2025: GOSSIP GIRL
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de
15.03.
Im Wissenschaftskolleg landeten wir durch Schludrigkeit des Schlaks an einem Tisch mit lauter Biologen, die Mathias Énard, vielleicht für für diesen Abend nur, um sich geschart hatte. Es fiel mir, zu meiner eigenen Verblüffung, leicht, mit den Biologen ins Gespräch zu finden. Verdanks der Social Media ist man ja mittlerweile auch über einstmals abseitige Felder tragfähig informiert. Stichwort Tardigrada.
Im Anschluss: Geburtenkontrolle im Tierreich. Später länger mit ME zur Ratio von gelesenen und geschriebenen Seiten. Ich kenne in ganz Berlin, eventuell sogar im Land keinen schöneren Ort.
Anderntags dann mit den Ethnologen ans Nordkap von Weissensee, wo sich eine geradezu als chloroformiert zu bezeichnende Kultur des Ostdeutschen finden ließ. Inklusive eines sich als offen rechtsradikal vorstellenden Wirtes einer Kneipe, in der das für Berlin typische Süßbier «Porter» ausgeschänkt wurde.
In einem unweit davon besuchten Gasthaus, das komplett und mit einem irritierenden Hass auf alles erfüllten Detailwahn mit Memorabilia an die sogenannte Coronazeit dekoriert und beschriftet war, geriet man als Gast unter das Joch einer barsch und abschlägig sämtliche Wünsche bescheidenden Domina in himmelblauen Skinnyjeans. Heinz Bude hat sich in diesem Viertel ja sogar als Immobilienbesitzer niedergelassen. Wie hält er das aus?
Oder wie es in der Landesschau hieße: «Was treibt Sie an? Nehmen Sie uns doch ein Stück weit mit in ihre Welt. Malen Sie uns das Bild doch mit Farben aus. Wie fühlt sich das an?»
11.03.
Neue Schuhe aus Niketown. Wie überall geht es auch hier, in der Entwicklung reaktiver Schäume, nur noch weiter voran. Auch wenn das bei beinem letzten Kauf dort nicht mehr für möglich gehalten hatte: derart ausgereift wirkte das Material unter meinen Füßen dereinst auf mich.
Und jetzt/ aber doch.
Körpertechnik und Körpergedächtnis: beides gibt es in Wirklichkeit nicht. Es sind Erklärungen für einen Gefühlszustand der namenlos bleibt. Das autobiographische Bewusstsein ist bestenfalls risshaft. Wenn ich mich an etwas konkret erinnern kann, bewerte ich diese Erinnerung hoch und konstruiere dann aus vielen dieser Höhepunkte die Vergangenheit meiner Identität.
Ich weiß noch genau — stimmt im seltensten Fall. Mit das Schlimmste am Älterwerden dürfte sein, dass diese pointillistische Konstruktion insgesamt nur weiter ins Rutschen gerät, man aber nur weiter darauf beharrt.
Die Winterkleidung vakuumisiert und in den Keller verbracht «Im Frühling räumte ein jeder für sich seine leichteren Kleider in den gemeinsamen Schrank.» (Strauß).
Morgen Geburtstag des Vaters. Er hat ihn nicht mehr erlebt.
09.03.
Den Durchschlag des Belegformulars einer chemischen Reinigung in Köln, auf dem «Frl. Keun» die Entgegennahme eines Kleides aus Kunstseide quittiert wurde, gibt es wirklich. Ich habe ihn gesehen.
So wie das Foto von Hermann Lenz, wenige Wochen vor seinem Tod aufgenommen, da hing er wie von Fliehkraft in die Polsterung gedrückt auf einem Sofa. Womöglich ein Erbstück aus dem Elternhaus, aus dem die Schwester in vertrieben hat zur vorgerückten Stunde auf seines Lebens Uhr.
Man weiß so viel und immer auch zu wenig. Wie Helmut Kohl gesagt hat: Alles könnte genau so sein, könnte aber genauso gut auch ganz anders sein.
«Obwohl es ein bisschen sexual war, war es auch schön. Ich kann es nicht beschreiben. Er hat dann aber auch gesagt, dass er noch nie jemanden massiert hat, der so geflowt ist wie ich. Das hat mich so geheilt.»
Ihre Freundin hat ihr aufmerksam zugehört und kann nun, da die Erzählung offenbar ihr Ende gefunden hat, ihrerseits vom zurückliegenden Sonntagmorgen berichten, den sie, um ihr PMS zu besänftigen, im Berghain verbracht hat: «Nichts getrunken, nur gelächelt. Einfach losgelassen. Schön.»
«Schön.»
06.03.
