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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

21.10.

Als ich erwachte, hatte der Baum im Hof sich beinahe all seines Laubes entledigt. Birnengelb lagen die Blätter rings um den Stamm.

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18.10.

Gestern lag das Wasser über fluoreszierend hellblauem Grund. Das Sonnenlicht, trügerisch. Es wärmt die Luft aber das Wasser kühlt seit Ende September aus in langen Nächten. Die Tage sind kurz. Eine ungleich schwerere Masse von ungleich kälterer Temperatur. Nach wenigen Bahnen ist das Kältefühl im Inneren der Schultern eingetroffen.

Für den Heimweg schlüpfe ich in meine neuen Handschuhe, aus Wolle, in deren Fingerspitzen Kontakte eingewebt wurden, damit man auch in Handschuhen auf dem Display tippen kann.

Nachts schlief ich tief unter dem Vollmond. Das Diagramm zeigt am Morgen regelmäßig rote Spitzen. Anscheinend muss ich in jeder Nachtstunde einmal aufgewacht sein.

Drei Vitaldaten werden als außergewöhnlich gemeldet: Herzschlag, Atemfrequenz und Temperatur am Handgelenk sind erhöht. Mögliche Ursachen: Erkrankung oder Alkoholkonsum.

Das letztere scheidet aus. Am Nachmittag schlafe ich drei Stunden lang, anstatt zu arbeiten. Schlechtes Gewissen trotz meiner Matschigkeit. Im MA hätte ich um geistlichen Beistand gerufen: Bin besessen von Undine o.ä.

Informiertes Leben. Aspirin Komplex.

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16.10.

Es muss im Jahr 2000 sich ereignet haben, die Jahreszeit draußen, das Wetter an dem Nachmittag erinnere ich nicht mehr. Aus irgendeinem Grund, heute nehme ich an, vor der Buchvorstellung von Maxim Billers erstem Roman, war Helge Malchow in einer Gruppe von Leuten mit in meine Wohnung gekommen und verbreitete seine Bernhardiner-Energie. Damals wohnte ich in München, unweit vom Café Schuhmann, in dem die Premiere stattfinden sollte.

Auf dem Tisch lagen drei Bücher: Hellblau, Tiermenschen und Das Partikular. Malchow begann über Henri De Montherlant zu sprechen, beziehungsweise über den Umschlag des alten Bandes, der in den Fünfziger Jahren bei Kiepenheuer & Witsch erschienen war. Der Verleger kündigte an, bald schon diese Brushscript-Fonts zurück zu bringen. Daraus wurde dann glaube ich Alles Ist Erleuchtet.

Als nächstes erinnere ich noch, dass er seine Theorie von den zwei Schriftstellertypen erklärte. Den Geschichtenerzähler und den Sprachphilosophen. Es war damals gerade ein neues Buch von Michael Chabon in deutscher Übersetzung erschienen, von dem der Verleger sich einen Erfolg erhoffte. Der sei eindeutig ein Geschichtenerzähler. Vollkommen mit seinen Plots befasst.

Bei den Büchern lag ein kleiner Schnipsel, den Thomas aus einem bayerischen Lokalblatt ausgeschnitten hatte. Eine Meldung, in der es um unterirdische Gasvorkommen gegangen war. Diese Meldung war später eingegangen in die Erzählung von Hellblau. Verwoben mit dem Kontekt von Drexciya. Da ich ihn auf diese beeindruckende Passage angesprochen hatte (mündlich), schickte er mir daraufhin den zugrundeliegenden Schnipsel in einem Briefumschlag per Post.

Dieser Schnipsel verknöpft die Erinnerung dieser Stunde in der Münchner Wohnung mit meinem Denken heute, zu dieser Stunde an diesem Tag.

Abends noch mit Max in die Wallotstraße. Ich verstehe jetzt Schlak schon etwas besser. Sein Shpil. Am anrührendsten fand ich unter den neuen Fellows den Musikwissenschaftler aus dem Senegal, der allein an einem der Stehtische blieb, ab und an am Wein nippend, dabei sein eigenes Bild im Verzeichnis der Fellows betrachtend. Augenscheinlich noch nicht ganz angekommen in dieser Welt.

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14.10.

Das Leben schreibt eben gerade nicht die besten Geschichten. Kann es ja auch nicht. Dazu braucht es Kontext, dazu braucht es zwei.

