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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

11.6.

Als ich mich gestern in der Kunst des Aus-dem-Fenster-schauens übte, fiel mir nach einer geraumen Zeit auf, dass ungefähr einmal pro Stunde, teils auch öfter, eine Frau mit einem Cellokoffer auf dem Rücken vorüberradelte.

Es waren alles verschiedene Frauen. Man vergisst ja auch nach Jahren in Berlin, dass diese Stadt nicht nur die Stadt von Watergate und Berghain ist, sondern auch anderswie eine Hauptstadt der Musik.

Gödel schreibt in seinem Tagebuch von der «Beschäftigung mit Theologie» als Dangling carrot für seine Unlust, Mathematik zu betreiben.

Ich habe gestern die Eleganz der frühen Style Council wiederentdeckt. Paul Weller schaut auf den aktuellen Bildern aus wie Franz Josef Hell.

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9.6.

Glaube, mittlerweile Test-süchtig geworden zu sein. Ähnlich wie vor bald 21 Jahren, als ich Prophylaxe-süchtig wurde, weil der Zahnarzt in Bogenhausen eine karohemdentragende Fachkraft mit Kurzhaarfrisur und kanadischem Diplom eingestellt hatte.

Mein Geheimtipp für Tests (in Berlin) ist die Praxis an der Kastanienallee, Ecke Oderberger Straße, im hinteren Teil der singapuriensischen Cocktailbar, die ich schon vor Corona für zweifelhaft befunden hatte, ohne jemals dort gewesen zu sein.

Jetzt ist die rechte Zeit dazu.

Und für das Nachdenken über die Schattenfarben. Nicht jeder Baum kann einen gleich dunklen werfen; das hängt von seinen Blattgrößen, auch Blattformen ab.

Ich bleibe ein Freund der Platanen. Das Sonnenlicht erscheint, durch die Kronen von Platanen gefiltert, so wundersam staubig, gelblich und anderswie licht. Dennoch kühlt es sich ab. Mediterran, einfach. Meine geheimen Gefilde. Dorthin träume ich mich, auch unter Kastanien sitzend, hin.

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8.6.

Langer Gang, beinahe schon eine Wanderung mit Alexander, der einen Weg herausgefunden hatte, der unsere beider Viertel durch ein Kiefernwäldchen hindurch verband. Er führte an einem sowjetischen Mahnmal vorbei.

Mittlerweile ist es schon kurios, das soetwas unbeschädigt/-korrigiert stehenbleiben kann. Aber ich nehme an, dass es den Lords of the New Church ein bißchen zu abgelegen ist, zu weit ab vom Schuss. Und so dürfen die Worte Stalins dort bis auf weiteres prangen. Ein Pop-Up seiner Weisheit, zwar nicht in Gold verewigt, aber immerhin bronzen. Dass man, beispielsweise, halt auch für den Frieden kämpfen muss. Nein, dieser Stalin! Aus den Bleiglasfenstern leuchteten Hammer und Sichel und sandten milde umrissene Felder aus rötlichem Licht zu uns hinab. Die Veteranen eines Ortsverbandes der Kommunistischen Partei hatten es fertig gebracht, drei Bartnelken durch das Gitter (ebenfalls Bronze) zu schleudern. Da lagen sie nun und dorrten. Das epimetheische Feuer, die fühlsame Flamme war kalt.

Alexander war einst mein Novize. Im Gehen kamen wir deshalb natürlich auf unsere Zeit beim Dogen von Moabit zu sprechen. Und wie seltsam es uns beiden vorgekommen war, dass er nun in der Ära von sowohl Nawalny aber halt vor allem auch Marsalek dort, in Moskau zugegen und vermutlich auch zu Gange gewesen war.

Dass Rainald ihn einmal als traurig charakterisiert hatte, traf im Nachhinein nur noch mehr auf ihn zu, da der Doge nie ein «Feingeist auf Montage» war, sondern der umgekehrte Fall.

Von dort aus ging es freilich zu Smiley und John Le Carre. Menschenleere Lichtungen. Hier und da Schmetterlinge über einem Sonnenfleck. Bis wir dann endlich aus einem Gebüsch traten und vor uns wieder die Straße hatten. Dahinter der Majakowski-Ring.

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6.6.

Außengastronomie ist ein hässliches Wort. Auch als Begriff. Ich habe mich neulich richtig geschämt, als ich einer Halbfranzösin erklären musste, dass bei uns von Tränensäcken die Rede ist. Und das freilich alternativlos — Täschchen, Beutel Fehlanzeige.

Gestern abend erstmals im Lindengarten. Zum ersten Mal seit Punktpunktpunkt Wir kamen nicht drauf.

Das erste Mal Würzfleisch übrigens auch. Kein schönes Wort, either. Either aber auch nicht schön, wenn man es liest. Würzfleisch mundete mir herrlich. All sandy and beige. The softness of mushrooms.

Am Nachmittag war ich von einer Wespe gestochen worden, die mir unter die Toga gekrabbelt war. Nach dem Würzfleisch bekam ich stechende Kopfschmerzen (s.i.c.)

Lag wohl am Biontech.

Früh zu Bett.

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4.6.

Erwacht war ich dann freilich an des Gestaden des Sees. Der heute früh, ich kann es nicht anders finden, sich unter dem Himmel ergießen will wie geschmolzenes Metall. Gestern blau und klar bei prallem Sonnenschein.

Ich hatte Erik kaum wiedererkannt. Am Nachmittag haben wir es versucht, nachzuvollziehen: Beinahe drei Jahre soll es hergewesen sein, dass wir uns zum letzten Mal von Angesicht?

Er hat sich im vergangenen Jahr — wie er sagt «versehentlich» — in einen sogenannten Beefcake verwandelt. Im Supermarkt drückte ich ihm spaßeshalber eine Dose Tuborg in die Hand, die einen Liter fasste (die Dose) — zierlich, direkt grazil dies Dösle in diesem Prachtexemplar von einer Hand.

Wiener und Ossiwiener. Die für Ossis sind in Kunstdärme abgefüllt — oder gewurstet? Gepresst? Jedenfalls «nicht mitzuessen» wie mich die Verkäuferin an der Wursttheke mahnte. Spaßeshalber. Den Gag mit der Riesendose hatte sie beobachtet.

Waldmeisterfunde. Überall haften Schneckenhäuser an den Baumstämmen (und nicht etwa Eltern für ihre Kinder).

Der Nachbar, ein pensionierter Frisör, schreit gegen die morgendliche Stille an, die ihm egal sein kann, weil er hier wohnt und nicht zum Urlaub machen kommt. Kaffeedüfte gemischt mit Wellen eines Duschgels wehen heran.

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