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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

22.2.

Die F.A.Z. hat heute im Feuilleton einen Text mit der Überschrift «Die Mauer in den Bäuchen» — sagt mit Friederike, beziehungsweise hat sie mir den Artikel ausgeschnitten und auf dem Schreibtisch hinterlassen, um es mir auf diesem Wege auszurichten.

Diese Mauer existiert gewiß. Sie hat, wie alle Mauern, auch zwei Seiten. Als wir am Wochenende auf der anderen Seite waren, gab es dort in dieser kleinen Ortschaft einen neuen Imbiss. Betrieben wird er von einem Auswanderer Nordmazedoniens, den Bojko Borrisow «der guten Ordnung halber» als einen seiner Westbulgaren bezeichnen würde. Umso weniger erstaunlich also, dass dieser Einwanderer ins Hinterland von Nordhausen seinen Döner nicht etwa als Gyros anpreist, sondern auf die Schaufensterscheibe des ehemaligen «Stöberstübchens» den seltsam scheinpräzise tönenden Begriff Drehspieß appliziert hat.

Bei Durchsicht seiner Speisekarte häutet sich deren Zwiebel dergestalt, dass er sich bei deren Abfassung wohl von einem im Ostdeutschen sattelfesten Zeitgenossen beraten ließ: So werden unter anderem auch diverse «Roller» aufgeführt, womit die landläufig als Dürum bestellten Fladenbrote gemeint sein werden. Beim sogenannten Würzfleisch-Roller (auf Wunsch auch mit Drehspiess) wähnt man sich im östlichen Kannitverstan.

Aber hüben wie drüben endlich wieder Baumschatten an den Wänden der Häuser. Amselstimmen läuten den Abend ein.

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21.2.

VW is for Very Wicked, das wussten schon die Beastie Boys.

Auf der Heimfahrt durch das sonntägliche Land — Deutschland nach der Neutronenbombe —, über nagelneue Autobahnen, schaltete der Golf im Entertainment Center überraschend um von Nicolaus Harnoncourt und dem Züricher Mozartorchester, von «Welche Wonne, Welche Lust» auf «F****N, F****N, F****N», so der Album(s)titel eines mir bislang unbekannten Rappers namens King Orgasmus One.

Es mag an der frühlingshaften Stimmung in der Landschaft vor den Scheiben gelegen haben, auch weil wir gerade noch das sogenannte Tor zur Freiheit bei Friedland hinter uns gelassen hatten, jedenfalls widerfuhr mir bei 160 km/h eine Art Epiphanie, die mir eingab, dass ich vom Rhapsoden noch auf Rapper umsatteln müsste. Sogar mein Rapper-Name war mir eingegeben worden: Flow Bert. Und dass ich — stilistisch zwischen dem jüngst verstorbenen U-Roy und KRS-One angesiedelt — meine Lehre bald auch musikalisch begleitet unters Volk bringen würde.

Ganz sicher spielte die Inspiration durch die fahrende Shisha-Bar eine wichtige Rolle.

Und ich trat den Niedersachsen bis er quiekte

Bald aber schauten wir in der Ferne die Skyline von Frankfurt in blauem Dunst, wie wir sie noch nie geschaut; und wie sie uns Heimat bedeutete.

Mittlerweile war hier der Frühling ausgebrochen. Auf dem Balkon nippte ein Bienenzwerg aus den schalmeienhaften Kelchen des Hyazinthus. Und mein herrlicher Schreibtischstuhl war ebenfalls eingetroffen — er übertraf dann noch sämtliche Erwartungen, vor allem halt meine.

Bitch Bovary wird sich gedulden müssen. Meine Ambitionen als Flow Bert habe ich mitsamt dem Schlüsselmodul beim Autoverleiher gelassen. Hier, bis auf weiteres: business as usual.

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20.2.

Nach einem gewaltigen Frühstück (Knackwurst, Stracke, Hack (roh)) und reichlich Kaffee ging es über den Kamm hinüber auf die andere Seite des Kessels, wo die Köhlerswitwe in ihrer Hütte haust. Schafe lagen auf verschneiter Weide. Die Sonne schien durch ein milchfarbenes Vlies. Bald wurde es warm.

