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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

31.12.

Dem alten Streit zwischen Chalmers und Dennett, ob denn ein Mensch vergleichbar sein könnte mit einem Thermostat, kann ich aus heutigem Erleben gleich zwei Beobachtungen hinzufügen:

1. Am Morgen brachten die Vögel zum ersten Mal seit Wochen wieder ihre Laute hervor. For the record: Ich schrieb diese Zeile bei 14° Grad Celsius, das Barometer stand knapp unter 1020 Hektopascal, die Türe zum Balkon hingegen weit offen. Der Himmel war grau, dunstig, so, wie ich es beispielsweise von subtropischen Gefilden kannte. Oder aus subsaharischen, wo man ja ebenfalls glauben könnte, dass dort andauernd die Sonne scheint — was sie freilich auch tut, aber halt hinter dem Perlschleier. Nur ganz selten, um unseren Dreikönig herum, zeigt sich der Himmel dort blau.

2. Wenn in den zweistelligen Bereich steigende Temperaturen den Vögeln ein Frühlingsgefühl vermitteln, so bringen ihnen die fallenden wohl doch nicht den Winter. Jedenfalls haben sie bis heute, wo sie als Ausrede ihren Frühlingsgruß bringen, meine in einer eigens für ihre Bewirtung überdachten Futterstätte dargebrachte Mixtur aus diversen Nüssen, gedörrten Insekten und Früchten nicht angerührt. Traurig. Aber es bleibt meine einzige Niederlage in diesem Jahr.

Vereinzelte Heuler und gedämpfte Schläge, wie von entferntem Artelleriefeuer: Die Stadt ist umstellt. Dies aber ganzjährig und zwar von Brandenburg (das bekanntlich in Ost-!Ost-!Ostdeutschland! liegt).

Auch das wird sich nicht ändern lassen. Immerhin habe ich schon einmal Peking gesehen. Und die zuckerhutförmigen Berge im Grenzland zu Vietnam. Die Leuchtschrift Negresco und die Kiesel unter der Promenade des anglais, an die mich diese drei Punkte erinnern….

Wie es an apokrypher Stelle bei Koze heißt schmeckt die Wahrheit zunächst leider bitter, entfaltet dann aber zunehmend ihren süßen Geschmack. Bei der Lüge verhält es sich übrigens umgekehrt.

Und damit bleibe und verbleibe ich: zart besaitet, heiter gestimmt.

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30.12.

Irgendwo hat Ernst Jünger gesagt, es sei ein Drang für ihn und sich dabei mit einem Bauern verglichen, der ja selbst auch einen Drang verspüre, sein Feld zu bearbeiten.

Ich jedenfalls kann meinem Drang nicht widerstehen. Selbst der Einkaufszettel wird mir zum Werk. Ich kann nicht mehr anders.

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29.12.

Für meinen Geschmack habe ich zu selten Albträume. Ich schlafe lang, tief, gut und werde beinahe neidisch, wenn Friederike mir in der Früh von einer Angst erzählen kann, von der sie im Schlaf heimgesucht worden ist.

Später, bei der Arbeit in meinem Flaschengarten komme ich mir mit den grotesk langen Instrumenten manipulierend selbst vor wie etwas, das dort hinter dem Flaschenhals eine Welt durcheinander bringt: mal hier zupft, dann das schneidet. Leben fortführen lässt oder unterbricht, wie es mir gefällt oder richtig erscheint.

Wenn dann die Lampe wieder eingesetzt ist, spüre ich den Wunsch, dass dort in der von mir heil gemachten Welt ein buntes Fröschlein leben sollte; zumindest eine Schnecke mit zierlichem Haus. Aber ich gebe mir nicht nach.

Seit gestern herrscht Tauwetter draußen und ich muss mich regelrecht dazu überreden, innerlich, durch den Park zu gehen, da ich die Natur zu dieser Zeit nicht gerne anschaue — nass, vorwiegend unbekleidet und überall Schmutz.

Im Park dementsprechend vor allem Hundebesitzer und Jogger. Natur als Sportgerät oder Klo. Einige Baumstämme sind mit leuchtender Sprühfarbe mit Zeichen beschriftet, die mich an Runen erinnern. Der Hintergrund dagegen eintönig, verwaschen, der Blick findet nichts, woran man sich festhalten könnte.

Zeit der Schmalzbrote. Wer sich jetzt nicht eins schmiert, isst keines mehr.

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28.12.

In dieser «seltsamen Zwischenzeit» (Olaf Scholz) kommt zum Schweigen der Amseln das Schweigen der Baustellen noch dazu. Heute früh führte mich mein Weg an einer dieser Stätten der Betriebsamkeit im öffentlichen Raum (S.d.B.i.ö.R.) vorüber und dort, wo es bis zum Heiligabend noch schallte und dröhnte, gelegentlich sogar krachte, war jetzt nichts weiter noch zu vernehmen, als der eisige Hauch der Russenpeitsche, der die mit Raufreif wie veredelschmimmelten Holme der Schubkarren, das Gestell der Gerüste überblies. Ein Knattern der Planen und hoch, ungeheuer droben noch ein Mann, ganz in Orange. Ansonsten herrschte Winterruhe.

