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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

17.2.

Februar, Sportwagen unter den Monaten, noch kaum begonnen, bald vorbei; derzeit sogar als Cabrio. Wie es wohl meinen Nachbarn von gegenüber erging an diesem ersten Tag bei Sonnenschein und mit Balkon? Bei Lichte betrachtet freilich ein Danaergeschenk, das weiß man als Städter: Mit den Balkons steigen die Mieten.

Im Kühlschrank steht seit Vorgestern eine Flasche mit einem Saft von Rabenhorst, «Für gesunde Zellen». Schmeckt auch gut. Wobei ich bei dem Firmennamen an den dunklen Zwilling von Rotbäckchen denke. «Zelltod» von Rabenhorst — Ob ich das noch erleben werde, dass solche Säfte im Kühlregal stehen?

Und drittens hat Youtube die neue Dokumentation von Adam Curtis. In sechs Teilen. Wunderschöne Collagen, tolle Musik, Can’t Get You Out of My Head. Schrecklich süchtig machend. Einfach das Beste, das ich seit sehr langer Zeit geschaut habe. Perfekt.

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16.2.

Sonniger Tag, der Taunus lässt sich wieder sehen. Noch vor dem Sonnenaufgang drangen ungewohnte Geräusche von der Straße herauf. Es stellte sich heraus, dass vor dem Haus schräg gegenüber ein Kran aufgebaut wurde. Vorfreude: Ich beziehe ein unvergleichliches Wohlgefühl vom Anblick schwebend durch die Luft transportierter Dinge. Es muss gar keine Statue von Jesus sein.

Es handelte sich um Balkons aus feuerverzinkten Bauteilen, die der Kranführer federleicht vor dem blauen Himmel einschweben ließ, um sie hinter dem Dachfirst des Hauses zum Verschwinden zu bringen. Ab und an wurde dort an der Fassade ein Fenster geöffnet oder zumindest ein Vorhang zur Seite gezerrt, um den Blick freizumachen auf das geschehen dort unten auf der Straße zwischen denen und mir. Das Majestätische des Gesamtbildes bekamen sie natürlich nicht zu Gesicht. Darin waren sie inbegriffen

Seltsamerweise verspürte ich den Drang, dazu das Album Filigree & Shadow zu hören, was ich seit bestimmt 25 Jahren nicht mehr getan hatte; weder mit, noch ohne den Blick auf schwebend am Haken durch die Luft transportierte Dinge.

Diese Synästhesie brachte mir erst den Genuß in Vollendung. Dieses Album — zumindest seine erste Seite, also wo damals, als ich es auf Vinyl besaß, die erste Seite der ersten Schallplatte zuende gewesen war — hatte anscheinend all die Jahre und Jahrzehnte abrufbereit in mir gewartet auf diesen Moment, da es sich, zeitgleich zum Hörerlebnis, als emotionale Aufzeichnung in Gang setzen lassen würde.

Nach dem Mittagessen war alles vorüber, der Kran wieder abgeräumt, die Straße wie an jedem anderen Nachmittag.

Ein Nachteil des schöneren Wetters: mein kleiner Prinz lässt sich kaum mehr blicken. Treulos? nein, er kommt dann ohne mich zurecht.

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15.2.

Könnte man eine Brieffreundschaft aufbauen zu einem Hund?

