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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

27.2.

Gestern spät noch einen Film angeschaut über die Arbeit eines Seidenforschers in seinem Seidenlabor an dere Tufft’s University in Boston. Auch sein Name klingt fantastisch, er heißt Fiorenzo Omonetto — damit hätte man in den achtziger Jahren Strickmode aus Krefeld, der «Stadt wie Samt und Seide» verkauft.

Dem Seidenforscher Omonetto und seinen Mitarbeitern ist es gelungen, die von Seidenraupen produzierten Gespinsten aus Seidenfäden aufzulösen und daraus flüssige Seide herzustellen, aus der wiederum, so wurde das in diesem Film gezeigt, man beispielsweise Knochenteile herstellen könnte, die man in menschliche Körper einsetzen kann. Der Vorteil dieser Implantate aus gehärteter Seide besteht wohl darin, dass sie vom Organismus nicht abgestoßen, beziehungsweise akzeptiert werden.

Der Film wurde erkennbar vor der Pandemie produziert. Mittlerweile stelle ich an mir leider fest, dass wissenschaftliche Errungenschaften dieser Art, die mich vor einem Jahr noch beflügelt hatten, regelrecht zum knospen gebracht, mich kaum noch berühren; tatsächlich Fiktionen bedeuten. Denn wie wir nun alle erfahren haben, ist die Wissenschaft zwar entscheidend, auch die Produktion, aber vor allem müssen die Errungenschaften halt auch verwaltet werden.

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26.2.

Ein Zeichen, dass es ernst wird mit mir und einer Lektüre: Ich höre auf zu exzerpieren. Wohl weil ich irgendwann zu diesem Buch zurückkehren, mich erneut darin verlieren will.

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25.2.

At the Fly-In — Kaum war mir dieser Gedanke im Angesicht der üppig blühenden, von daher auch emsig umschwirrten Hyazinthe auf unserem Balkon aufgegangen (dabei sah sie doch wie aus Plastik aus!), musste ich auch an Andreas Bernard denken, der stets ein großer Freund und auch Verfechter der gleichnamigen Band war, vielleicht ja auch immernoch ist, wer weiß? ich jedenfalls weiß es nicht; wir haben uns im Sommer vor dem Tag, der zu einer Ewigkeit wurde, zum letzten Mal gesehen. In Claudius‘ Garten. Ohne Schlange und vor allem: ohne Cornelia.

Aber drunten war nicht etwa die Abrissparty von Klopsi Mulligan in ihre vierzigste Runde gegangen, es war ein ganz normaler, üblicher und wie gewohnt ablaufender Nachmittag am Tel-Aviv-Platz, der diesen Lärm unter der Sonne verschuldete (und in seinem weiteren Verlauf zu einem veritablen Wettstreit mit deren Brüllen eskalieren sollte).

Alles fing damit an, dass ein neben mir einherschlendernder Herr einmal und dann noch ein paar Mal in die Rotunde spuckte, an deren Rand ich im Halbschatten saß und las. Der Spuckende murmelte Unverständliches. Bis, mir kam es vor wie auf ein Mal, ein anderer Herr, ähnlich gekleidet und frisiert, ihm Unfreundliches zurief. Beide schrien sich jetzt über die Rotunde hinweg an, bis der, der zuerst gespuckt hatte, von dem anderen, der auf ihn zugestürmt war, angespuckt wurde, denn offenbar hatte dieser unterdies auch dessen Frau beleidigt, die bislang und doch wie unbeteiligt, als verhüllte Spielfigur am Rande des Tumultes dabei gewesen war.

Ich zog rasch um, der Platz bietet ja diverse Möglichkeiten, sich zu setzen: Es muss nicht in der ersten Reihe sein. Auf der Autobahn neulich waren wir zwangsläufig, da man im Auto wie auf Schienen hinter den anderen sitzt, Zeuge geworden einer ähnlich primitiven Auseinandersetzung. Da hatte ein Beifahrer den gleichauf dahinjagenden Wagen bei 160 km/h mit einer geöffneten Dose eines Energy-Drinks beworfen, dabei den Streitwagen freilich verfehlt, sodass sein Geschoss schäumend und dabei sich in der Luft fortwährend überschlagend, ricocheting auf unsere Windschutzscheibe zugeflogen kam; zugerast, genauer gesagt, denn auch wir hatten ja unserer Hinterleute wegen auf 160 km/h beschleunigt…

Wie ein über den Platz rollendes Knäuel aus akustischem Klebeband hatte die Auseinandersetzung der beiden Spuckhälse inzwischen weitere Stimmen an sich gebunden. Die Verhüllte rief mit ihrem Telefon die Polizei. Ich schaute auf meine Uhr.

