2021:
SCHÄUMENDE
TAGE
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de
30.6.
In den vergangenen Tagen war es unerträglich schwül geworden. Zudem hatte sich die Lindenblüte ihrem Höhepunkt genähert. Eine beinahe toxisch zu nennende Mischung aus Stickigkeit und süßen Düften, die alljährlich die Tage um Siebenschläfer markiert.
Gestern noch hatte ich unter unter eben einer dieser Lindenbäume gesessen mit einem Mann namens Fu. Und er, der von Beruf ein Saftpresser ist, hatte mir vom Wissen seiner Großeltern in Vietnam erzählt. Die hatten das Wasser aus dem Inneren der Kokosnüsse einst den Verwundeten als Infusion in den Blutkreislauf geleitet. Das Innere der Kokosnuss und das Immunsystem des Menschen verstehen sich offenbar gut.
Von diesem Lindenbaum in Berlin, unter dessen Duftglocke mir diese Geschichte erzählt worden war, ließ sich ein Duftbogen spannen bis zum vergangenen Sonntag, als wir in Leipzig nach dem Kajakfahren auf der Weißen Elster in einem wuchernden Garten saßen. Wo Rebecca, die Krankenschwester ist von Beruf, mir eine Geschichte aus ihrer jüngsten Vergangenheit erzählte.
Die hatte sich in den ersten Wochen der Pandemie begeben, als in der Universitätsklinik noch keine Atemschutzmasken der FFP-Klasse zur Verfügung gestellt werden konnten und pro Mitglied des Pflegepersonals lediglich eine Papier-Maske pro Arbeitstag. Am Abend wurde ein junger Mann eingeliefert. Ein Drogenabhängiger, ganz offensichtlich, aber der Grund für seinen schlechten Zustand akut blieb unergründlich. Aufgrund seines jahrelangen Abususes war es den Professionellen unmöglich, ihm auch nur ein Quentchen Blut abzuzapfen. Nicht aus seinen Armen, nicht aus den Beinen, auch nicht aus dem Hals.
Rebecca meinte, diesem Mann auch ohne Blutuntersuchung angesehen zu haben, dass es mit ihm zu Ende ging. Irgendwann sagte der Todgeweihte, der noch keine dreißig Jahre alt war, dass er der Versuche müde sei und auf seine Diagnose verzichten will. Demnach aber auch auf seine Therapie. Die Intensivstation war zu dieser Zeit schon belegt. Man versuchte ihm klarzumachen, dass es wahrscheinlich war, dass er den Morgen nicht mehr erleben würde.
Rebecca fand ihn in den Nachtstunden auf der Toilette seines Mehrbettzimmers. Er hatte sich den Harnkatheder selbst herausgezogen, um dort, in der fensterlosen Zelle eine Zigarette zu rauchen. Noch davor war er von den anderen Patienten unbemerkt zusammengebrochen und verstorben. Allein.
Heute regnet es schon den ganzen Tag. Die meiste Zeit über lag ich neben der geöffneten Tür zum Balkon, wo es toste und rauschte. Wie eine Pflanze nahm ich die neue Kühle und die Feuchtigkeit in mich auf. Zumindest im Geiste. Was ja so oder so das Wesentliche ist.
25.6
Ich weiß, ich kann mich täuschen, aber
Die jungen Männer mit den Bärten und den
Fussballerfrisuren
Waren die nicht neulich noch in meinem Testzentrum beschäftigt?
Jetzt stehen sie am Bahnhof
Ein anderes Zelt, die Wüstensöhne
Es geht um Spenden für die Welthungerhilfe
Die Straßenbahn zerteilt das Bild als Ladebalken
Sie ist hellblau lackiert
Zur Feier des Tages
Aldi akzeptiert jetzt American Express
Ich könnte mich erinnern, ich kann
Ich werde 50>
Fünfzig Prozent
Die Hälfte, sicherlich.
Das Barometer
Metronom meiner Tage
Bleiches Sonnenlicht.
24.6.
Der warme Regen emulgiert mit dem Blütenstaub der Linden zu einer rutschigen Angelegenheit. Ich habe heute früh erst wieder an das Atoll gedacht.
Wie das wohl ist, habe ich gedacht, wenn die Heimat wie ein Rand ist. Man wohnt dort doch wie auf eines Eimers Scheide (der zudem bis zu seinem Kragen im Wasser steht). Und ich weiß nicht, was ich anziehender finde: die Ringförmigkeit dieser Welt oder ihre Einbettung ins Blau.
C.M.E.J.
Wenn Regen tatsächlich blau vom grauen Himmel fiele, wie Kinder es malen, würden alle sich (noch mehr) über Regen freuen.
Selbst die Blinden.>
Die dann angesichts der sich am Blau freuenden Sehenden. Obwohl er schon länger verstorben ist, kann ich seine geheimen Namen noch immer auswendig hersagen: Regentag Dunkelbunt.
Call Me Emre Jogi
21.6.
Derzeit liegt, wenn ich des Morgens früh auf die Straße trete, ein langes Brausen in der Luft. So lang wie die Straße selbst, auf der um diese Zeit noch niemand fährt.
In den Bäumen über mir sind dann, für mein Auge suchend unsichtbar, unzählig viele Bienen längst am Werk. Ich kann sie hören. Bienenfleißig, wie es heißt.
Zeit der Lindenblüte, Time to bring home the bacon.
Einmal im Leben, einmal im Jahr.
Ist Fleiß, hat Arno Schmidt als letzten Satz in seinem Arbeitsleben geschrieben «für Menschen & Bienen eine einfache (Lebens)Notwendigkeit?»