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2023: RINGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Ringe». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021 und 2022 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen Jahren finden sich bei waahr.de

11.1.

Nachts peitscht tropischer Regen das Land. Sein Geräusch ist mit keinem anderen Regen zu vergleichen, dem ich je anderswo gelauscht hätte. Der Regen von Con Dao fällt dicht an dicht, er trommelt nicht, auch prasseln wäre nicht richtig: er rauscht. Sein weißes Rauschen, inmitten schwärzester Nacht.

Zuvor, gewissermaßen einen Takt, bevor dieses himmlische Rauschen einsetzt und den Grillen oder Zikaden den Atem nimmt, ist stets eine Art Nachtvogel zu hören. Nie habe ich ihn bislang zu einer anderen Gelegenheit vernommen als um den Regen anzukündigen. Seine Ruf ist der einer alten, schweren Tür, die mehrfach hin und her bewegt wird in ihrem kaum noch öligen Scharnier. Dann klappert er mit dem Schnabel, der recht groß sein muss, denn er klingt dabei, als schlüge er Kastagnetten. Nach einigem Geklapper legt dann der Regen los.

Anderntags ist von all dem nur der Dampf in den Bäumen geblieben, den selbst der frische Wind nie ganz vertreiben kann.

Das Chinesische Meer hat sich nach Sonnenaufgang schon weit zurückgezogen. Beinahe bis zu den vorgelagerten Brocken vulkanischen Eruptionats, deren scharfkantige Formen vor grünem Dickicht strotzen.

Die Ebbe hat unzählige Muscheln und Korallen auf dem Trockenen zurückgelassen. Man findet hier alles.

(D’Arcy Wentworth Thompson, Über Wachstum und Form)

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10.1.

Die Insel Con Dao liegt nur zwei Flugstunden von Hanoi entfernt vor der Südspitze des Landes, aber der Kontrast zur Welthauptstadt der Mopedfahrer könnte kaum noch stärker sein.

Die Luftfeuchtigkeit beträgt 88 Prozent, es gibt nur eine Stadt, es ist derzeit noch eher ein Städtchen, aber dass es noch wachsen wird, sich ausbreiten «wie ein Pilzherd» (Balzac) ist ihm derzeit schon anzusehen. Von allen Seiten her werden Boulevards durch das Dickicht entlang des seidig glatten Meeres asphaltiert, die auf Con Son, so heißt die einzige Stadt of Con Dao nämlich, zuführen. Sie wirken übertrieben breit — noch! Bald schon werden sich darauf nämlich «unablässig in den gegeneinander bewegten Ströme die immerselben Gesichter begegnen», wie Heissenbüttel es in den fünfziger Jahren über die Rolltreppenfahrer schrieb.

Und genauso ist der Straßenverkehr in Hanoi zu betrachten: Unablässig, und gegeneinander bewegt, begegnen sich dort jederzeit zwei breite Ströme aus hubderten von Mopedfahrern, die PKW und SUV und LKW, die mit ihnen das Fahrband teilen, geschmeidig umfließen, als wären es Kiesel. Oder Inseln. Und sie dann der Fluss.

Fantasien, Fintionen von kollektiven Wesen, die sich synchron bewegen, synchron denken, essen leben «wie ein Mann», ob nun bei Asimov oder bei Michael Ende: Immer im suptropischen Asien denke ich daran.

In Con Son auf Con Dao gibt es zahlreiche Restaurants, in denen sämtliche Meeresbewohner in türkis sprudelnden Aquarien ausgestellt werden. Man zeigt auf das gewünschte Tier, beispielsweise — je nach Gusto — ein Exemplar von Panopea generosa: wenig später erscheint es in seiner neuen Funktion, würzig zubereitet am Tisch.

Draußen, warm und unheimlich schwarz, die Nacht. Der Mond läßt das Meer zum Meeresspiegel werden.

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9.1.

Ich schaute auf Teheran von oben, die Nacht war ungewöhnlich klar, die Luft wie Glas und die Stadt riesengroß und glitzernd wie ein Pfund Brillanten, ausgegossen über dunklem Samt.

Wir waren an der Ukraine vorbeigeflogen worden. Die Nachtmaschine, ein Dreamliner überquerte den Ganges, dessen Ufer von Lichtlein gesäumt waren. Als die Sonne aufging, stachen die blauen Berge Vietnams aus dem Nebel.

Gab es je ein schöneres Wort für ein Flugzeug? Die Nacht war ja tatsächlich im Fluge vergangen und nicht bloß wie; die Tagwelt, die mit der Landung des Dreamliners Gestalt annehmen konnte, erschien nun als Traum.

Die Stadt Hanoi zeigte sich geschmückt bis in die Baumwipfel mit Lampions und Lichterketten, um die Vorfreude auf das anstehende Neujahrsfest am 22. Januar zu zelebrieren. In den chinesisch geprägten Ländern der asiatischen Sphäre würde dann ein Jahr des Hasen anbrechen. Hier, in Vietnam erwartet man ein Year of the Cat.

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