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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

17.12.

Gestern abends nach langer Zeit wieder an einem Linolschnitt versucht, es war schon spät. Das Motiv zeigt den Wiedehopf, Vogel des kommenden Jahres 2022.

Und heute denke ich, dass mir damit seit langer Zeit endlich wieder etwas gelungen ist. Will morgen noch ein paar mehr Drucke davon machen.

Seitdem ich Camille Paglias Exegese von Woodstock gelesen habe, höre ich Joni Mitchell (wieder). Erinnerte mich dabei an einen Dokumentarfilm über die Gesellschaft von Laurel Canyon in den siebziger Jahren. Einer, ich glaube es war Crosby, erzählte, dass er damals mit Joni Mitchell gelebt hatte. Das muss in jenen Tagen gewesen sein, in denen dort ein unglaublich potentes Marihuana kursierte. Auf jeden Fall ging seine Anekdote dann so, dass er seinen Gästen erst einen Joint anbot und dann, wenn alle davon geraucht hatten, bat er seine Freundin, dich bitte etwas vorzusingen…

Bloß, um ihnen dann dabei zuschauen zu können «wie ihnen das Gehirn aus der Nase in den Schoß rann».

Seltsame Zeiten.

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15.12.

Erklärungsversuche: Vor ein paar Tagen erst hat eine Frau zu mir gesagt «Wir kommen aus Hamburg.» Und ich sagte «Ich weiß.»

Daraufhin sie «Woher?» und ich «Das hört man. Ich habe neun Jahre in Hamburg gelebt.»

Und ihr Mann: «Das hört man.»

Was sonst noch geschah: An einem Wintermorgen, kalt und klar, aber nicht annähernd so schneereich wie früher, als die Winter noch kalt und schneereich waren, blieb ich beim Überqueren der großen Brücke bei der Festtagswiese in Leipzig stehen, weil der Fluß auf seiner ganzen Breite mit einem Mal auf mich wirkte wie aus flüssigem Metall. Und die Wintersonne, die nicht wärmt und, kaum aufgegangen, da schon wieder sich anschickte, unterzugehen wie es heißt, hatte eigens dazu die Färbung einer Mandarine angenommen. Mandarinen in Stahl.

Und mitten auf des Flusses Rücken saßen drei Kormorane auf einem Stück Stamm und der rechte breitete seine Flügel weit aus wie es dem Bundesadler zugeschrieben ward; sie zu trocknen.

In Japan binden die Fischer ihm den Kropf ab mit einem Faden (Kormoranen) und richten ihn damit erst ab, für sie unter Wasser zu jagen. Für jeden Fisch, den er ihnen ins Boot holt, bekommen sie einen anderen, kleineren, ihnen nicht so teuren als Sold.

So stand ich dort. Im Rücken einen in roter Uniform mit Pelzbesatz, der seine grüne Ware feil hielt, Zapfenförmig, die doch keiner wollte. Und ich dachte «Schade», nein: «Typisch, dass ich ausgerechnet jetzt wieder einmal nichts zu schreiben bei mir habe».

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9.12.

Aber können wir denn überhaupt noch mehr bewirken wollen, als selbst wie eine Träne Minzöl zu wirken, die in einen Bottich warmer Schokolade fällt?

Heute früh endlich Schneefall. Schon eine Stunde zuvor hatte der Duft des Schnees in der Luft gelegen, das Herabschweben der Flocken hatte sich darin ankündigen lassen, und als ich dann das nächste Mal aus dem Fenster schaute, lag dort draußen schon eine durchscheinende Schicht…

Ein Ausnahmezustand, aber ein schöner. Ein Morgen, an dem ich andauernd nervös nach dem Telefon schaute — in der Hoffnung, dass meine Verabredung sich von allein erledigen dürfte. Ich wollte einfach nur für mich bleiben. Im Weißen umhergehen. Dem Knirschen zu lauschen unter den weißen Sohlen meiner Tennisschuhe.

