang Tillmans erzählt hat, als er einen Neuropsychologen fragte, was er eigentlich sieht von der Welt, ohne die Interpretation seines Bewusstseins und der Wissenschaftler zu ihm sagte «You better don’t want to know.»

Die Katze kann, sie will eine Stunde und länger noch in meiner Nähe sitzen und aus dem Fenster schauen, während ich lese.

Sie schaut, ich lese. Es ist still.

Das ideale Kind, von dem Peter Handke in der Kindergeschichte schreibt, dass es einfach nur dabei sitzt, dabei liest, dabei malt oder zeichnet, dabei schweigt und schaut, ist gar kein Kind. Es ist eine Katze.

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27.12.

An Heiligabend fiel mir auf, dass der Leibdiener des Earl of Dorincourt ausschaut wie Putin. Und sein Wildhüter wie Gerhard Schröder. Gespenstisch. Die Message kam an: Mach‘ mal (Nachrichten-) Pause!

Katzen ist es wichtig, wie sie etwas machen. Die Wie-Frage ist die Stil-Frage. Hunde tollen herein, hecheln, sabbern, plumpsen, platzen. Welchen Eindruck sie dabei hinterlassen, ist ihnen anscheinend gleich. Hauptsache, es führt zum Ziel — irgendwie.

Auch die Literatur, die mir lieb ist: die aus dem 19. Jahrhundert und von den Schreibern, die sich noch darauf beziehen, ist mit stark erhöhter Selbstwahrnehmung geschrieben und lässt die Wie-Frage nie aus dem Sinn.

Sie leckt sich die Pfoten auf anmutige Art.

Es gibt massenhaft Hundeliteratur.

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23.12.

Abgesehen von der großartigen Generalprobe des hiesigen Krippenspiels, das mit heiligem Ernst, reichlich Himmelswesen und einer effektvoll inszenierten Rahmenhandlung, für die Kinder als winterlich leuchtende Hochhäuser verkleidet über den Laufsteg des Kirchenschiffs schnürten, wurde ich gestern abends noch einem veritabel Berliner Weihnachtsmärchen zuteil gemacht,

als ich, auf die Bahn zum Restaurant wartend, durch den am Bahnsteigdach montierten Lautsprecher Kunde erhielt, dass diese Bahn mit erheblicher Verspätung eintreffen wird. Festlich gestimmt, beschloss ich die Ankunft doch abzuwarten. Nach zwanzig Minuten schob tatsächlich ein Zug seine trüben Lichtlein durch die mehlige Finsternis. Kaum eine der Türen war noch zu öffnen, die daran befestigten Warnzettel beklagten die mutwillige Sachbeschädigung. Die Zettel selbst wirkten allerdings auch schon jahrealt.

In den Waggons selbst hatte sich ein fataler Dunst ausgebreitet, einige der Reisenden hatten sich bis unter die zu Schlitzen verengt zugepressten Augen hinauf mit Lappen und Schalenden vermummt.

Man musste kein Tatortreiniger sein, um den Dunst als den Geruch der Verwesung einordnen zu können. Der Hervorbringer selbst saß ganz am Ende des Wagens; aus nachvollziehbaren Gründen froh darüber, ein paar Minuten, die unserer Fahrt nämlich, im Hellen und Warmen sich aufhalten zu dürfen. Und dafür, dass er teilweise faulte, konnte er nichts.

Am vorderen Ende war es seltsamerweise menschenleerer als dort hinten. Allerdings ertrug ich es auch dort nur sehr schlecht, bis — und hier beginnt nun das Märchenhafte an dieser Geschichte — ein neben mir stehendes Mädchen eine giftgrüne Dose mit der Aufschrift «Flying Energy Apple Explosion» aufriss, um daraus zu sippen. Und der Duft dieses Energydrinks, den ich unter anderen Umständen als pestillenzhaft empfunden hätte, negierte den Leichengeruch, der sich um meinen Hals geschlungen hatte und wohl auch weiterhin schlang — doch nahm ich ihn von jetzt an nicht mehr war.

Alles, was ich fortan noch riechen konnte, war der Wohlgeruch der Apple Explosion.

Als wir nachher aus dem Restaurant traten, fing es wütend zu schneiregnen an.

Die Katzen reagieren stark auf die Musik von Lena Raine.

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22.12.

Nachts, als alles grau und dunkel war, trafen die Katzen ein.

In diesem Jahr will ich versuchen, noch mehr über Ihre Sinneswahrnehmungen herauszufinden. Buchstäblich heraus, denn «they don’t cooperate».

Lola, die dunkle mit den Eulenaugen, kann, so scheint es mir, ungefähr verstehen, was ich meine, wenn ich sie mit einfach strukturierten, appelativ gehaltenen Sätzen anspreche. Sie quittiert die Aufforderungen mit einem speziellen Gurren, einem für die Interaktion mit dem Menschen vorbehaltenen Geräusch. Oder vorgesehenen?

Trotz allem kommt sie meinen Aufforderungen, selbt wenn ich sie mit Gesten illustriere, nur dann nach, wenn sie es will.

Wieviel Zeit muss zwischen der Aufforderung und dem Nachkommen noch nicht verstrichen sein, damit ein causaler Zusammenhang noch angenommen werden darf?

Als ich neulich auf der Heimfahrt durch Ribeck erwähnte, dass dort in Bälde schon der Auerhahn wieder schlagen wird, glaubte Friederike offenbar, ich machte einen Scherz.

Aber spricht man darüber? Womöglich erst dann, wenn der Auerhahn schlagend vor einem steht. Bis dahin wird noch viel Zeit vergangen sein.

Und zwar zwischen uns.

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