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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

19.03.

Nachts, um 04:01 zeigte die Uhr an, war ich aufgewacht, geweckt vom Rufen der Gänse, die über unser Haus hinweg zogen. Minutenlang.

Wie ungerührt sich dieses Rad des tierischen Lebens, das Vogeljahr, immer wieder von neuem abwickelt — gleich was uns bewegt, was uns geschieht. Und wie herausgerissen aus diesem Zusammenhang mir die Katze unserer Nachbarinnen erscheint, ein Kater, wobei das für die Betrachtung seiner Existenz nur eine nachgeordnete Rolle spielt.

Als Haustier lebt er vor allem auf die Menschen bezogen. Nur wenn ich ihn mit dem Flederwisch hartnäckig locke, bricht für die Minuten des Spiels ein von Instinkten beherrschtes Wesen heraus und gibt sich dann auf das Kämpfen und Jagen konzentriert dem Adrenalinrausch hin.

Und als ob die Wirkung einer Droge verebbt, wacht er dann nach dem Spielen wieder auf, vielleicht ist das Gefühl für ihn auch andersherum, um wie zuvor zahme Katze zu sein. Kastrierter Kater. Ein Haustier. Bis ihn die tiefer kodierten Reize, das Flattern und Zucken, abermals locken.

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18.03.

Vor Jahren, womöglich noch vor dem ersten dieser Tagebücher, erzählte ich Friederike am Telefon von einem Film aus Frankreich, der damals in den Kinos gespielt wurde. Aus irgendeinem Grund haben wir ihn damals «in der Zeit» nie geschaut.

Gestern dann — endelijk, endelijk —: Die Winzlinge—Operation Zuckerdose. Ein fulminanter Filmgenuss!

Moebius gewidmet, ist es halt nicht bloss ein Augenschmaus, obwohl die Handlung sich unter den Insekten in einem waldigen Tal zur Sommerszeit abspielt, auch haben die Winzlinge keine vermenschlichten Stimmen, dafür ist es ein Film der Gesten, des Deutens, des Betrillerns und Morsens.

Allenfalls geben sie Geräusche aus ungefähr jenem Spektrum von sich, das Kafka für das Sounddesign Gregor Samsas nach seiner Verwandlung vorgeschwebt sein wird. Alles brummt, sirrt, zirpt und fiept (der in den ersten Minuten bei einer Kollision demolierte Marienkäfer bemüht ein automomorph blechernes Tröten).

Den militärischen Konflikt um den Raub der Zuckerdose samt der im Titel angekündigten «Operation» nimmt man heute freilich anders wahr. Gegen die im Stile Antoni Gaudís erbaute Burg der friedliebenden schwarzen Ameisen fluten die grimmig fluchenden roten in Überzahl an. Schrecken auch vor dem Einsatz eines Insekten vernichtenden Sprays nicht zurück (auch in Entenhausen wird Sonntags Entenbraten aufgetischt). Um diesen Angriff abzuwehren benötigen die Schwarzen umbedingt ein paar Streichhölzer, um die im Inneren ihres Friedensturmes lagernden Restbestände einiger von Menschenhand gefertigter Silvesterraketen gegen die Roten einsetzen zu können.

Am Ende wird es der Winzling Nummer Eins, der Käfer, gewesen sein, der die Zündhilfe anträgt. Aber zuvor muss ihm, dass können halt bloß Insekten, der fehlende zweite Flügel nachwachsen, der ihm bei der Kollision, lang war es her, ausgerissen ward.

Es gibt mittlerweile noch einen weiteren Teil, der in der Karibik spielt. Vielleicht ja schon bald.

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12.03.

Die festangestellten Mitarbeiter der StaSi, das erfuhr ich in Leipzig aus erster Hand, ließen sich an ihren eng geschnittenen Lederjacken erkennen.

Mittlerweilen ist das kaum noch vorstellbar — Wer trägt denn bitteschön noch Lederjacken — aber zu jener Zeit in den späten siebziger, den frühen bis mittleren achtziger Jahren, konnte eine Lederjacke durchaus zum Statussymbol gemacht werden. Die knarrende Drohung.

Dabei fiel mir freilich, an jenem Tisch im Reinhard Tempel, unter dem malerischen Licht tief gehängter Lampen, abermals der Doge von Moabit ein, der, als ein betont modisch gekleideter Mann, auch vor eng sitzenden Lederjacken nicht zurückschreckte. Nun aber, im tiefer gehängten Lichte der Erzählung an jenem Abend erkannte ich seinen Fimmel als einen der Mode übergeordneten: Quasi ergriffen von einer höheren Pflicht.

Und ebenso abermals träumte ich vor mich hin, ob ein längerer Text, eine Erzählung dieser im Lichte des Tages ja tatsächlich unglaublichen Zeit mit oder unter dem Dogen, an seiner Seite, es nicht Wert sein könnte Punktpunktpunkt.

Wer zu lange, oder gar immer bloß fackelt, dem glaubt man am Ende halt doch. Oder wie?

Gestern dann auf dem Geburtstag von Bastian in einer Kreuzberger Bar, die nur Weine von Winzerinnen auftischt. Unter anderem wurde ein Bildband über das historisch gewordene Nachtleben von Berlin verschenkt: «Bin ich drin ist die Frage», sagte Bastian. Aber klar doch. Wer nicht, ist die Frage: Wer nicht!

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11.03.

