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2023: RINGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Ringe». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021 und 2022 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen Jahren finden sich bei waahr.de

9.12.

In der kleinen Passage vor der Buchhandlung Felix Jud stand der Kunsthändler Robert Eberhardt selbst und redete mit einer Kundin. Es war jetzt drei, allerhöchstens vier Jahre her gewesen, dass wir auf einer Soirée bei den Mosebachs einander vorgestellt worden waren.

Seitdem in diesem Sommer zuerst die Bunte, dann auch bald der Spiegel von Eberhardts Geschick bei der Transformation von Felix Jud berichtet hatten — in der Bunte war von ihm als einem Kunst- und Buchhändler der Reichen und Schönen die Rede — steht er freilich vor allem am Neuen Wall unter Beobachtung. Schließlich präsidiert er dort als einziger, vielleicht auch als letzter Vertreter einer ganzen Branche, die es in ihrer althergebrachten Form bald nirgendwo mehr geben wird.

Seit neuestem tragen die plötzlich sehr viel interessanter wirkenden Kunsthandelsgehilfen bei Jud uniform schwarze Kleidung, wie es in den Galerien beinahe schon wieder verpönt ist. In dem ultra traditionellen Ambiente der in Wandlung begriffenen Buchhandlung — beileibe kein White Cube — wirkt das freilich ganz anders. Es wirkt erfrischend. Modern.

Auf Nachfrage referierte Robert Eberhardt auf charmant selbstironische Weise, wer heute alles schon da gewesen war.

Wer im People-Geschäft tätig ist, kann sich einer Referenz an Kir Royal nicht ernsthaft verwehren. Beispielsweise hatte sich eine Kundin sein Interview mit dem Spiegel direkt auf den Seiten des Nachrichtenmagazines signieren lassen. Dafür war sie auch eigens von München an den Jungfernstieg gefahren.

Nie aber würde man von ihm direkt erfahren, wer was gekauft hat.

Vom neuen Handke war um die Mittagszeit leider nicht einmal mehr das Exemplar aus dem Fenster übrig geblieben. Höchst bedauerlich!

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8.12.

Kurios, aber: Vor ungefähr bald 25 Jahren bin ich aus Hamburg weg gezogen und noch immer habe ich hier ein Heimatgefühl, das sich anscheinend dagegen sträubt aus mir vertrieben zu werden.

Der Bahnhof von Altona ist gewiss kein schöner Ort (er war auch schon noch hässlicher) aber es genügen mir zwei drei Querstraßen und ich fühle mich so sicher wie daheim. Aufgehoben (als läge man davor noch hilflos gemacht wie ein Käfer da).

Dann stösst ein dunkelhäutiger Lieferant die Türe zum Gastraum des Cafés auf: «Moin», und der Mann am Tresen, aus Japan, ruft ihm sein Moin entgegen. Es gibt wahrscheinlich keine andere Stadt in Deutschland, die sich zugleich auch als Kulturraum begreift und die diese Kultur auch derart pflegt. München, wohin ich aus Hamburg damals gezogen war, ist schön aber nicht satisfaktionsfähig.

In Hamburg schaut mich meiner Mütze wegen niemand schief an. Berlin ist zwar ins Gigantische gewachsen aber im Herzen stets Dorf geblieben. Deshalb gefällt es Leuten aus München in Berlin so gut. Hamburg ist liberal. Man war hier schon immer frei.

Ein Mann hatte sich zu mir gesetzt. Nach einem Schluck aus seinem Tässchen rief er dem Japaner quer über die Köpfe der übrigen Gäste hinweg zu, dass sein Espresso heute gut geraten sei «schön heiß».

Aus einer mitgebrachten Plastiktüte ragten Pinsel und der hölzerne Winkel einer winzigen Staffelei. Schon beinahe wieder draußen verkündete er, vielleicht sogar mir, dass er zurück an die Arbeit müsste «den Pinsel zu schwingen».

Abends eine wunderbare Ente.

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7.12.

Den Schneeflocken folgend, die Mütze aufgesetzt und bergabwärts auf der Choriner Straße bis zu jenem kleinen Laden in der Nachbarschaft des Souterrains, wohin mich Reimar Philipps zu einer aztekischen Kakaozeremonie eingeladen hatte.

Der Trunk selbst, sämig und warm, bewirkte eine ungekannte Wachheit, die hell und zugleich beruhigend war. Ich verstand nun endlich, warum Proust nie Kaffee, stets warme Schokolade zu sich genommen hat. Kaufte Philipps freilich gleich ein paar Pfund von seinem Aztekenschatz ab.

Eine Wachheit des Herzens wird es wohl sein.

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5.12.

Für die Stunde nach Sonnenuntergang war Schnee angesagt — mehr vom Selben, wie in meinem derzeit liebsten Lied In the bleak mid winter***

Stattdessen nahm lediglich die Feuchtigkeit in der Luft weiter zu; jeder Schritt konnte von nun an zum Verhängnis werden (sein Name länger als sein Ruf: Oberschenkelhalsbruch).

Im Grauen Himmel über mir tönte das Geschnatter südwärts fliegender Gänse. Am Vortag hatte ich mit meiner neuen Mütze stadteinwärts schreitend etwas ganz ähnliches erlebt.

Dort waren es vor allem Männer gewesen, wir kannten uns nicht, die einander und davor noch mich ansschauend zu schnattern begonnen hatten. Grund dafür: Nicht eben die Feuchtigkeit, Grund war mein Hut.

Zwar ist der nicht golden, doch kommt es den Männern von Berlin anscheinend so vor — unziemlich in jedem Fall. Zu flauschig! Auch die Farbe anscheinend nicht comme il faut.

Das Spielerische in der Mode ward von jeher auf die Seite der Frauen zugeteilt. Und selbst jetzt, da es allen möglich gemacht, sich zu geben und zu kleiden, wie es ihnen behagt, gefällt das noch immer nicht allen. Ungefähr so, von den Proportionen her, wie in jenem Dorf im Süddeutschland der achtziger Jahre, in dem ich aufgewachsen bin.

Und heute sind wir hier in der größten Stadt in diesem Land (im Supermarkt haben sie jetzt Orangen mit dunkelgrüner Schale).

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4.12.

Samstags im Mützenladen, der in den wärmenden Jahreszeiten als Fachgeschäft für Hüte und Kappen firmiert. Es ist eines der wenigen Einzelhandelsunternehmen mit Tradition, das die DDR überlebt hat. Ein Familienbetrieb. Es wird behauptet, dass schon Nabokov dort eingekauft hat.

Im Fenster war in den vergangenen Wochen eine Mütze aus Mohair drapiert, die freilich prompt, da es mützenkalt geworden war, dort nicht mehr ausgelegt war. Allerdings gab man mir ein letztes Exemplar aus dem Regal. Die Regale sind aus Holz, es ist eine Bibliothek aus Kopfbedeckungen, auch ein Schnapsladen könnte dort einst gewesen sein. Man vergisst ja beinahe und ungern, vor welchen Kulissen einst mit Kleidungsstücken gehandelt wurde (Nabokov beschreibt es unvergessbar in Bube Dame König, seinem Berlinroman).

Es war unglaublich voll in dem Verkaufsraum, der dunkel und heimelig beleuchtet war. Wie eine Höhlung in der vom Schnee strahlenden Welt. Verkaufsgespräche mit Männern sind aber vermutlich schon seit Nabokov eher das Gegenteil von inspirierenden, beziehungsweise inspirieren sie mich zu den ungewollten Ideen.

Also ich vergesse beinahe und ungern.

Die Mütze wärmt (comme il faut).

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