Zum Beispiel heute, ich lese die Zeitung. Am Nebentisch lügen drei Frauen einander hemmungslos an. Ein Kind ist dabei. Es gehört zu derjenigen, die am ehesten noch vermögend ausschaut. Beziehungsweise, die so ausschauen will. Seitdem es Quiet Luxury auch bei den Ketten gibt, weiß man das nicht mehr so genau.

Dass die Frauen einander anlügen, weiß ich, weil die der vermutlich Vermögenden gegenübersitzende behauptet, Texterin zu sein. Dass sie davon aber nicht leben können wird, wird mir schon daraus ersichtlich, als sie der anderen ihr angebliches per diem nennt.

Die Vermögende hat nämlich angeblich ein Startup, dabei geht es um Hühnereier von Tieren, die der Qualzucht entrissen wurden. Und das Kaffeetrinken soll jetzt vor all dazu führen, dass die angebliche Texterin der Vermögenden einen Slogan honorarfrei — gewissermaßen: verrät.

Die Dritte sagt nichts. Sie kümmert sich um das Kind. Auch das trägt zum Eindruck des Vermögenden bei der Ersten bei, es zahlt ein auf diesen bei mir als Außenstehenden hervorgerufenen Eindruck, dass sie das nicht selbst erledigen muss: kümmern.

Bald ist das Kaffeetrinken vorüber. Die Vermögende belügt die Texterin mit ihrem Versprechen, sich bald wieder bei ihr melden zu wollen. Die angebliche Texterin widerum belügt Frau Drei und Eins mit ihrer Behauptung, sich umgehend an den Schreibtisch setzen zu müssen.

Ich hingegen, auf meinem Platz hinter dieser Zeitung spüre es in dem Moment, was als nächstes passieren wird. Und richtig gespürt:

Das Kind ist weg. Die Vermögende ruft zunächst, dann rennt sie los. Tatsächlich do kopflos wie ein Huhn. Oder halt wie eine Mutter, ein Vater, jedes Elternteil, wenn man vor lauter Nichtigkeiten das Wichtigste im Leben zu vernachlässigen fürchtet.

Das Café liegt direkt an der Hauptstraße. Es gibt zahlreiche Baustellen, klaffene Löcher in Asphalt. Von weitem leiern Martinshörner. Den gesamten Vormittag über geht es schon so. Und trotzdem ist es jetzt gerade auffällig still.

In seiner Kritik von Odenwald stellt Moritz Bassler die, natürlich, rhetorische Frage, ob diese Art zu schreiben, ob das informierte Schreiben, wie Thomas Meinecke es pflegt, nicht aus der Zeit gefallen wirken müsste; vielmehr ob die Zeit nicht darüber hinweg gegangen wäre, ist?

Literatur und Mode haben vor allem eines gemeinsam: Oft lohnt es sich, die Zeit darüber verstreichen zu lassen. To stand the test of time. So wie die Jahre über meinen leichten Mantel aus Nylon von Jil Sander hinweg gegangen sind, der in diesem Herbst, wie mit einem Mal, alle Blicke auf sich zieht.

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13.10.

Gegen Ende hin gibt es in dem Gespräch von Stephan Schlak mit Peter Sloterdijk, das vom Wissenschaftskolleg zu Berlin verbreitet wird, eine Szene, die ich als ungeheuerlich empfinde. Sloterdijk, der die meiste Zeit über sich selbst gerühmt hat, fügt an, dass er sich dereinst geehrt gefühlt hat, als ihm ausgerichtet wurde, dass Jan Philipp Reemtsma in seiner Geiselhaft von den Entführern «sein Buch» zu lesen bekommen hatte.

Herr Schlak nimmt das hin. Beziehungsweise geht er mit.

Man ist es mittlerweile ja gewohnt, dass Moderatoren sich lieber treiben lassen wie im Fass auf dem Niagara River; vor allem viel beschäftigt damit, den Einsatz für ihren nächsten Redebeitrag nicht zu verpassen. Im Falle Schlaks — es ging ja im Großen auch darum, ob Siegfried Unseld sich als kongenial empfunden haben wird — dürfte auch das eine Rolle gespielt haben: Man unterhält sich auf Augenhöhe. Achselzucken, innerlich.

Kein Roman. Ich habe die Aufzeichnung vor drei Tagen gesehen und kann mich noch nicht als davon erholt betrachten.

Das Buch, dessen letzte Seite der Kandidat im Irrlicht von Louis Malle liest, bevor er zu seiner Parabellum greift: Sollte es den Autor mit Genugtuung erfüllen, dass er zuende gelesen wurde von einem, der im großen Stil selbst Schluß machen will? «Seine letzte Amtshandlung!»

Satis est::

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