2025: GOSSIP GIRL
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de
30.06.
Gibt ja einige, zumindest haben sie mir es berichtet, immer wieder, die glauben, dass es der hohe Anteil von Sand ist im Boden, auf dem Berlin erbaut wurde, der ihnen die Energie absaugt, um konzentriert arbeiten zu können. Und auch ich habe nun dort, wo, wie ich beim Kartoffelkauf feststellen konnte, die Erde schwer und dunkel, zugleich sandig ist, eine andere Form des Arbeitens für mich entdecken dürfen. Zu einem Teil wird das wohl an dem Boden liegen, auf dem das Kloster vor 900 Jahren erbaut ward; der schwere dunkle Sand spirituell aufgeladen; vor allem aber bringt die Alleinsamkeit den Durchbruch. Im Gewölbe, wo es Schokolade gab, hatten etliche vor mir Virginia Woolf beschwört.
Vor einem Laden am Gendarmenmarkt, der Planet Wein heißt, steht eine Frau mit Titus Cut, deren tübinger Zungenschlag sich schon beinahe abgeschliffen hat über die Jahre. Am Telefon versucht sie Gäste zur Teilnahme an ihrem Tasting zu motivieren «Und ja, genau, es gibt ein geiles Brot. Und einen geilen Butter…»
Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof fielen uns die grotesken Oberarme auf an einem, der den Friedhof als Abkürzung zu nutzen versteht auf seinem Heimweg vom Gym. Abermals dachte ich an jenen Vormittag, ca 1999 in der Kardinal-Faulhaber-Straße zu München, als eine komplette Lieferung der Kollektion zurückgeschickt werden musste, da sie, aufgrund eines Versehens, aus für den US-Markt geschneiderten Teilen bestanden hatte.
Niemand, zumindest keiner, den ich kannte, passte in die überdimensionierten Kleidungsstücke hinein.
28.06.
Nach drei zeitungslosen Wochen fällt mir der Wiedereintritt in die sprachliche Atmosphäre der F.A.Z. unerwartet schwer. Vor allem der Sound, einst vertraut, scheint mich nun nichts anzugehen. Noch, wie ich hoffen will. Wie eine belanglose Single nach langer Wartezeit. So das neue Album von Pulp ungefähr.
Mein Zimmer in Refugium war nicht klein, aber es war halt nur eins und seitdem ich wieder daheim bin, sehe ich Phantombilder, sobald ich etwas lese (ob im Buch, im Blatt oder vom Schirm): Im Augenwinkel nehme ich in der Tiefe des Raumes eine Katze wahr, die sich mir nähert. Keine optische Täuschung. Überlagerung eines Aspekts meiner Erinnerung an die gemeinsam mit ihr verbrachte Zeit, der sich an die fortgeführte Tätigkeit von dort geheftet hat wie eine getrocknete Blüte von der Klosterwiese, die noch immer zwischen den Seiten liegt.
26.06.
Ich schuldete der Katze mehr, als ich ihr jemals auch nur, ansatzweise wie es heißt, zurückgeben würde können. Denn was ich von ihr erhielt, bekam ich in Worten mitgeteilt. Und Worte wiederum bedeuteten ihr nichts. Zwar glaubt man mittlerweile herausgefunden zu haben, dass Katzen die Stimme ihrer Bezugspersonen von denen der übrigen Menschheit unterscheiden können (wenn sie wollten). Aber selbst diese Erkenntnis der Verhaltensforschung an Katzen ist ja letzten Endes noch spekulativ, da der Vorgang des Erkennens, auch des Wiedererkennens, bei Katzen über eine Kombination verschiedener Sinneswahrnehmungen gesteuert wird, die schließlich zur Verifikation der Bezugspersonen führt.
Wie also könnte ich die durch die reine Gegenwart ihres Wesens inspirierten Worte ummünzen in eine für sie wertvolle Währung?
Liebe geht durch den Magen. Ich kaufte von da an mehrmals in der Woche einen scharfkantig geformten Karton eines aus Finnland importierten Katzenfutters und gab ihr davon immer so viel, bis sie sich mir gegenüber zufrieden zeigte. Das erkannte ich daran, dass sie dann von ihrem Schälchen am Fenster auf das Bett in meiner Klause sprang, um sich dort auf dem blauen Überwurf zum Schlafen hinzulegen.
Eine Freundin von mir hat mal von einem Flug mit, glaube von ich: Quatar, ein Schild mitgebracht, das man sich als Passagier um den Hals hängen konnte «Wake me up for meals».
So verbrachten wir die drei Wochen.
14.06.
Die Muse ist real. Hier kamm sie zu mir in der Verkörperung dieser Katze, die mir gestern ein Geschenk brachte; es mir wirklich darbrachte, zu meinen Füßen. Ich bedankte mich bei ihr und ich hatte das Gefühl, das wusste sie zu schätzen. Wenn ich mich hinlege, um zu schlafen, hält sie die Wacht, bis ich eingeschlafen bin. Dann schwärmt sie aus in den großen Garten, um nach neuen Geschenken zu suchen. Als ich heute früh erwachte, war sie wieder da und hielt die Wacht, bis ich mein Frühstück mit ihr teilte. Es fällt mir zu schwer, in Anbetracht dieser Ereignisse nicht von einem übernatürlichen Geschehen auszugehen. Aber das liegt vermutlich allein an der Natur der natürlichen derzeit. Und außerdem ist das Schreiben mir heilig.