Obschon guten Willens, auch gut gelaunt, konnte die Witwe sich leider nicht mehr an den Amerikaner mit dem Mausebart erinnern, der in den sechziger Jahren sich hier umgehorcht und -geguckt haben wollte. Aber von den Karsthöhlen im Kalkgebirge erzählte sie gern. Auch wie sie als junge Frau den Bombenangriff auf Nordhausen erlebt hatte, den die Engländer geflogen hatten, um den vorausgegangenen Beschuss Londons mit den V2 zu vergelten, die in Nordhausen gefertigt worden waren: nämlich als Dienstmädchen einer Familie französischstämmiger Bürger, deren jüngster Sohn dann als Passagier des erstbesten Passagierschiffes nach den Vereinigten Staaten abgedampft war… später dort Ingenieur geworden, bei Boeing…

Das Haus, die Hütte, in der sie am Waldrand wohnt, nennt sich Finn-Hütte und schaut von weitem auch genau danach aus: wie zwei Scheiben Finncrisp, aneinander gelehnt, ein Kartenhäuschen. Ihren verstorbenen nennt sie «meinen Lebenskamerad».

Derzeit, bei geschlossener Schneedecke kommt das Rotwild aus den Höhelagen des Harzgebirges herab in die Weiten des Südharz — vorgestern standen 20 Rehe bei ihr vor der Tür.

Und hinter den schneeweißen Bergen lag einst Dora-Mittelbau.

Sie lebt dort ganz allein.

Zwischen den Spuren im Schnee: goldiges Funkeln. Ein halbes Pfund Kaffee, gemahlen. Dem Christkind aus der Tasche gefallen. Vakuumverschweißt.

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19.2.

Fahrt ins Hinterland von Nordhausen, um unseren Weihnachtsbaum auszuwildern. Der Mietwagen ist das neueste Modell eines Golfs

, der erste Volkswagen seit vielen Jahren, den ich fahren durfte und ich musste mich aber auch schon sehr wundern, was aus dem einstmals angenehm bodenständigen Autobauer mittlerweile geworden war.

Zwar fährt sich der Golf herrlich, aber es sind in seinem Innenraum überhaupt gar keine wirklichen Instrumente und Knöpfe mehr vorhanden, die sich ablesen oder betätigen ließen. Stattdessen leuchtet hinter dem Lenkrad eine nächtliche Landschaft aus berührungsempfindlichen Bildschirmen, nach Sonnenuntergang fängt der gesamte Innenraum des Golfs in diesem kitschigen Blau zu glimmen an. Ich trug wie immer weiße Hosen, weiße Schuh‘, so dass mir jeder Blick auf das Gaspedal vergällt wurde durch meine wie im Schwarzlicht glosenden Beine. Man fährt im Golf in einer rollenden Shisha-Bar.

Wem gefällt so etwas? Nun, dem Volk angeblich. Von dieser Optik abzusehen fällt sehr schwer, im Grunde ist es unmöglich, weil der monolithische Touch Screen andauernd etwas zu melden hat. Zum Beispiel, dass man Schalten soll oder etwas mehr auf der Mitte der Spur sich halten mit ihm, dem Golf, der da mit einem kommuniziert; dass man eine Pause machen soll, will er «erkannt haben» (Symbolbild eine Tasse Kaffee). Zu diesen Belehrungen kommen dann freilich noch die untergeordneten Signale aus dem Unterhaltungszentrum, beziehungsweise dem Navigationsgerät.

Im Volkswagen unterwegs bedeutet also mittlerweile einen sportwagenhaft rasanten und limousinenkomfortabel ausgestatteten Transport bei maximaler Bevormundung in der Ästhetik einer Shisha-Bar.

Kurz vor Nordhausen dann wieder dieses unfassbare Monument für die Freiheit in der sternenlosen Nacht.

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18.2.

Vulkanspargel zum Abendbrot (passend zum Geschehen am Vesuv…) danach ein erschöpfendes Programm für die Wellness, mit, unter anderem, einer Gesichtsmaske aus Kohlenschlamm (oder Flugasche?), die man sich auf dem Gesicht antrocknen lassen musste, bis einem die Mimik vollkommen unmöglich gemacht war. Im Spiegel schaute ich eine unzeitgemäße Interpretation von Frederick und die Farben.

Danach freilich noch die Handmaske, dafür steckte man die Hände einzeln in Handschuhe aus opaker Folie, die von innen her mit einem Nährstoffkonzentrat bestrichen waren. Mit einem eigens dafür vorgesehenen Klebestreifen sollten nun die Handmaskenhandschuhe hermetisch um die Handgelenke ringsum abgedichtet werden, was — liebe Ingenieurinnen und Ingenieure: nicht leicht fallen wird, wenn man mit beiden Händen in Handschuhen aus opaker Folie usw. usf.

Die Übertragung der Landung auf dem Mars haben wir (nicht deswegen) verpasst.

Aber heute früh wurde ich zum ersten Mal in diesem Jahr vom Gesang eines Amselhahns geweckt.

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