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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

19.6.

Generalprobe meines neuen Auftakts zu einer Fachsimpelei «Sie als Numismatiker». Wobei das meinem Probanden, der sich tatsächlich als Numismatiker verstand und als ein solcher gelesen werden wollte, gut gefiel. Jedenfalls stieg er anstandslos vor mir in seine Materie ein (mit einer blakenden Kerze die siebzehn Stufen hinab).

Später saßen wir im letzten Licht unter Kiefern und Claudius erzählte mir, dass Hubertus Heil zur Hälfte Mexikaner ist.

Ausgerechnet Hubertus Heil! Den hatte ich von allen Bundesministern bislang am mindesten interessant befunden — so aus der Ferne, als Hobbypolitologe mit Fernsehgerät.

Aber Claudius, der sich im vergangenen Jahr selbst Spanisch beigebracht hatte, führte überzeugendste Argumente an. Heils Vater, ein mexikanischer Gewerkschaftsfunktionär namens Pancho, der bei Volkswagen in Pueblo et cetera Ich kann, seitdem ich das weiß, Hubertus Heil nicht mehr mit meinen alten Augen sehen.

In einem Gebüsch bei der überwachsenen Tischtennisplatte hatte mir unterdies August verraten, dass in der Steinskulptur eines Löwen ein echter Löwe steckt, der in den Stein lediglich eingewickelt ward wie ein Würstchen in seinen Schlafrock.

Gelächter im Dunkeln / Slowly goes the night

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18.6.

Im Grunde hatte ich mich zur Kontemplation in den kleinen Park verfügt. Kaum da, irritierte mich ein fremdartiges Geräusch.

Sirrend, dabei durchdringend, wie ein Insekt. Dies das hervorrief, war ein münzgroßes Fluggerät, das mein Banknachbar durch seine Fernsteuerung in der Luft hielt.

Wir kamen ins Gespräch. Was insofern bemerkenswert bleibt, da er ja diese überdimensionale Brille aufhatte, die nicht bloß sein Gesicht vom Haaransatz bis zur Oberlippe verbarg, sondern zusätzlich noch vier Antennen hatte, die in alle vier Himmelsrichtungen zeigten.

Wenn wir sagen, dass uns die Zeit wie im Flug vergangen scheint, meinen wir ganz sicher nicht, wie in einem Flugzeug sitzend.

Für meinen Banknachbarn im Park an diesem Morgen war es aber tatsächlich im Fluge verbrachte Zeit. Der Park, so nahm ich es an, so bestätigte er mir es aber auch, war für ihn, durch die Perspektive seiner Mikro-Drohne, wirklich erweitert worden um ein Zigfaches.

In meinen Kinderjahren hat mein Vater sich mit Flugzeugmodellen aus Balsaholz beschäftigt. Ich bin damit aufgewachsen.

Die Piloten konnten aber noch nicht sehen, was ihre Fliegerle sahen.Das fand damals noch alles im Kopf statt, in der Fantasie, war aus heutiger Sicht unzureichend hinsichtlich einer Immersion.

Wie so vieles. Meine Welt.

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17.6.

Gestern war Wladimir Putin in den Nachrichten. Mit seiner wächsernen Puppenhaftigkeit wird es allmählich unglaubwürdig, ob er tatsächlich noch am Leben ist.

Putin, Puppe oder nicht, saß aufgebahrt vor einer bildschirmfüllenden Bücherwand: Lauter schweinslederne, manches auch vom Kalb, eventuell sogar aus ziegischem Maroquin.

Bei den Rastafari von Jamaika heißt die Library «Truebrary», weil die Wahrheit aus den Büchern stammt .

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16.6.

Seit einigen Wochen lasse ich mich jetzt schon von einem Bot, einem blinden Redakteur beschicken. Der Bot mit Namen Zufallsrestaurants wählt willkürlich Bilder aus von Restaurants von irgendwoher auf der Welt und stellt sie, ebenfalls willkürlich, jeweils zu einem kleinen Mosaik zusammen, das er mit dem Namen des jeweiligen Restaurants als Überschrift versieht.

Die Restaurants sind selten interessant. Aber ich finde interessant, dass es sie gibt. Und vor allem: wo. Es ist schier unglaublich, wie viele «Unnamed Roads» es auf der Welt gibt.

Gestern erhielt ich auf dem beschriebenen Wege ein wenig ansprechendes Mosaik einer Lokalität namens «Special Restaurant». Fand ich freilich extrem interessant. Auch weil ohne The. Manchmal, wenn ich ein Zufallsrestaurant extrem interessant oder extrem uninteressant finde, lasse ich mir über die Landkartenfunktion sein näheres Umfeld anzeigen. Im Fall des Special Restaurant ohne The war alles blau. Das Restaurant befand sich auf einem Atoll!

Na toll, schreibt da der Redakteur bei SZ-Online oder Zeit und macht Feierabend. Ich aber fragte mich: Was ist überhaupt ein Atoll? Ich wusste es nämlich nicht. Hatte nur oder lediglich vage, leicht rotstichige Assoziationen mit dem Bikini-Atoll, auf dem während meiner Pupertät die Atombombenversuche durchgeführt wurden (ungefähr als zu jener Zeit, als noch von Atombusen die Rede war).

Auf besagtem, vom blinden Redakteur Bot ausgesuchten Atoll gibt es bloß eine Straße, die Lagoon Road, sie führt, zwangsläufig im Kreise herum und im Verlauf dessen (ihrerselbst?) halt auch regelmäßig am Special Restaurant vorbei. Das andere heißt Chinese Restaurant. Sollte jemand auf die Idee kommen, dort ein drittes Restaurant aufzumachen, wird es The Special Restaurant heißen. Oder The Third?

Der Strand jedenfalls heißt Laura Beach. Stellte ich mir von Papageien gekrächzt vor. In meinen Kopfhörern aus Kokosnusshälften.

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13.6.

Seit gestern Wetter wie in der Bretagne, angenehm.

Erstaunliches Traumgeschehen, ein Polit-Thriller, wie ich ihn mir selbst wohl nie hätte ausdenken können — dachte ich. Und war noch immer ganz ergriffen.

Die Perspektive, von einem Platz auf der Caféterrasse aus das Leben an mir vorüberziehend anzuschauen, ist mir noch ungewohnt. Befremdlich, ich hatte sie verlernt.

Der Luftdruck (am Morgen): 1025 Hektopascal. Tendenz steigend.

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