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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

27.03.

Bei der Zubereitung einer guten Brühe für die Maultaschen morgen, am Gründonnerstag, fiel mir freilich jene Begebenheit aus einer Warteschlange auf die Conch-Soup von Jamaika wieder ein.

Diese dort traditionelle Suppe wird spätmittäglich in Zelten ausgeschenkt, währenddessen aus den umliegenden Kapellen der Gospel erschallt. Ursprünglich wurde dieser Eintopf wohl aus den gigantischen Muscheln hergestellt, deren Schalen es heute auch bei Ikea und Hay gibt, um das Badezimmer der Girl-Bosses zu dekorieren, da das schimmernde Innenleben dieser Muscheln an die Vagina erinnern soll (wie so vieles).

Doch ist das Fleisch dieser Schalentiere mittlerweile rar, wie es unter Schweizern hieße.

However, standen wir dort auf Jamaika also in einer dieser Schlangen, es war noch früh am Nachmittage, und der Koch unter dem Zeltdach rührte in einem mächtigen Bottich ohne e die Suppe an.

Schamlos, wie ich es fand, schnitt er währenddessen zwei große, zumindest drei Liter umfassende Tüten mit Suppengranulat von Maggi from Switzerland auf. Dazu schüttete er, ebenso aus der Schweiz importiert, ein Säckli MSG aus Basel dazu, dessen Qualität ja mittlerweit äquivalent zum Kokain aus Darmstadt von den Gourmets weltweit hoch geschätzt wird.

Und, entre nous: Diese Suppe mundete wunderbar. Dass die Schweizer ihre koloniale Vergangenheit unterdrücken, hat vor allem mit ihrem Fokus auf das Gegenwärtige zu tun.Mit ihrer Angst vor dem Übermorgen.

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26.03.

Für die milde Witterung in diesen Tagen hält die Garderobe der Frauen von Prenzlauer Berg den Trenchcoat bereit. Die Männer gehen in Fallschirmspringerhosen an mir vorüber.

Die Winterfütterung der Augen

Kann jetzt allmählich beendet werden.

Magnolien, Flieder

Das Buschfeuerwerk der Spiräen, in Hüfthöhe

Ich blühe auf.

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23.03.

Gestern — oder sollte ich hier vielleicht doch jestern schreiben? am Jahrestag der Pandemie: Ausflug nach Luckenwalde.

Mir war, vor allem auf Tik Tok, eine ältere Sendung in Erinnerung gerufen worden, in der Frank Rosin dort ein Waldgasthaus heimgesucht hat, um der mir irgendwie sympathisch scheinenden Wirtin die Leviten zu lesen.

Nach angenehmer Fahrt im Regionalexpress führte die Wanderung über den Luckenwalder Skatewanderpfad in den Wald. Auffallend viele Tore und Pforten, die, übermannshoch und an den Oberkanten noch mit Zacken oder Stacheln bewehrt, den fremden Blick in die größtenteils von Schrottimmobilien bestandenen Grundstücke verhindern sollen. Der desolate Zustand der Gebäudemasse steht freilich in einem krassen Gegensatz zu den akurat geteerten Straßen und einer astrein gefliesten Fußgängerzone.

Im Hinterhof eines Trockenbauers war eine piratendunkle Flagge aufgezogen mit der Aufschrift «Lieber im Stehen sterben als im Knien zu leben». Der Waldgasthof, mittlerweile in Waldidyll umbenannt, hatte geschlossen.

Hannah Goldfield hat jüngst im New Yorker von dem Phänomen berichtet, dass Restaurants jetzt vermehrt auf eine Form des Social Clubs setzten, die ja auch bei der deutschen Ganja-Legalisierung eine tragende Rolle spielen sollen: Solche Restaurants der neuen Art sind nur noch theoretisch öffentlich, im Grunde muss man ein informelles Mitglied deren Gästeschaft werden, das läuft über Bürgschaften, wie man es hierzulande vor allem von den Golfvereinen her kennt, und man entrichtet einen gewissen Vorschuss auf die zu verzehrenden Mahlzeiten in Form eines informellen Jahresbeitrages im Voraus.

Ob aber das Waldidyll im Elsthal zu Luckenwalde seit kurzem als solch ein Social Club firmiert, konnten wir im weiteren Verlauf des Tages nicht mehr erruieren. Interessant war dann aber doch noch eine Plakette an einer Fassade, die darauf hinzuweisen helfen sollte, dass dort, im einem Gebäude, das früher noch an dieser Stelle gestanden hatte, die SPD gegründet worden war. Mittlerweile befand sich dort ein sogenanntes Job Center der Agentur für Arbeit. Es war riesengroß. Beinahe größer als Luckenwalde selbst.

Mittagstisch in «Steffens Kantine»: Backfisch, Rahmgemüse, Reibekuchen mit Apfelbrei. Durabel.

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22.03.

Gestern, als ich noch etwas jünger war als heute, trat ich nach einer Regenzeit am Vormittag auf die Straße und in dem Moment war auch die Sonne nicht von einem Wolkenstück verdeckt: ihr Licht erfüllte den Kanal der Straße und an jedem Baum, an jedem Zweig, an jedem Ende dieser schwarz verästelten Mannigfaltigkeit funkelten in diesem Licht die Wassertropfen. Jeweils eine. Wie eigens dort aufgehängt.

Für den Moment.

Für mich?

Es war doch, weit und breit, kein anderer zu sehen.

Bloß Sisyphos, im gelben, rot bedruckten Kleide, stand mit seinem Packen vor der Tür dort hinten. Den Finger noch immer am Klingelschild.

Wie eingefroren in meinem Blick

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20.03.

Ärzte sind die neuen Matratzen.

Gestern betrat ich im Rahmen dieser Quest, die ich mir tatsächlich als Betandteil eines Video Games einrede, die Praxis einer Frau hier in der Umgebung. Und schon zu Beginn ihrer Sprechzeit hatte ich das Gefühl, wider Willen zur Komparserie eines alten Defa-Movies rekrutiert worden zu sein.

Alte, wirklich gebrechlich gewordene Mitmenschen versuchten, teils auch erfolgreich, das mit Solidor oder ähnlichem gebeizte Treppenhaus zu stürmen, in dem sie ihre Rollatoren hart am die scharfen Kanten der Stufen setzten. Einen Aufzug, keine Ahnung, wie der in der DDR genannt wurde, gab es nicht.

Im langen Flur der Praxis waren etliche Türen, diese in ganz Berlin klassischen, hohen Altbautüren zu sehen, deren Innenseite jeweils recht grob aber sorgfältig mit bräunlichem Kunstleder auf schalldicht bespannt worden war. Mit goldfarbenen Nägeln, Roman.

Die durch diese Zimmer tatsächlich flüchtende Ärztin rief «Oh, jetzt wird es aber allmählich zu voll» — dabei hatte ihre Sprechstunde noch nicht begonnen.

Und in Kingston saßen wir eines Nachmittages mit einem Veteranen zusammen, der uns von den Anfangstagen des jamaikanischen Radios erzählte: Ursprünglich gab es dort keine Sender, sondern Speaker Boxes, die mit Kabeln von den Studios bis in die hintersten Winkel der Insel verbunden waren. Man konnte die Kanäle nicht wechseln, es gab nur einen einzigen. Den man anschalten konnte oder -aus.

In dieser Arztpraxis jedenfalls musste ich unwillkürlich an Angela Merkel denken und an diesen von mir als unerträglich enpfundenen Jargon des Tja.

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