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2025: GOSSIP GIRL

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de

22.01.

Der Mensch als «Banana Giver» wie es auf einer Schautafel in Manop Rattanarithikuls Museum der Insekten und Wunder der Natur heißt: der Mensch als ein dem Elefanten die Bananen anreichende Kreatur, die sich im Tausch dafür dann auf die Rüsselreichungen des Elefanten verlassen darf.

Der Moskito, so schreibt es der Moskitoforscher (gab es je andere?) piesackt sie beide, sie alle, aber den Elefanten kümmert es nicht. Das Blutopfer, das der Moskito von den anderen will, ist noch winziger, als das Insekt selbst. Im Vergleich zum menschlichen ist der Körper des Moskitos verschwindend gering. Dennoch hat der Mensch seine Technik bemüht, um den Moskito auszurotten.

Für Herrn Rattanarithikul ist das ein Menetekel. Die Ordnung, die er in der Natur erkannt zu haben glaubt, und die sein Museum ausstellt, sieht er ständiger Gefahr ausgesetzt; gefährdet durch die Spezies Mensch.

Die Welt außerhalb des Museums, die es innerhalb des Museums nicht gibt, ist wie die abgelebten und von ihrer Vergoldung entkleideten Tempelbauten ein loses Gefüge aus aufeinander getürmten Ziegelsteinen.

Alle Kreaturen sollten darauf bedacht sein, sich auf diesem Gefüge so umsichtig wie nur möglich zu bewegen. Dem Menschen kommt hierbei, im Miteinander, noch mehr zu als die Aufgabe des Banana Givers. Er ist zugleich auch Teacher, Vehicle Driver, Farmer, Fruit Seller, Bell Boy, Waiter und Monk.

Und die Welt wird zerstört, schrieb Manop Rattanarithikul weiter, weil der Mensch alles daran setzen wird, sein eigenes Dasein komfortabel zu gestalten.

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21.01.

Freilich wäre es interessant gewesen zu erfahren, aus welchem Grund, beziehungsweise ab wann ein solches Bauwerk als abgelebt beschlossen wird; beziehungsweise ob das überhaupt beschlossen wird oder ob es sich ergibt. Einfach so — oder halt aus klandestinen Abläufen des Tempelgeschehens heraus. Die Klandestinizität hier übrigens wie auch bei vielen Abläufen im Alltagsgeschehen vor mir durch die abschottend wirkende Sprache begründet, deren Schriftbild mich mit den vielen Ösen mal an ein Scherengitter, dann wieder an die Mechanik hinter den Figuren des Stabpuppentheaters erinnert.

Doch es sind nicht allein die fremdartigen Zeichen und Laute, die ich nicht gelernt habe «zu beherrschen». Die Ordnung der Abläufe, die damit beschrieben würden, bleiben dem Zugriff des Übersetzers verborgen (der in meiner Uhr eingebaute verrichtet für die basalen Bedürfnisse hinreichende Arbeit; vor allem sind die Leute hier daran gewohnt über das Medium in Gestalt einer Uhr mit einer vor ihr stehenden Person zu kommunizieren. It doesn’t raise a brow).

Der Besuch des Museum for Insects and Natural Wonders entpuppt sich im dieser fremdartigen Logik quasi zwangsläufig zu einen Museum einer anderen Thematik. Beim Verlassen des Museums bleibt man, anders als bei den uns vertrauten Museen europäischer Tradition, still. Das rasche Umschalten auf die leuchtende Lebendigkeit der Szenerie vor der Museumstüre gelingt nicht. Das Leben selbst, so ist das Gefühl: war dort drinnen aufbewahrt und wartet immer noch.

Das also gibt es hier zu sehen: Im Erdgeschoss findet sich der Besuchende zunächst von einem Sammelsurium aus diversen Darstellungen irgendwelcher Insekten umgeben. Teils in Diaramen, teils mitten im Raum, dort an Wänden oder auch auf Teilen von Bäumen montiert sind diese Insekten aber nur in Ausnahmefällen der Natur entnommen, sondern Nachbildungen aus Metall und Holz. Die Zusammenstellung dieser Modelle von Schaben, Wanzen, Hundert- und Tausenfüsslern, sowie Motten und Schmetterlingen samt deren Larven und Raupen, hat ebenso wenig mit einem in der Wirklichkeit möglichen Ökosystem gemein. Erlaubt ist hier, wie es heißt: was gefällt. Aber die Ästhetik des Gefallens wirkt fremdartig. Exotisch allenfalls in einem noch nicht im europäischen Verständnis eingebürgerten Sinn.

