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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

26.12.

An Heiligabend in eine Kirche in Niederrhein: Das Gebäude, eine Zusammenstellung von Pavillons im Look bergischen Fachwerks mit hohem Turm wie um Feuerwehrschläuche zu trocknen, hatte mir im Grunde nicht übel gefallen. Drinnen freilich die üblich gewordenen Vorsichtsmaßnahmen, aber ein Streichquartett.

Allerdings dann ein Gottesdienst, mit dem die Pfarrerin wohl ein niedrigschwelliges Angebot machen wollte. Als es um Gottes Geschenk ging, behauptete sie doch glatt, das Jesuskind in der Krippe habe man sich «klein wie ein Erdnussflip» vorzustellen.

Auch nicht das sogenannte Friedenslicht, ein Teelicht, dessen Docht an einer Kerze entflammt wurde, die angeblich im Flugzeug aus Betlehem bis nach Düsseldorf gebracht worden war, konnte mich mit den Unglaublichkeiten in der Trinitatis-Kirche wieder vollends versöhnen.

Zur Bescherung den neuen Houllebecq bekommen, in dem es, dem Titel gemäß, vollends zur Sache geht. Wie schon bei American Psycho stehen auch hier die Zeichen an der Wand:

« Le temps ne passera pas ! »

24.12.

Nach 18 Uhr fing es gestern zu schneien an. Da befand ich mich gerade in Prenzlauer Berg und ging die Kollwitz Straße entlang, die ich nun auch schon entlang ging, seitdem ich zum ersten Mal nach Berlin gekommen war. Der Schnee fiel dicht, in feuchten Flocken und dabei trotzdem doch so still und sanft, wie diese — erstaunlicherweise: 24 Jahre vorbei gegangen waren.

Vor dem Weinhändler Schmidt rief eine Stimme aus dem Dunkeln der anderen «Fröhliche Weihnachten!» zu. Und als ich daheim eintraf, erhielt ich die Nachricht, dass Joan Didion gestorben war.

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23.12.

Heute früh eine Perversion des Proustian Rush durchlebt dergestalt, dass mir ein Vorschwall heißen Tees aus der Schnaube schoss und, ich schenkte stehend ein, mir an dem Tassenrand vorbei und damit sehr viel tiefer drunten auf den Fuß fiel.

Ein Abend stieg in mir auf aus diesem Schmerz, ich war mit Katrin im Kino gewesen, in jedem Kino auf der Reeperbahn, in dessen Saal man rauchen durfte, wir hatten uns Blood In, Blood Out angeschaut — der dringenden Empfehlung Daniel Richters zufolge — und, der Abend war ja noch jung (und wir waren es auch) beschlossen, Roberto zu besuchen, der in Nachbarschaft zu diesem Kino in einer Seitengasse wohnte. Ohne uns voranzumelden. Das Mobiltelefon war ja noch nicht erfunden.

Humpelnd öffnete er uns die Tür. «Hatschend» hätte man es im Schwäbischen genannt. Im war, davon hatten wir freilich nichts ahnen können, am Vorabend beim Einschenken von Kräutertee die Kanne umgekippt und hatte ihre kochendheiße Fracht über seinen rechten Fuß entladen. Der zu allem Unglück in einer dicken Wollsocke gesteckt hatte, weswegen die verbrühende Wirkung sich noch intensiviert haben sollte. Hatte man ihm zumindest im Hafenkrankenhaus erklärt. Alle Haut und sogar eine Schicht vom Fleisch waren von Robertos rechtem Fuß dort abgeschält worden. Er hatte sich beinahe durchgegart.

Well done und ähnliche Wortspiele gehörten damals zum sogenannten Guten Ton. Und so entwickelte sich aus dem beiderseits unverhofften Krankenbesuch noch ein erspießlicher Abend.

Aus Robertos Fenstern konnte man auf die vom vorweihnachtlichen Regen glitzernde Reeperbahn schauen, das weiß ich noch ganz genau.

Ich hatte übrigens auch gestrickte Socken angehabt heute früh. Aber bei mir war es halt bloß ein kleiner Spritzer heißen Lapsangs gewesen; im Grunde doch nur ein Tropfen. Aber a little goes a long way — zumindest was mein Gedächtnis anbelangt.

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21.12.

Offenbar war gestern schon der Zwanzigste, den ich irrenderweise für den 19. gehalten hatte… Mit Zahlen hatte ich es bekanntlich noch nie.

