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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

23.03.

Gestern — oder sollte ich hier vielleicht doch jestern schreiben? am Jahrestag der Pandemie: Ausflug nach Luckenwalde.

Mir war, vor allem auf Tik Tok, eine ältere Sendung in Erinnerung gerufen worden, in der Frank Rosin dort ein Waldgasthaus heimgesucht hat, um der mir irgendwie sympathisch scheinenden Wirtin die Leviten zu lesen.

Nach angenehmer Fahrt im Regionalexpress führte die Wanderung über den Luckenwalder Skatewanderpfad in den Wald. Auffallend viele Tore und Pforten, die, übermannshoch und an den Oberkanten noch mit Zacken oder Stacheln bewehrt, den fremden Blick in die größtenteils von Schrottimmobilien bestandenen Grundstücke verhindern sollen. Der desolate Zustand der Gebäudemasse steht freilich in einem krassen Gegensatz zu den akurat geteerten Straßen und einer astrein gefliesten Fußgängerzone.

Im Hinterhof eines Trockenbauers war eine piratendunkle Flagge aufgezogen mit der Aufschrift «Lieber im Stehen sterben als im Knien zu leben». Der Waldgasthof, mittlerweile in Waldidyll umbenannt, hatte geschlossen.

Hannah Goldfield hat jüngst im New Yorker von dem Phänomen berichtet, dass Restaurants jetzt vermehrt auf eine Form des Social Clubs setzten, die ja auch bei der deutschen Ganja-Legalisierung eine tragende Rolle spielen sollen: Solche Restaurants der neuen Art sind nur noch theoretisch öffentlich, im Grunde muss man ein informelles Mitglied deren Gästeschaft werden, das läuft über Bürgschaften, wie man es hierzulande vor allem von den Golfvereinen her kennt, und man entrichtet einen gewissen Vorschuss auf die zu verzehrenden Mahlzeiten in Form eines informellen Jahresbeitrages im Voraus.

Ob aber das Waldidyll im Elsthal zu Luckenwalde seit kurzem als solch ein Social Club firmiert, konnten wir im weiteren Verlauf des Tages nicht mehr erruieren. Interessant war dann aber doch noch eine Plakette an einer Fassade, die darauf hinzuweisen helfen sollte, dass dort, im einem Gebäude, das früher noch an dieser Stelle gestanden hatte, die SPD gegründet worden war. Mittlerweile befand sich dort ein sogenanntes Job Center der Agentur für Arbeit. Es war riesengroß. Beinahe größer als Luckenwalde selbst.

Mittagstisch in «Steffens Kantine»: Backfisch, Rahmgemüse, Reibekuchen mit Apfelbrei. Durabel.

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22.03.

Gestern, als ich noch etwas jünger war als heute, trat ich nach einer Regenzeit am Vormittag auf die Straße und in dem Moment war auch die Sonne nicht von einem Wolkenstück verdeckt: ihr Licht erfüllte den Kanal der Straße und an jedem Baum, an jedem Zweig, an jedem Ende dieser schwarz verästelten Mannigfaltigkeit funkelten in diesem Licht die Wassertropfen. Jeweils eine. Wie eigens dort aufgehängt.

Für den Moment.

Für mich?

Es war doch, weit und breit, kein anderer zu sehen.

Bloß Sisyphos, im gelben, rot bedruckten Kleide, stand mit seinem Packen vor der Tür dort hinten. Den Finger noch immer am Klingelschild.

Wie eingefroren in meinem Blick

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20.03.

Ärzte sind die neuen Matratzen.

Gestern betrat ich im Rahmen dieser Quest, die ich mir tatsächlich als Betandteil eines Video Games einrede, die Praxis einer Frau hier in der Umgebung. Und schon zu Beginn ihrer Sprechzeit hatte ich das Gefühl, wider Willen zur Komparserie eines alten Defa-Movies rekrutiert worden zu sein.

Alte, wirklich gebrechlich gewordene Mitmenschen versuchten, teils auch erfolgreich, das mit Solidor oder ähnlichem gebeizte Treppenhaus zu stürmen, in dem sie ihre Rollatoren hart am die scharfen Kanten der Stufen setzten. Einen Aufzug, keine Ahnung, wie der in der DDR genannt wurde, gab es nicht.

Im langen Flur der Praxis waren etliche Türen, diese in ganz Berlin klassischen, hohen Altbautüren zu sehen, deren Innenseite jeweils recht grob aber sorgfältig mit bräunlichem Kunstleder auf schalldicht bespannt worden war. Mit goldfarbenen Nägeln, Roman.

