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2023: RINGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Ringe». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021 und 2022 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen Jahren finden sich bei waahr.de

20.12.

Das iPhone hat jetzt eine App, die Journal heißt. Einmal aktiviert, gruppiert sie jüngst erstellte Fotografien und Ereignisse aus dem hauseigenen Terminmanagment zu Erinnerungsstützen und fordert den Benutzer auf, etwas dazu zu schreiben.

Womit sich für die Mehrzahl zwar noch nicht das Problem der Wortwahl und des Ersten Satzes erledigt haben dürfte aber immerhin schon jenes, das Barnett Newman einst als das Zentrale der Kunst im 20. Jahrhundert identifizieren konnte.

Und nicht bloß dort, auf dieses Feld bezogen: Je mehr Branchen kunstähnliche Substanten entweder selbst herstellen, oder damit handeln, desto mehr an Inhalten, an Aufgabenstellungen werden hier zukünftig noch benötigt werden.

Verlage haben, wie Modemarken, tolle Logos, interessante Firmengeschichten und oftmals sogar noch Purpose zu bieten. Aber die Seiten müssen immer wieder auf ein Neues gefüllt werden, um das immaterielle Erbe kapitalisieren zu können.

In dem Zusammenhang finde ich die anscheinend gigantische Halde von digitalisierten Büchern, die man in den Produktionsstätten der Künstlichen Intelligenz «The Pile» nennt, weniger interessant als ganz grundsätzlich die Diskrepanz zwischen der Welt, in der wir klicken und der altbekannten, in der wir Geld verdienen müssen, um dort damit bezahlen zu können.

Nach wie vor haben beide so gut wie gar nichts miteinander zu tun. Nach wie vor kann kein Verlag von seinen Online-Modellen auch nur ansatzweise leben.

Auf TikTok hat Snoop Dog (reimt sich/

(natürlich)

Neulich seine Abrechnung von Spotify, einem seiner Streaming-Verlage, erläutert: Nach Abzug aller Vorkosten bleiben ihm bei ein paar hundert Millionen Streams weltweit ungefähr 45 000 Dollar.

Auf dem Heimweg fing es zu regnen an, ich hatte Brot gekauft und davor noch Bücher und weil beides in Papiertüten steckte, die rasch durchzuweichen begannen, musste ich mich entscheiden, was ich noch eher mit dem Körper vor der Nässe bergen wollte: Buch oder Brot?

Ein Dilemma, das mich zunehmend heiter stimmte, weil ich ja die ganze Zeit schon darüber nachgedacht hatte, dieses zu schreiben.

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19.12.

Am Nachmittag, die Sonne war da schon längst untergegangen und vor der Scheibe draußen, die beschlagen war natürlich, hatte es bunte Lichter, da sagte das Mädchen am Nebentisch zu ihren Freundinnen, dass ihre Vagina für sie so ausschaut «wie eine Madonna — also von den inneren Schamlippen her».

Sie trug eine FFP2-Maske, vermutlich hatte sie Corona, und die Lichter vor den Scheiben stammten von dem queeren Weihnachtsmarkt, der dort unter den Gleisen der Hochbahn aufgebaut war. Der Zugang zu diesem Weihnachtsmarkt wird nur Besuchern ab 16 Jahren gestattet, weil dort an zwar nicht allen, doch an doch vielen Ständen Produkte angeboten werden, die menschlichen Geschlechtsteilen nachgebildet sind.

Eventuell entsprach dieses gesamte Szenario jenem antirussischen Feindbild, das Wladimir Putin zu seiner sogenannten Spezialoperation bewegt hat. Womöglich noch vor dem Hintergrund jener antiorthodoxen Gruselgeschichten, die ihm seine fromme Putina allabendlich vorgebetet hat in dem Zeitalter vor 2013.

Später waren wir im Kino («Urania»), A Muppet Christmas Carrol mit Michael Caine als Scrooge: Meisterwerk! Das Schicksal des gelähmten Fröschleins Tim geht zu Herzen. In einer Nebenrolle hatte sogar meine Lieblingsfigur, Professor Honigtau-Bunsenbrenner einen Auftritt. Durch ihn war ich ja einst überhaupt erst für die Wissenschaft entflammt worden…

In der ägyptischen Sammlung der Stiftung Preussischer Kulturbesitz gibt es eine zentimetergroße Figur einer thronenden Isis mit dem Horusknaben, sie ist über 4000 Jahre alt. Das Dargestellte lässt sich heute ebenfalls als Marienszene lesen.

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18.12.

Die Uhren in den Armaturenbrettern zeigen kein Datum an. Die Fahrzeit wird in Stunden und Minuten gemessen. In Kilometern und in Litern.