Später fand ich mich dann wieder an einer Bushaltestelle. Ein kleines Mädchen war der einzige Mensch weit und breit. Sie hatte auf der Bank neben mir Platz genommen. Ich fragte, wann der Bus kommen wird. Sie fragte mich, wieviel Uhr es ist «mein Handy ist eingefroren».

So vertrieben wir uns daraufhin die Zeit, ein jeder für sich: Sie hauchte auf den dunklen Screen, ich versuchte dem Treiben der Flocken noch etwas abzugewinnen. Dann kam der Bus. Unser.

Das Mädchen mit dem Telefon — sie hielt es nicht in einer schwefelgelben Gummihülle, aber ich hätte das erfinden können.

Oder alles. Sogar den Schnee.

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8.12.

Zur Feier von Peter Handkes Geburtstag bekam ich die Figur eines Weihnachtsmannes, geformt aus Schokolade. Allerdings handelte es sich dabei um ein saisonales Spin-Off der Handelsmarke After Eight.

Bei den minzig gefüllten Täfelchen im Etui aus edlem Pergament kann ich kaum je Nein sagen — schon gar nicht, wenn sie mir gekühlt serviert‘. Der After-Eight-Man allerdings besteht aus einer Schokolade, deren Substanz lediglich mit dem Aroma der gefüllten Täfelchen parfümiert wurde, ohne dabei selbst auch noch gefüllt zu sein. Im Grunde handelt es sich also um eine Sublimation der Idee von After Eight, die im Ergebnis aber exakt genau so mundet wie das vermeintlich um ein Mehrfaches raffinierter hergestellte Vorbild der Täfelchen.

Was man freilich bedauerlich finden könnte.

Minze übrigens, das las ich beim Knuspern an den eisschrankkalten Schokoladensplittern nach bei Harold McGee, ist ein Kraut, das ursprünglich bloß dort vorkam, wo es unerbittlich heiß war. Und karg. Das Minzöl wird von der Pflanze lediglich gebildet, um das Blattwerk vor dem Verdorren zu beschützen.

Vermutlich von daher der Eindruck des Wohlgeschmacks, wenn man Minziges gekühlt zu sich nimmt. Das Bewusstsein reibt sich am Konträr zur kollektiven Erinnerung.

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7.12.

Es gibt eine Aufnahme vom Rande der Dreharbeiten zum Himmel über Berlin, die zeigt Wim Wenders mit einem Fanny Pack am Busen des goldenen Engels und von oben herab hält ihm Otto Sander dazu Hasenöhrle ins Bild. Handke, dessen Geburtstag wir gestern feierten, ist auf diesem Foto nicht mit abgebildet. Als Künstler hält man sich besser außerhalb.

Im Nebendraußen, wie Lenz es geprägt hat.

Die Süddeutsche hatte am Wochenende eine lange und langatmige Reportage von den Proben zur ersten Opernregie von Markus Lüpertz. Im Gesellschaftsteil, bezeichnenderweise. Aber gerade dort, in persona, scheint er mein Vorurteil noch zu übertreffen. In einer Passage ist von einem Telefonat mit Georg (B.) die Rede, indem dieser Malerfürst ihm, Lüpertz, empfiehlt, sich einen sogenannten Maybach zuzulegen, weil Mathias Döpfner sich auch schon einen «geholt» habe.

An kein Bild von Markus Lüpertz könnte ich mich erinnern, bis auf eine Iölustration einer Taschenbuchausgabe von Botho Strauß — irgendetwas mit Dythirambischer Komposition; schaute aus nach Neo Rauch ohne Figuren. Aber immer waren dafür diese Fotos von ihm in der Gala oder Vogue, wo er mit seinen albernen Ringen und Hüten vorgeführt wurde. Für mich ist er ein Nestbeschmutzer.

Herrliche Tage in der schwäbischen Heimat liegen hinter mir. Von daher bleibe ich zart besaitet, aber heiter gestimmt. Der Luftdruck konsolidiert sich um 1000 Hektopascal. Heute früh hatte es rußige Tüpfel auf zartrosa leuchtendem Grund.

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