Auch fehlen jegliche Empfehlungen oder Vorgaben für die Customer Journey durch dieses bestürzende Reich des Wissens. Unwillkürlich wird ein Besuchender sich für den ihm eingeschriebenen Uhrzeigersinn entscheiden. In den folgenden Räumen schält sich für seinen nach Strukturen suchenden Sinn ein erstes Motiv der Ordnung heraus: Der Moskito.

Manop Rattanarithikul, dem der Bestand, vielleicht auch der didaktische Aufbau dieses Museums zu verdanken ist, hat die berüchtigte Stechmückenart beinahe sein ganzes Leben lang erforscht. Es gibt hier, nach der brausenden Ouvertüre im Foyer, auch die ersehnten Kabinette, die mit ausladenden Kästen aufwarten, in denen penibel aufgesteckte und mit kamelhaarfein beschrifteten Täfelchen ausgezeichnete Stechmücken zu Hunderten konserviert wurden. Exemplarisch werden in Vitrinen auch die von Ernst Jünger bekannt gemachten Werkzeuge zur Jagd auf die Insekten ausgestellt. Das Tötungsglas, das Entspannungsglas zuvor, das Insektengefängnis auch; es besteht aus dem Gazestoff der Imkerhaube.

Eine Holztreppe führt in das obere Stockwerk. Hier wird, anscheinend übergangslos, das im Erdgeschoss aufgenommene Moskito-Wissen an einem Block aus komprimierten Elefanten-Facts zur Kollision gebracht. Der oder die Funken, den Herr Rattanarithikul oder seine Nachfolgerinnen daraus sprühen lassen, ist natürlich geistiger Natur. Es geht nun, die chaotische, den europäischen Sinne beinahe verwirrende, Ouvertüre eingedenk, um die Ordnung des Lebens selbst. In der, so die Nachricht des mittlerweile in eine nächste Sphäre weitergezogenen Museumskurators an die Besuchenden seines Werks: Das menschliche Streben besser eine wieder der Natur untergeordnete Rolle einnehmen sollte.

Flankiert wird die Botschaft von einigen Reihen sehr eng gestellter Regale, deren Inhalte der entomologisch Interessierte unter den Besuchenden schon aus Wilflingen kennen dürfte. Alle Käfer und Falter und sonstigen Krabbeltiere dieser Welt.

Allenfalls anders sortiert. Beziehungsweise: angeordnet. Denn das Ornamentale, eine höhere oder andere Ordnungs als das von Linné oder Darwin ersonnene System scheint hier die Hand mit der Stecknadel geführt; zudem wirkt ein zunächst für den europäischen Sinn deplaziert wirkender Bildkasten tatsächlich erhellend.

Zu sehen ist dort eine Fotografie einer Greisin mit einem etwa dreijährigen Jungen. Die Aufnahme ist erkennbar in einem anderen Jahrhundert gemacht worden. Auch die Kleidung, die Frau und Kind tragen, ihre Frisuren wirken historisch, abgelebt, alt.

Ergänzt wird diese Fotografie mit einem Text. Der Museumsstifter erinnert sich an ein prägendes Erlebnis aus seiner frühen Kindheit. Die Großmutter geht mit ihm durch das Dorf, das Chiang Mai, heute 200000 Einwohner stark, damals noch war. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Japan hat, im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten, den Norden Thailands besetzt. Der kleine Junge fürchtet sich vor den Flugzeugen am Himmel. Die Großmutter erzählt ihm, dass es Geier sind, die dort oben brummen und kreisen. Sie nimmt einen Stein vom Weg auf, der eigentümlich geformt scheint, überreicht ihm dem Jungen und behauptet, dass es ein Ei von diesen Geiern sei — ganz rund und glatt und auch so klein, dass es in eine Kinderhand passt.

Das Ei des Geiers, dieser Stein, ist das dritte Element in diesem Bildkasten, der auf den ersten Blick unpassenderweise an einem der Regale mit den toten Insekten angebracht hängt. Bei genauerem Hinsehen, der Text liefert den entscheidenden Hinweis auf dieses sprechende Detail, sieht man auf der historischen Fotografie die Auswölbung des Steins in der Hosentasche des kleinen Jungen. Darin ist das Punctum dieser Aufnahme und zugleich auch des Museums zu finden.

Darüber denkt man noch eine Weile lang nach.

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18.01.

Der Geldautomat spielt mir mitsamt des angeforderten Stapels einen einzigen Schein zu, der noch mit dem Antlitz des alten Königs versehen ist. Der panoptische Blick eines Verstorbenen. Vergleichbar mit dem Namenszug Peter Gentes in einem Band aus seiner Bibliothek.

Bei Sonnenaufgang wird an der Traufkante des Tempeldaches gegenüber gearbeitet. Ein Wabern langer Blechstreifen mischt sich in die morgendliche Geräuschkulisse aus den Stimmen dieser Vögel, die mir alle unbekannt geblieben sind.