Zwei Afrikaner in bunten Jacken und Sonnenbrillen entsteigen einer schwarzen Limousine mit diplomatischer Kennzeichnung und gehen, breit Kaugummi kauend der eine, auf das Verwaltungsgebäude der Wohnungsbaugenossenschaft zu. Warum interessiert mich das? Was an dieser Begebenheit, deren Augenzeuge ich im Vorübergehen zufällig geworden bin, fasziniert mich?
Unser Gehirn, las ich auf der Wissenschaftsseite, wurde im Laufe der Evolution nicht einfach hochskaliert von dem eines Nagetiers; es hat auch zusätzliche Fähigkeiten. Welche genau, bliebt vage, da man die Fähigkeiten der Maus nur im Grobstofflichen erforscht hat. Kann die Maus erzählen? Also sich selbst etwas? Besitzt sie ein autobiographisches Bewusstsein?
In den Altersnotizen von Hermann Lenz, die ich bei dem Antiquar in Halensee abholen durfte, steht im Faksimile der letzte Eintrag von seiner Hand: «In meinen autobiographischen Büchern habe ich die innere Sphäre neben der äußeren dargestellt.»
Kann die Maus vom «Nebendraußen» auf sich selbst schauen? Sich selbst in einen Zusammenhang bringen von innerer und äußerer Sphäre?
Ich hatte, bevor ich in dem Band mit den Alternotizen las, doch keine Ahnung, wie schlecht es Hermann Lenz zuletzt ergangen ist. Es gibt den erschütternden Bericht einer Begebenheit, da soll er im Garten spazierengehen, während seine Frau im Park ausschreiten geht. Er selbst ist da durch die Herzkrankheit schon zu geschwächt, um noch wirklich zu gehen. Nach einer Weile aber muss er feststellen, dass er sich ausgeschlossen hat. Mit schwindenden Kräften zieht er sich in einen Brennholzverschlag zurück und versucht in einem alten Sessel, eingehüllt in eine Decke, dort so lange zu überleben, bis seine Frau zurückgekehrt ist.
Aber in der Verlangsamung und Lähmung läuft das Gedankliche unbremsbar fort.
05.03.
Selbst Fehler können als fruchtbar sich erweisen. So lieferte mir ein Antiquar vom selben Autor ein anderes Werk als dasjenige, das ich bestellt hatte. Sie waren sich aber auch zum Verwechseln ähnlich, in der Sache wie in ihrer Form. Aber dieser Fehlsendung lag außerdem ein Katalog des Antiquariats bei, der außergewöhnlich schön war. Von seiner Gestaltung, vom Druck und nicht zuletzt von seinem darin beschriebenen Angebot. Also bot ich an, persönlich dort vorbeizugehen, um den Tausch vorzunehmen. Gestern war es endlich so weit.
Man, ich also, kann ja im Grunde und recht eigentlich bloß noch in Halensee leben. Alle anderen Teile der Stadt sind bald unmöglich geworden durch die von mir im vergangenen Jahrzehnt beschriebenen Entwicklungen, die für die Stadt vielleicht noch hinnehmbar sein mögen, stellenweise womöglich auch positiv, aber meine Bilanz schaut halt anders aus.
Die Existenz eines Händlers alter Bücher, der solche Kataloge seines aktuellen Angebots zusammenstellt, sie auf seine Kosten gestalten, drucken und an seine Kunden versenden läßt, ist ja undenkbar geworden für Berlin. In Hamburg, sogar in München könnte man sich so etwas vorstellen. Beim Sterben des letzten ernstzunehmenden Antiquariats von Hannover, vor gut zwanzig Jahren, war ich ja live dabei.
Bleibt, wie für die besonderen Restaurants, noch die Hoffnung auf die Chancen der Provinz. In Halensee jedenfalls fand ich das Antiquariat auf der Etage vor. Es gab auch kein Schild. In einer jener alten Wohnungen, die einem, also mir, mit in zeitgenössischen Milieus geschultem Blick als gigantisch erscheinen müssen. Aber sämtliche Räume mit Regalen verstellt. Bei Stifter hießen sie ja prophetischerweise noch Gestelle. Kaum dass die Pflanzen atmen konnten. Die säuberliche Darstellung der alten Bände in dem schönen Katalog hat natürlich einen wesentlichen Vorteil vor dem in der Wirklichkeit wuchernden Archiv.
In dem Haus hat er noch Zugriff auf weitere Wohnungen, in denen er Bücher lagert. Da, wo wir standen, um den Tausch zu vollziehen, war lediglich sein Handapparat.
Das Buch, um das es mir ging, ist aber sehr gut. Übermorgen schickt er seinen neuen Katalog.