Abends bei Reinhard Tempel in Leipzig. Der mittlerweile dritte Besitzer hat den Gastraum jetzt optimal ausgebaut: Sisal ergießt sich selbst über die Treppenstufen. Und die neuen Stühle, Exemplare eines finnischen Klassikers, haben diese dunkelbunten Lasuren — Copyright Regentag Hundertwasser — die mich unmittelbar nicht etwa an einen, sondern an den Plainsong denken lassen…

Wir sprachen über meinen Besuch des Stasi-Museums am Weltfrauentag: Wie lächerlich einem, also mir, mittlerweile das in der Zeit noch garantiert als pompös empfundene Interior Design des Bureaus von Erich Mielke erscheinen muss: Stilistisch, von den Farben wie von dem Gefühl für Materialien her sind wir, als Bewohner der westlich-industriell geprägten Sphäre seitdem doch meilenweit fortgeschritten.

Liebe es übrigens, wie man, in bester DDR-Tradition, nur noch verquaster sich ausdrückt in seinen Versuchen, den aktuellen Zustand der kapitalistischen Verrottung nach Kräften präzise zu bezeichnen…

Und auf einem «Thanksgiving Dinner» in Westberlin, also einer Art Rosinenbomber Larping, wurde ich am Rande des zuckrigen Buffets doch tatsächlich des antidemokratischen Wesens geziehen — Dazu fiel mir freilich kaum etwas weiteres ein als Right On Sister!

Nun aber Mielke: Ich hätte mir doch sehr viel mehr Räume gewünscht, die, in ihrem Originalzustand belassen, zu betreten gewesen wären. Stattdessen Erklärtafeln, Erklärtafeln, Erklärtafeln, die das von Botho Strauß im Partikular geprägte «kopierte, kopierte, kopierte» zwar nachzuahmen wünschen, aber dennoch scheitern müssen, weil doch die Stasi selbst nur eine Kopie der Tscheka war — und sich selbst auch so sah.

Aber in diesen wie unberührt hergerichteten Räumen des Ministeriums Für Staatssicherheit stellt sich im Betrachter, also stellte sich in mir bald eine weihevolle Ruhe ein, die von ihrer Qualia her eine andere war als die im Museum von Arno Schmidt, das von seinem museumspädagogischen Konzept ja vergleichbar funktioniert, aber, weil ein genialer Museumsdesigner, Friedrich Forssmann, es eingerichtet hat, eben null belehrend wirkt, sondern bloß: eindrucksvoll.

Mielke aber, das führte eine dort auf dem Überwachungschefsekretärinnenschreibtisch aufbewahrte Karteikarte, die mit Schreibmaschine beschriftet worden war, vor Augen: legte Wert auf ein regelmäßig regelrecht zubereitetes und angeordnetes Frühstück aus Kaffee, Milch, Brot, Marmelade und Ei. Butter fehlte merkwürdigerweise. Beziehungsweise war sie von ihm selbst in der Kartographie unterschlagen worden.

Draußen schien die Sonne.

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07.03.

Innewohnen ist ein schönes Wort in unserer Sprache. Auf Reisen bin ich es selbst, der den Kulturen innewohnt.

Beispielsweise an jenem Ort, keinem Dorf, der nicht einmal einen Namen hatte. Kein Schild. Die nächste Ortschaft nannte sich «Red Light». Die Gegend war hoch in den Bergen hinter der Hauptstadt, Kingston, auf ungefähr 800 Metern über dem Spiegel des Meeres, das sich von dort oben aus auch blicken ließ zwischen den Wolken: glitzernd; ab und an.

Vor unserer Tür dort hing eine Pflanze, die ich zunächst für künstlich gehalten hatte: Strongylodon macrobotrys, wenn es regnete, es regnete oft, lagen wilde Mangofrüchte auf dem Weg, sie waren winzig und süß.

Einmal fing es zu regnen an, kaum dass wir los gewandert waren nach Red Light — Dornbracht-Feeling über Stunden. Im Tal, wo wir einer handlangen Schnecke begegnet waren, stieg einer aus seinem Führerhaus aus, um uns eine Moskito-Salbe zu bringen.

Die Abende verbrachten wir in einer Berg-Kneipe, die sich «Reddy’s Hot Spot» nannte. Dort saßen meistens Greise unter dem Vordach, ins Domino-Spielen vertieft. Die Steine hauten sie auf den wackeligen Tisch, uns fiel besonders die Bemalung der Außenwand auf, wo allerlei Frauenfantasien festgehalten waren.

Eines Abends rückten dort mit einem Mal junge Männer aus Kingston ein. Einer hatte sogar eine Vorrichtung mitgebracht, um ruckelfrei filmen zu können. Gedreht wurde ein Clip für YK Kastro, eventuelle auch bloß für Chronic Law — wer weiß das schon genau.

Getränk der Stunde war Rum, overproof, gemischt mit «Boom», einem einheimischen Energy Drink. Und nicht bloß deshalb: neue, zartfließende Töne…

Es gibt einen interessanten Aufsatz von Isis Semaj-Hall über diese neue Musikrichtung des «Emotional Dancehall», die sich wohl auf die recht jung verstorbenen Künstler XXXTentacion und Juice WRLD bezieht.

Überall sonst ist es interessanter als bei Dir daheim, leider

Reddy’s Hot Spot war übrigens ein Schnellkochtopf, der in den fünfziger Jahren auf Jamaika vertrieben wurde.

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