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2025: GOSSIP GIRL

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de

19.04.

Nach einem wunderbaren Lamm bei Anna und Iskender in die Nachtbahn und unmittelbar fällt mir auf, dass hier etwas nicht stimmt. Eine minimale Verschiebung im molekularen Gefüge, something is wrong.

Es liegt an den Passagieren. Die Mischung ist anders als sonst um diese Zeit, auf dieser Strecke. Es sind keine Fußballfans zu sehen und trotzdem wirkt die Masse homogen.

Bis ich auf den Knien einer Sitzenden den fabrikneuen Jutebeutel entdecke, der mit dem Logo von Nino de Angelo entdecke. Und sie mir wissend zunickt. Vielleicht sogar zwinkert.

Da entfährt es mir «Das sind alles Fans von Nino de Angelo».

Jetzt passt auch die elfenhaft in Marzipantönen gekleidete Greisin, die direkt vor uns sich wie traumverloren um sich selbst dreht, ins Bild. Ein batteriebetriebener Blütenkranz ziert ihren Pagenkopf.

Alle ganz still. Noch erfüllt von den Klängen der Zugabe. Von seinem Organ. Der Zug fährt weiter nach Bernau.

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16.04.

Es gibt eine Art Hunger, die gut ist für meine Produktivität. Und ich meine damit nicht den vollen Bauch, der nicht gerne studiert — vermutlich, wie alles von: Goethe?

Ich meine Sinnesentzug. Jonathan Franzen hat damals Interviews gegeben, dass er Teile der Korrekturen mit Schlafbrille geschrieben hätte, um seine Vorstellungskraft zu stärken («Please, stärke die Vorstellung!») Von Hofmannsthal, berichtet Helene Nostitz, hauste in einem Zimmer, dessen sämtliche Wände mit bodentiefen Vorhängen verkleidet waren. Farbe Lichtgrau. Gefällt Dieter Rams, weil dann auch die Steckdosen zum Verschwinden gebracht werden. Neulich sah ich ihn, wie er deppert, und mit gespieltem Entsetzen (gespielt ist immer schlecht, auch alles gut Gespielte) bei Vitra durch die Hochregale mit der Stühlesammlung ging, um plötzlich auszurufen «Unbrauchbar!»

Also nicht googeln. Zumindest so wenig wie nötig. お漏らし, aber auf das Geistige angewendet. Sonst landet man bei diesen spießigen Write-Only-Terminals, die es zu Franzens Zeiten gab und, Überraschung: die es jetzt wieder gibt. Ohne schon.

Zu Schreiben bedeutet auch TrickserEI.

Frohe Ostern!

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12.04.

Heute Mittag steuerte durch die geöffnete Balkontür eine Biene zu mir ins Zimmer, in dem ich mit einem Text von Goethe saß (die Biene wusste davon nichts).

Sie flog den Stapel mit dem Brennholz an, der dort neben dem Ofen liegt, wie bestellt und nie verfeuert, seitdem die Betriebserlaubnis für unsere Feuerstelle erloschen ist aufgrund von Trennscheibe.

Nein, Spaß, natürlich aufgrund von einer Feinstaubverordnung der Europäischen Union.

Die Biene also, nach einigem Kreisen um die warmen Scheite, verließ den Raum dann wieder auf der gleichen Route, auf der sie zu mir hereingefunden hatte. Später kam sie dann noch einmal. Könnte aber auch eine andere gewesen sein. Sie sehen für mich alle zum verwechseln ähnlich aus.

Bleiben wollte keine.

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09.04.

Gestern fiel mir vor dem Einschlafen noch eine gute Idee ein aber ich war zu müde nach Braten und Wein und Zitronenschaum, um noch einmal hinabzusteigen, besänftigte mich dann damit, dass ich es mir durch den Schlaf hindurch würde merken können, hatte daraufhin einen veritabel epischen Traum, filmreif, wenn ich ihn mir nur hätte merken können und dachte dessen gesamte, auf wirklich abartige Weise mit Wendungen und Twists gespickte Handlung, die von mir selbst handelte, vermute ich, hindurch an meine Idee. Die immer kleiner wurde, dünner auch, bis sie schließlich durchsichtig geworden war. Wie eine Tüte voller Croissants vom Fett der Träume. Das Licht des Tages schlug schon durch. Meine Idee konnte ich jetzt nicht mehr entziffern. Es wird wieder Zeit für einen Notizblock am Bett.

Noch schweigen die Insekten.

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06.04.

Es war die Zeit der Judasbaumblüte. Cercis siliquastrum hatte ich zum ersten Mal in Zürich erlebt. Vor ein paar Jahren. Im kleinen Frühling der Ideen. Hier, in Narbonne, blüht er in allen Ecken und Enden der kleinen Stadt, die ihres inneren Schneckengewindes wegen auf schier unendliche Weise größer erscheint.

Die Blütenfarbe dieses Baumes, ein Zyklamton, ist das Eine; dass er diese den Forsythien ähnlichen Blüten aus seiner Rinde treiben kann dergestalt, dass sein dunkles Gestell von ihnen wie besteckt erscheint, macht ihn besonders.

Ein besonders schönes, aus zwei eng beieinander gepflanzten Stämmen treibendes Ensemble bewunderte ich beim Abschiednehmen von Narbonne in einer Kehre der Jungfrauengasse, bevor diese auf den Place de Forum mündet. Da kam mir ein Kleinwagen entgegen. Platanenfarbend.

Der Platz selbst hat, von Pinien umstanden, einen interessanten Brunnen zu bieten, zu dessen Abschluss eine langschenklige Pyramide auf drei steinernen Kugeln himmelwärts zeigt.

Der Himmel, nicht nur an diesem Morgen: lupenrein blau. «Onward and Upwards with the Arts».

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