Als nach 13 Minuten tatsächlich ein Mannschaftswagen vor der Rotunde anhielt und zwei Polizisten sich die FFP2-Masken aufsetzten, um mit der Vernehmung zu beginnen, war ich gerade bei dem Satz angelangt, den Pynchon im Vorwort zu Spätzünder schreibt, um zu bekräftigen, nein: um zu illustrieren, warum er «Entropie» für misslungen hält: Geht man aber zu konzeptuell zur Sache, bleibt zu niedlich, zu idiosynkratisch, überleben deine Figuren die nächste Seite nicht.

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24.2.

Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass eine anhaltende Isolation jedes von jedem und voneinander irgendwann zu einer Entropie führen müsste, aber dann ausgerechnet in der Blutbank?

Die Schwester hatte mir schon bei dem Blutabnehmen von der Mittelfingerspitze etwas gemurmelt, was ich jedoch nicht verstanden hatte «aufgrund von Trennscheibe», wie es bei Celo und Abdi heißt. Sie wiederholte «So ein ernster junger Mann.» Ich gab ihr zurück, dass sie das kaum beurteilen könnte, denn der lächelnde Teil meines Gesichts war ja von der Maske verborgen. Auch könnte es ja sogar sein, dass ich dort in der Verborgenheit einen Bart trüge, denn sie niemals sehen wird — wie halt auch mein Lächeln.

«Ach ja die Masken», sagte sie und seufzte dazu auch noch. «Sie nehmen uns so viel».
Während sie mir einen Stauriemen anlegte und dann in meiner Armbeuge nach meiner Vene pochte, erzählte sie mir einen unanständigen Witz, es war eher eine Art längere Bemerkung, ein Meme ohne Bilder aus einer ihrer Whatsapp-Gruppen (ich hatte sie nach ihrer Quelle gefragt).
Als sie wiederkam, um mir die Kanüle abzunehmen, begann sie eine harmlose Plauderei über mein Alter, woraufhin ich ihr das übliche Kompliment machte. Sie behauptete, ebenfalls wie gewohnt, dass sie meine Mutter sein könnte.

Sie sah mich dabei an, während sie ihre Maske nun soweit herunterzog, dass ich ihre Lippen und ihr Kinn betrachten konnte. Tatsächlich hatte sie dort eine weitaus jünger wirkende Haut.

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23.2.

Frühlingshaftes Wetter, die Menschen machen frühlingshafte Sachen, bis auf die eine Person, natürlich, der ich am Nachmittag zuerst über den Weg gelaufen war:

Da stieg sie gerade die wenigen Treppenstufen herunter, die zu einem Spätkauf — die hier Wasserhäuschen genannt werden, sogar, wenn sie gar nicht in einem Häuschen untergebracht sind, aber das ist, wie so vieles eine Geschichte für sich — hinaufführten und sagte «So ein Scheißtag» vor sich hin. Die Maske (FFP2) hatte den von ihr hervorgebrachten Zischlauten zwar viel von ihrer Schärfe nehmen können aber dennoch drang ausreichend Bitterkeit hindurch bis an mein Ohr.

Wenig später, da schon am Tel-Aviv-Platz im schönsten Sonnenschein (18° Grad!), fiel mir leider noch ein Halbwüchsiger auf, der einen irritierend dichten Salafistenbart hatte und auf seinem blütenweißen Sweatshirt stand geschrieben «Can’t Feel Love».

Nach einem mehr oder weniger komplett in der Postmoderne verbrachten Leben sollte ich allmählich doch abgehärtet worden sein. Trotzdem fällt mir vieles noch unangenehm auf; scheint mir willkürlich, oder halt zu sehr durchdacht, jedenfalls nicht wie es sein sollte (unter Meinesgleichen): natürlich.

Pflanzen, Früchte und Blüten und Tiere, Vögel vor allem, interessieren mich seit längerem schon so sehr oder mehr, wie mich vor längerem noch Kleidungsstücke interessiert haben. Es kann sein, dass ich damals selbst noch wie ein Vogel sein wollte: für andere zu betrachten interessant. Wann hat das aufgehört?

Je näher Adam Curtis in den letzten Folgen jener Zeit kommt, in der wir gerade leben, desto weniger haben mich seine Schlussfolgerungen inspiriert. Alles noch interessant, aber nicht mehr in dem Maße auch unterhaltsam und geradezu beflügelnd, wie ich es beim Schauen der ersten vier Folgen empfunden hatte. Wahrscheinlich muss jede Zeit erst vom Lebenssaft entsättigt werden wie ein Präparat, um sich mikroskopisch lesen zu lassen.

Aber es gibt, kurz vor Schluss, einen Videoschnipsel, der mir unvergesslich geblieben ist: Da fährt eine Katze, die als Haifisch verkleidet ist, auf einem Staubsaugerroboter, der ein Entenküken umkreist. Der einzige Mensch ist selbst nicht mit im Bild, er hält wohl das Telefon mit der Videokamera.

Ich dachte an The Human League, 1979: «The last is a short wave radio message from the last man on Earth.»

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