Der Nachbar hält einen Pfau. Mindestens einen, der Geräuschentwicklung nach sind es wahrscheinlich sogar zwei. Immerzu wird auf den Tempelgeländen auch gearbeitet an den Bauten. Manche der Anlagen sind neuen Datums. Auf den älteren Stätten hat es auch verfallene und verfallende Türme und Pagoden, deren Funktionen anscheinend auf neu gebaute Pagoden und Türme auf demselben Gelände übergegangen sind.

Abgerissen wird nicht, renoviert aber auch nicht. Der Neubau ist die Renovation, sagt Byung-Chul Han.

Die abgelebten oder entwidmeten Bauten auf dem Tempelgelände gehören dennoch zum Tempel, es zieht kein Supermarkt darin ein, keine Fruchtsaftbar (die es auf den Tempelgeländen durchaus geben kann). Die ungenutzten Bauwerke stehen mit den genutzten für die Geschichte des jeweiligen Tempels. Gehören in sein Archiv, das, nach Arlette Farge, aus der Unordnung geboren wird.

Welche Melodie also wird hier bei 30 Grad gefroren? Eine wunderschöne, reiche und vielfältige, junger Mann.

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17.01.

Durch Verzögerungen im Betriebsablauf bei VietAir landet die Nachmittagsmaschine erst nach Einbruch der Dunkelheit in Chiang Mai. In der Tasche meines Sitzplatzes steckte noch das Weihnachtsmenü. Die Stadt selbst zeigt sich in meinen Augen kaum verändert, seitdem ich vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal hier gewesen war.

Auch das Hotel wirkt wie aus meinem Gedächtnis errichtet. Als die Sonne aufgeht, beginnt das Dach eines Tempels, das vor dem Balkon aufragt, in einem dunklen Rot zu glühen. Daneben glänzt bald eine goldene Himmelsantenne im Licht.

Der Buchladen, der die Bibliothek Peter Gentes verkauft, findet sich in einer Seitenstraße zwischen Cannabiszüchterei hinter klimatisierten Scheiben und dicken, schweigsamen Fröschen, die in Bottichen ihrer Verwendung entgegen harren.

Die Bände, die noch verfügbar sind, füllen drei Regale. Einige Buchrücken sind stark vom Sonnenlicht ausgebleicht, beziehungsweise im Falle von zwei Ausgaben der Mille Plateaux: gebräunt (Papier kriegt keinen Sonnenbrand). In die werthaltigen Exemplare hat der vormalige Erstbesitzer seinen Namen, dazu den Monat und eine Jahreszahl geschrieben. Handschrift eines Deutschen. In der Erstausgabe des Anti-Ödipus steht Heidi.

Die Einschreibungen sind mit Bleistift gemacht. Die thailändische Antiquarin hat ebenfalls mit Bleistift an der üblichen Stelle einen Preis festgeschrieben. Wozu die Einschreibungen und Datierungen Peter Gentes dienen sollten, bleibt unklar. Ob es Ex Librisae sind, Archiv-Vermerke, Autographen?

Die Katze der Antiquarin heißt, so erklärt diese auf Anfrage: «Föhj Eton». Hier hat er sich unmissverständlich verewigt.

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16.01.

Etliche Fußmassagen später war ich wieder in mich hineingewachsen dergestalt, dass ich mich auch geistig frei bewegen konnte.

Heute früh saß ich mit Blick auf die Blütenpracht des Cassia fistula am Schreibtisch und lauschte der Stimme von Dietmar Dath. Sein Audiossay zum 100. Geburtstag von Gilles Deleuze sollte mir auch zur Einstimmung dienen auf den bevorstehenden Besuch jener Gebrauchtbuchhandlung in Chiang Mai, in der, jemand hatte mir davon erzählt, die Bibliothek von Peter Gente zum Kauf in Einzelbänden angeboten wird. On verra.

Dath wiederum ließ in seinem erzählerischen Auftakt den Einfluss Achim Szepanskis nicht unerwähnt, erfreulicherweise. Gerade die komplexe Verdrahtetheit des Szepanskischen Wirkens mit der Arbeit Deleuzes — in Anbetracht der hiesigen Praxis des schöpferischen Umgang mit der Elektrik fühlte ich mich daran erinnert — blieb bislang vor allem auf jenen ominösen Brief von GD an AS reduziert, dessen Original ohne Kopie bei dem gleichwie ominösen Totalverlust des Force Inc.-Archives zu beklagen war.

Selbst Katzen zwingt man hier derzeit noch in T-Shirts und Hauskittel, weil für die von der Hitze Verwöhnten halt Winterzeit ist.

Gestern pompöse Neujahresfestlichkeiten am Ufer des Flusses — 2025 Year Of The Snake.

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