Früher, als junger Mensch, besteht die Weihnachtsdisziplin bei den Eltern im Einsacken von Geschenken. Später wird der Körper auf die Probe zum schier endlos expandierenden Gefäß gestellt. Schließlich kommt es dann auf die Belastbarkeit der Seele an. Im jedem Jahr wird nur noch mehr an Leid und Traurigkeit und Abschiedskummerankündigungsstimmungsstrophe auf sie übertragen.

Auf der Autobahn, kurz vor Marienborn, musste oder wollte ich, in der Mood, in der ich mich fand «nach so vielen Fahrten», war dies beinahe ununterscheidbar geworden wie Klosteig, mich erinnern an den Weltkongress der Psychoanalytiker in Mexiko Stadt, dem ich im Sommer des Wahnsinns 2011 noch das Glück hatte, besuchen zu dürfen.

Meine Erinnerung erzählte mir wieder einmal vom dem Geschehen auf der Bühne eines abgedunkelten Hörsaals, im das ich unverhofft hineingeraten war: Ein Analytiker aus Manhattan wurde dort befragt nach dem Leid der Welt, das alltäglich auf ihn übertragen wurde.

Er war schon sehr alt.

Und sagte, es nähme zu.

Bald könnte er es auch nicht mehr ertragen.

But life, it goes on.

Später dann, bei der nachmittäglichen Einfahrt in die Heimat: grandioses Abendrot.

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13.12.

Brief einer Erbse an ihre Prinzessin:

Bei Michelle Records im Gertrudenkirchhof hängt ganz hinten ein Plakat, das Thurston Moore einst mit «Fuck the Beatlez» signiert hat. Es datiert aus jenem Jahr, in dem ich in Hamburg angekommen bin (physisch).

Der Abstand von mir, heute, seelisch, zu diesem Plakat ist gar nicht mal so groß. Mir war es sogar so nah, dass ich erschrak, als ich es entdeckte.

Wie von ihm ertappt bei meinem Leben.

Im Übrigen halte ich das Flötenalbum von André 3000 für die wichtigste Erscheinung in diesem Jahr.

Noch 18 Tage

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12.12.

Freilich zeigten sich auch Risse — altbekannte, aber halt auch neue, wenn sich beispielsweise bei Ladage & Oelke herausstellte, dass der mir zugewiesene Verkäufer nicht nur nicht wusste, wie man Tukan schreibt, sondern dass ihm überhaupt unklar war, was mit einem Tukan gemeint ist.

Anderntags dann Abfahrt nach Heimerdingen, wo alles beim alten geblieben war, grundsätzlich. In der Vorbeifahrt an Korntal allerdings sah ich auf den Silos des dortigen Tiefbaubetriebes sechs Israel-Flaggen aufgesteckt und in deren Mitte einen goldlichtfarben strahlenden Stern. Dazu ein Banner «Du bist ein Gott». Von Sebastian weiß ich, dass dieser im Glauben glühende Bauunternehmer auch ein Privatflugzeug angeschafft hat für den Anbruch des Jüngsten Tages, in dessen Morgenröte er dann hinein fliegen will.

Vermutlich vermisst man als Erwachsener weniger einen verbesserten Mathematikunterricht als eine Schulung im Umgang mit Liebe, mit Krankheit und Tod.

Der Weg zum Gleis heimwärts jedenfalls führte heute wie schon in den vergangenen Monaten durch die improvisierte Spirale aus Sperrholzplatten, die Reisewillige aus Stuttgart auf einer weit ausholenden Bahn im das Innere des Bonatz’schen Gerippes führt. Im Sommer hatte ein sogenannter Spaßvogel über das provisorische Portal des Aufgangs «Völkerwanderung» gesprayt.

Mittlerweile ist der gesamte Innenraum von Aldi als Werbefläche gebucht, dessentwegen man sich dort in einem Gang durch die Weihnachtlust anfachender Motive aufwärts bewegt.

Der Nieselregen plätschert auf das Sperrholzgewölbe, die Trolleyräder prasseln hundertfach. An den Wänden sind Bratgänse, Großmütter, Zimtsterne und Kerzen zu sehen. Der Slogan heißt «Luxus Für Alle».

In der Natur draußen hat es 12° Grad.

Ungefähr auf der Mitte des Weges scheint palimpsesthaft ein geschätzte Zeitangabe bis zum Ziel durch: «5 Minuten» stand dort einst. Dann hat eine Hand «Mit Baby 10!» darüber geschrieben. Und schließlich noch einer: «Bekifft ca 20».

So ist, grob gesagt, unsere Welt momentan; so ist sie geworden, von uns so gemacht. Und könnte auch ganz anders sein.

«Langweilig wird sie nie.»

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