Aber der Umzug hatte auf lange Sicht einen Wechsel der Bank unumgänglich gemacht. Auch dort, im sogenannten Bankwesen, hatte sich mittlerweile einiges getan — wie ich feststellen durfte. Meine Kundenberaterin jedenfalls hat sich inzwischen die Oberlippe zum Entenschnabel aufpolstern lassen. Den Ziffernblock ihrer Tastatur bedient sie mit den glasharten Spitzen ihrer synthetischen Fingernägel, die ungefähr zweieinhalb Zentimeter über ihre organischen Fingerspitzen auskragen.

Ein früher Klassenkamerad, Jürgen, schied damals freiwillig aus dem Gymnasium aus, um Banklehrling bei der Kreissparkasse zu werden. Dafür musste er sich den Ohrring aus dem Ohrläppchen nehmen, um einen seriösen Eindruck abgeben zu können. Ich sehe ihn heute noch beinahe ungetrübt vor mir stehen hinter der Panzerglasscheibe des Schalterraums in seinem Konfirmationsanzug; das Loch im Ohrläppchen schon beinahe zugeheilt…

Das Licht in dem Großraumbüro, in dem mich meine Kundenberaterin gestern empfangen hatte, empfand ich neuerdings als gnadenlos. Für mich wäre es unerträglich, dort acht Stunden lang hinter der Spuckschutzscheibe zu sitzen. Auf dem Tisch eine kleine Pyramide aus Holz, deren Segmente in Primärfarben lackiert sind wie Bauklötze: So baut man ein Vermögen auf.

Der Nebentisch, eine Insel der Arbeit. Die Rede dort war von Schnitzel mit Blumenkohl.

Wennn ich mehr als einhunderttausend Euro anhäufe auf meinem Konto, muss ich eine Verwahrgebühr bezahlen von 0,5% pro Jahr. Auch das hatte sich verändert seit Jürgens Einstieg in das Gewerbe. Ich versprach ihr, dass ich es nicht so weit kommen lassen will.

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19.12.

Seit Tagen schon stapelt irgendjemand die Exkremente seines Hundes auf dem niedrigen Mäuerchen, das den Vorgarten eines benachbarten Hauses umgibt. Ein Anblick, der mich herausfordert; provoziert; verärgert und sogar beinahe wütend macht. Ich empfinde ihn als provozierend, vermutlich in einer Übertragung meines Ärgers über die Impfgegner, die ich auch nicht im einzelnen mit Namen und Geschichte kenne. Schweigende Massen.

Und wie stets vor Weihnachten zeigt sich der Himmel auch nicht gnädig, kein Schnee — weit und breit—, um die Schande auf dem Mäuerchen zu bedecken.

Gestern früh begegnete mir daraufhin ein Mann, den ich schon von weitem her als einen Ureinwohner lesen konnte. Mit Hund. Er hielt einen Zweig von einem Rhododendron in der Hand. Vermutlich von dem alten Busch inmitten des Amalienparks. Nicht abgeschnitten, sondern abgerissen, wie ich im Näherkommen erkennen konnte.

Freilich fühlte ich mich gedrängt, ihn zu bitten, doch in Zukunft ein Messer zu verwenden, um den Busch nicht unnötig zu schädigen. Dann aber schob sich eine andere Wahrnehmung bei mir in den Vordergrund: Ich sah, wie der Blick des Mannes die Häuser am Wegesrand absuchte, ehemalige DDR-Mietskasernen, die dort seit Monaten aufwändig zu Townhouses en miniature umgebaut werden. Und ich meinte in seinem suchenden Blick auch so etwas wie Resignation entziffern zu können, zumindest war es doch Verzweiflung, dass er hier auf dieser Straße bald wie in einer von den Eltern geerbten Wohnung leben müsste, in der ihm nach und nach eine weitere Zimmertür versperrt würde, wie am Vorabend von Heiligabend, aber die Bescherung in diesen Räumen fände dann ohne ihn statt.

Und wie ich ihn beinahe gänzlich zuende gedacht hatte, tat er mir freilich beinahe leid.

Aber wir gingen beide weiter unsere Wege (und sprachen kein Wort, auch keines des Grüßens, wie es hier schon immer Sitte war, auch vor der Wiedervereinigung und vor dem Mauerbau und vor dem Zweiten Weltkrieg, als dort an der Stelle der Mietskasernen noch das Stift zur Maria Heimsuchung war.)

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