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2025: GOSSIP GIRL

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de

02.03.

Irgendwann kommt selbst beim Kartoffelnschneiden ein Moment der Geübtheit, von dem an man sich bei dieser Tätigkeit selbst noch unterhalten will; indem man «interessante» Formen schneidet. Ein entlernen oder -üben ist schwer möglich. Es sei denn, man legt eine längere Pause ein.

Darum ging es womöglich auch in dem Text von Hito Steyrl in der Sonntagszeitung, den ich freilich nicht gelesen habe, weil ich seit längerem schon das Feuilleton in dieser Zeitung nicht mehr lese. Aus Protest. Wobei die Sonntagsfeuilletonisten das nicht einmal mit geübtester Körpertechnik werden registrieren können. Dafür aber ich.

Das Entlernen, Mike Meiré nannte es Dekonditionalisieren, ist eine wesentliche Technik in der Kunst. Wer sie zur Prokrastination verniedlicht, hat keine Ahnung und sollte die Finger lassen von Kartoffeln.

Irgendwann nämlich fühlt man es: Ich bin wieder so weit: Anzufangen.

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28.02.

Tagelang, teils auch während der Nacht, hatte ich mich auf der Suche befunden nach etwas Schönem; nach einem Anblick des Glücks.

Heute früh «aber dann», um kurz nach sieben Uhr, die Sonne war vor kurzem erst aufgegangen über dem Rollfeld des Flughafens von Zürich, meinte ich ein Gezwitscher von Vögeln vernommen zu haben. Hier, in der Abflughalle. Unweit des Verkaufsstandes der Confiserie Sprüngli, an dem eine uniformierte Dame, tout en chocolat, sich damit beschäftigt hielt, die scharfkantig verpackten Pralinen und Luxemburgerli genannten Macarons noch etwas akurater auszurichten im Regal.

Ich hörte genauer hin. Eine, wie ich von Christian Metz weiß, Körpertechnik. Die ich beherrsche. Und offenbar drang dieses Gezwitscher, das ich nun vermittels einer weiteren Körpertechnik aus dem nicht allzu vordringlichen Umgebungsgeräusch isoliert hatte, aus einem der Bäume, die ich bislang — all die Jahre! — für synthetisch gehalten hatte.

Doch auch in synthetischen Bäumen zwitschern die Spatzen, oder nicht.

Diese hier zumindest, in diesem von mir aufgespürten Szenario, waren organisch, echt. Sie hüpften spatzenhaft in der Krone des kleinen Indoorbaumes umher. Minding their business.

Man hat das ja öfter, vor allem in südlicheren Gefilden, dass Tauben und Spatzen sich in den Hallen der sich verlierenden Schritte aufhalten. Aber dann oft im verzweigten Gebälk der Unterkonstruktion der weiten Dächer.

Die Spatzen im Baum unter dem weiten Dach mit Ausblick auf das Rollfeld bildeten eine ganze Welt. World of Spatzen. Wie von Giorgio Agamben beschrieben: Weltarmut des Tieres, Weltlosigkeit des Steins.

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24.02.

Aufgewacht in einem anderen Bundesland. Kurz nach fünf. Es war sehr still. Bis auf den Wind, der nicht mehr kalt war. In der Dunkelheit, durch die ich zum Bahnhof ging, wurden Vogelstimmen laut. Rotkehlchen, Amsel, Meise.

Mir tun die Menschen leid, die nur ein grobes Konzept von diesen Tieren kennen. Für die das alles Vögel sind. Die Lieder singen. An einer Straßenkreuzung leuchtete der Verkaufsraum einer Bäckerei. Die Tür stand geöffnet. Den Brotkrustenduft hatte ich von weitem vernommen. Noch bevor ich das Licht sah.

Kein Zeitungsladen hatte um diese Zeit schon geöffnet. Ich spürte eine Art Heimweh. Woher, das fand ich schlecht zu bestimmen. Nach Chiang Mai vielleicht.

Von einer Leuchttafel las ich ab, dass der Papst mittlerweile noch Nierenversagen erdulden muss «Betet für mich».

Als ich über den heimischen Gehweg dem Heime entgegenstrebte, schien schon die Sonne. Und halb im Schatten lag auf dem Asphalt ein Ei. Beziehungsweise sein Inhalt. Ohne Schale.

In zehn Monaten ist Weihnachten.

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22.02.

Der Temperatursprung fand, wie von Siri angekündigt, zwischen Mittag und 15 Uhr statt. Ein Naturereignis, das mir, vermutlich, weil es sich an der Temperatur erweisen sollte, wie von überirdischer Hand geregelt erschien.

Im Abendlicht ein Vogel, irgendwo über und hinter mir, der silbrig aufjubelte. Auch nachdem ich mich umgewandt hatte, ließ er sich nicht blicken. Reflexhaft mein Gedanke, es handele sich um eine synthetisch erzeugte Vogelstimme. So sehr war ich ihnen entwöhnt.

Schnee von gestern ist ein Triptychon, ein Buch im
Buch, dessen Umschlagseiten sich ähnlich sind. Sie fassen einen Mitteltext, der verwirrt, vor allem, weil er selbst ganz wirr auftritt, sich weder bändigen lässt noch sich selbst wieder einkriegt, vollends. Aber die beiden ihn rahmenden Flügel schlagen den vertrauten Ton an, es leuchten vertraute Motive auf, bevor es dann für längere Zeit dunkel wird.

Es ist das Zerfallen der Persönlichkeit im Alter, das Peter Handke hier zur Sprache bringt. Was Ernst Jünger mit über hundert Jahren im fünften Band der Tagebücher lapidar einträgt als «Bin nicht mehr ganz da.»

Lorenz Jäger hat damals in Frankfurt einen ähnlichen Teil aus Heideggers Gedanken vorgetragen. Radiostimmen, Erinnertes, Gedachtes überschneiden sich, unterbrechen einander. Das sortierende Ich kommt nicht immer mit.

Sprache als immer weicher werdendes, bei Zimmertemperatur schmelzendes Instrument. Schließlich Sumpf.

Wir haben die Kontrolle nicht.

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20.02.

Mitgefühl mit dem Papst. Zunächst dachte, ich, dieses Gefühl fühlend, es wäre meinem Erleben entsprungen. In Erinnerung an die schwere Krankheit am Jahresanfang 2024. Dass ich seitdem niemandem wünsche, eine schwere Atemwegserkrankung erleiden zu müssen. Schon gar nicht dem Papst.

Heute früh aber konnte ich noch tiefer an den Ursprung meines Mitgefühls dringen. Schon in der Tageschau hatten sie ein Fenster an der Krankenhausfassade ins Bild gesetzt — irgendeins? Seins! Unter einer beinahe gänzlich heruntergelassenen Jalousie, abendblau, war dort ein letzter Streifen Licht aus dem Rauminneren zu erkennen gewesen. In der Zeitung dann eine andere Perspektive auf den Innenhof des Krankenhauses. Am Himmel darüber spannt sich ein Regenbogen: «Der Papst ist schwer krank.»

Das Sterben des Mannes hinter der Jalousie wird zum Kontinuum. Sein Sterbelager überwölbt all die anderen, die zunehmend unfassbaren Ereignisse und Vorgänge in der Welt. «Urplötzlich» hatte ich das Gefühl, dass die vor der Gleichzeitigkeit der Ereignisse wie gestaute Zeit, die mich bedrückt, erst dann wieder in ihren Fluss kommen kann, wenn dieser greise Streifen Licht unter der abendblauen Jalousie verlöscht.

As I lay dying. Flötenmelodie

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