Hier und da, vor allem an den Fronten der Verteilerkästen, auf deren Obenauf ich als Kind so manche Sommerstunde mit den Waden baumelnd gesessen hatte, um nach etwas Aussicht zu halten, was dann doch nie gekommen war, klebten jetzt schneeweiße Sticker, auf denen sich eine Revolution ankündigte. Unserer Regierung sollten die an sich genommenen Rechte wieder entrissen werden. Dafür suchten sie Kinder.

Andere klagten auf fotokopierten Zetteln vom drohenden Ende ihrer Existenz, das unter den sogenannten Maßnahmen nah und immer näher zu scheinen schien. Ein Euphemismus, da war ich gewiss.

Die schönsten Handschriften haben die Vietnamesen. Und der unter ihnen mit der schönsten von allen verkündet auf signalrotem Pappschild von seiner Geschäftsaufgabe nach 16 Jahren. Das lehnt von drinnen her gegen das Schaufenster. Etwas anderes gibt es hier nicht (mehr) zu sehen.

Die Haut: ich auf dem Wochenmarkt, der heute nur aus drei Ständen bestand, dazwischen Leere, die freilich eine eisige war. Brot, Fisch und eingemachte Gurken — wie im Krieg, wie nach dem Krieg. Aber halt auch wie kurz vor einem, so von der Stimmung her. Gemüse friert bei sechs Grad unter Null. Zumindest das Grüne. Äpfel werden glasig, aber «Warum soll der Rosenkohl denn nichts sein!» faucht die Marktfrau, die sie eben danach gefragt haben wollte. «Weil er gefroren ist?»

Nächstes Jahr, schreibt Döblin, soll es noch kälter werden. Aber das ist ja schon eine halbe Ewigkeit her.

Kann denn etwas, das von sich aus schweigt, überhaupt durch noch mehr Schweigen auch noch (hörbar) stiller werden?

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27.12.

Abends «e–m@il Für Dich» — Ich hatte total vergessen, welch guter Film das ist; beziehungsweise war dieser Film wenn nicht seiner, so zumindest meiner Zeit voraus. Jetzt kam er gerade recht.

Im Feuilleton gab es gestern einen dieser Aufsätze, in denen — alljährlich wie es mir scheint — das Ende des Buches versprochen wurde. Dieses Mal sollte es an Papierknappheit zugrunde gehen. Mir ist das egal — werden die Bücher halt teurer. Und die Verlage um ein paar einige weniger zahlreich als heute. Mehr würde nicht. Mein nächstes Buch wird ja vor allem eines: teuer.

Aus solcherlei leichtfertig gefassten Gedanken ist dann der Wunsch nach einem Film entstanden, in dem es auf angenehme Weise um Bücher geht. Da die Buchgeschichte bekanntlich in Filmen erzählt wird und die Filmgeschichte in Büchern, war e-m@il Für Dich freilich die erste Wahl — irgendwo muss man ja anfangen, wie Jarvis sagt.

Zudem ist es ein Weihnachtsfilm (was mir ebenfalls entfallen war in den vergangenen 23 Jahren) mit reichlich Apfel-Content (der mich damals noch nicht so sehr interessiert hat; sogar Egon der Wurm in seinem Apfelmobil hat einen kleinen Auftritt) und ich fand es jetzt auch wie mit einem Mal erstaunlich — amazing, und geradezu dazzling: was die damals schon alles hatten. Beziehungsweise dass wir hierzulande kulturell anscheinend so um die 15 Jahre abwarten mussten, bis Starbucks, Einzelhandel gegen Kette, Fitnessstudio, Online-Dating usw auch bei uns erblühen konnten.

Meg Ryan spielt ja nur die Buchhändlerin, im Film verkörpert sie zugleich die Bibliomanie, von der sie durch die Figur, die Tom Hanks mit Leben erfüllt, geheilt wird. Sie hat den kleinen Buchladen mit all seiner Verpupptheit von ihrer Mutter geerbt, die fortan im Amulett ihrer Buchhalterin spukt, und von dieser Bürde wird sie dann von einem Kaufmann mit Herz befreit, der ihr dadurch den Weg zur Liebe bahnt, die jha nicht etwa durch mehr Bücher anzulocken wäre — da entgegen stehen die privaten Schicksale von sogenannten Buch-Blogger:innen vor allem, von Amazon-Rezensent:innen auch, sondern durch entschieden viel weniger Büchern bis eben keinen. Denn nur so, das erfuhr ich durch e-m@ail Für Dich, durch das Abräumen und Beiseitewischen fremder Narrative wird der Weg endlich frei für Die Eigene Geschichte (die ja in der Liebe eine gemeinsame ist).

Noch ein Wort zur Logoschreibweise im Titel des Films, der ja im original etwas weniger kompliziert heißt, nämlich You’ve Got Mail: Wäre ein anderes Deutschland möglich gewesen, wenn man sich — im Verkehrministerium Fragezeichen, in der Bundesnetzagentur Fragezeichen, bei Herrn Schwarz-Schilling oder bei Dr. Riesenhuber von vorneherein dafür entschieden hätte, die Email einfach klein zu schreiben und dabei buchstabiert als m@ail?

Poesie steht ja nicht gerade zu erwarten von Michel Houllebecq, immerhin hatte ich das titelgebende Verb noch nie gehört; und es ist schön (obwohl es Fürcherliches bedeuten soll).

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