Die durch diese Zimmer tatsächlich flüchtende Ärztin rief «Oh, jetzt wird es aber allmählich zu voll» — dabei hatte ihre Sprechstunde noch nicht begonnen.

Und in Kingston saßen wir eines Nachmittages mit einem Veteranen zusammen, der uns von den Anfangstagen des jamaikanischen Radios erzählte: Ursprünglich gab es dort keine Sender, sondern Speaker Boxes, die mit Kabeln von den Studios bis in die hintersten Winkel der Insel verbunden waren. Man konnte die Kanäle nicht wechseln, es gab nur einen einzigen. Den man anschalten konnte oder -aus.

In dieser Arztpraxis jedenfalls musste ich unwillkürlich an Angela Merkel denken und an diesen von mir als unerträglich enpfundenen Jargon des Tja.

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19.03.

Nachts, um 04:01 zeigte die Uhr an, war ich aufgewacht, geweckt vom Rufen der Gänse, die über unser Haus hinweg zogen. Minutenlang.

Wie ungerührt sich dieses Rad des tierischen Lebens, das Vogeljahr, immer wieder von neuem abwickelt — gleich was uns bewegt, was uns geschieht. Und wie herausgerissen aus diesem Zusammenhang mir die Katze unserer Nachbarinnen erscheint, ein Kater, wobei das für die Betrachtung seiner Existenz nur eine nachgeordnete Rolle spielt.

Als Haustier lebt er vor allem auf die Menschen bezogen. Nur wenn ich ihn mit dem Flederwisch hartnäckig locke, bricht für die Minuten des Spiels ein von Instinkten beherrschtes Wesen heraus und gibt sich dann auf das Kämpfen und Jagen konzentriert dem Adrenalinrausch hin.

Und als ob die Wirkung einer Droge verebbt, wacht er dann nach dem Spielen wieder auf, vielleicht ist das Gefühl für ihn auch andersherum, um wie zuvor zahme Katze zu sein. Kastrierter Kater. Ein Haustier. Bis ihn die tiefer kodierten Reize, das Flattern und Zucken, abermals locken.

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18.03.

Vor Jahren, womöglich noch vor dem ersten dieser Tagebücher, erzählte ich Friederike am Telefon von einem Film aus Frankreich, der damals in den Kinos gespielt wurde. Aus irgendeinem Grund haben wir ihn damals «in der Zeit» nie geschaut.

Gestern dann — endelijk, endelijk —: Die Winzlinge—Operation Zuckerdose. Ein fulminanter Filmgenuss!

Moebius gewidmet, ist es halt nicht bloss ein Augenschmaus, obwohl die Handlung sich unter den Insekten in einem waldigen Tal zur Sommerszeit abspielt, auch haben die Winzlinge keine vermenschlichten Stimmen, dafür ist es ein Film der Gesten, des Deutens, des Betrillerns und Morsens.

Allenfalls geben sie Geräusche aus ungefähr jenem Spektrum von sich, das Kafka für das Sounddesign Gregor Samsas nach seiner Verwandlung vorgeschwebt sein wird. Alles brummt, sirrt, zirpt und fiept (der in den ersten Minuten bei einer Kollision demolierte Marienkäfer bemüht ein automomorph blechernes Tröten).

Den militärischen Konflikt um den Raub der Zuckerdose samt der im Titel angekündigten «Operation» nimmt man heute freilich anders wahr. Gegen die im Stile Antoni Gaudís erbaute Burg der friedliebenden schwarzen Ameisen fluten die grimmig fluchenden roten in Überzahl an. Schrecken auch vor dem Einsatz eines Insekten vernichtenden Sprays nicht zurück (auch in Entenhausen wird Sonntags Entenbraten aufgetischt). Um diesen Angriff abzuwehren benötigen die Schwarzen umbedingt ein paar Streichhölzer, um die im Inneren ihres Friedensturmes lagernden Restbestände einiger von Menschenhand gefertigter Silvesterraketen gegen die Roten einsetzen zu können.

Am Ende wird es der Winzling Nummer Eins, der Käfer, gewesen sein, der die Zündhilfe anträgt. Aber zuvor muss ihm, dass können halt bloß Insekten, der fehlende zweite Flügel nachwachsen, der ihm bei der Kollision, lang war es her, ausgerissen ward.

Es gibt mittlerweile noch einen weiteren Teil, der in der Karibik spielt. Vielleicht ja schon bald.

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