Nicht wirklich, höchstwahrscheinlich. Auch wenn mir das der auf dem Dach seiner Hundehütte unermüdlich tippende Hund Snoopy suggeriert. Jedenfalls habe ich heute meinen ersten Brief an einen Hund abgeschickt. Er lebt in Brandenburg. Und das auch nicht allein (unter Hunden), sondern als Haustier. Die Anschrift seines Briefkastens ist mir somit bekannt. Ich habe den Umschlag adressiert an den Namen des Hundes, kombiniert mit dem Familiennamen der Briefkastenbesitzer. Die werden es dann wahrscheinlich auch sein, die den Briefumschlag des Hundes öffnen werden; er selbst könnte ihn aufbeissen, aber ob er von allein darauf käme — also dass er das tun sollte, bezweifle ich stark. In dem Umschlag befindet sich nebst meiner Karte, auf der ich den Hund rhetorisch grüße, zwar ein Knochen (vom Rind), der zudem noch mit getrocknetem Hühnerfleisch und Kamelschlünden ummantelt wurde (Methode Gottschall), aber diese raffinierte Köstlichkeit für den Hundegaumen habe ich ja nicht selbst angefertigt, sondern fix und fertig im Tierfuttersupermarkt von Griesheim gekauft. Von daher ist der Knochen Marke «Triple Flavour» schon ab Werk desodoriert, beziehungsweise in Hartplastik eingeschweisst worden. Tierfuttersupermärkte sind übrigens systemrelevant.

Ganz interessant übrigens in dem Gespräch zwischen Bernd Eilert und Martin Mosebach, das ich bekanntlich während meiner Bahnreise durch Sachsen aufsaugte, fand ich jene Stelle, an der Eilert richtigstellt, welche Art der Beobachtungsgabe dem Schriftsteller eignet. Es ist ja ein Allgemeinplatz und wird dementsprechend gedankenlos ausgesprochen, dass ein Schriftsteller gut beobachten können müsse. Eilert aber dekonstruiert diese Bauernregel, indem er (sich rhetorisch) fragt, was genau der Schriftsteller denn erst beobachtet hat, um anschließend darüber schreiben zu können.

Und gibt (uns) dazu auch die einzige Antwort: Sich selbst. Beim Beobachten. Und nicht etwa den Vorgang an sich.

Das dauert freilich. Dazu braucht es Distanz; zeitlich, nicht räumlich. Zeit muß darüber vergehen wie Zuckerguss.

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14.2.

Zum Valentinstag habe ich einen silbernen Kelche bekommen. Die Gravur an seinem Pes besagt, dass er im Kurheim Schloss Schieder aufgetragen worden war.

Ein Kinderheim der Reichsbahn — das konnte Friederike nicht wissen. Beziehungsweise konnte sie von meinem Erlebnis in der Ex-Reichsbahn, jetzt «Bahn» nicht wissen, als sie mir den Kelch ersteigert hatte zu dem Zweck, ihn mir zum Valentinstag zu schenken. Wir Karl Schlögel sagte, kann man die Wahrheit nicht erfinden, nur finden. Das gilt, finde ich, nicht bloß für die Weltgeschichte; auch für die eigene.

Gestern nachmittag löffelte ich Eis mit Amarenakirschen aus dem Kelch; aus vielleicht sogar dem Kelch, aus dem der Großvater des Zugchefs in meinem ICE 932 sein Eis gelöffelt hatte. Damals, während seines Aufenthalts im Kinderheim Schloss Schieder… das ein Vorbild gewesen war für «Haus Zwölfkinder» in den Enden der Parabel (meine Spekulation). Draußen war der kleine Prinz gekommen und nahm sich, nein: er pickte sich, dazu im strahlenden Sonnenschein, die Rosinen aus seiner Schale. Er ist jetzt schon beinahe zahm.

Wir schnitten uns gegenseitig das Haar und erkannten uns kaum wieder.

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13.2.

Dass meine Rückkehr nach Frankfurt sich aufhaltsam gestalten würde, war in Anbetracht der bundesweiten Wetterlage mit Schnee und Eis vorauszusetzen. Vergleichbar mti einem mehrgängigen Menü, wo ich die Folge der einzelnen Gänge zwar in der Speisekarte gelesen und ihre Bestandteile verinnerlicht hatte, nahm ich nun in dem sogenannten Sprinter Platz; gespannt, wie man mich seitens Streckenführung überraschen würde.

Zum Auftakt lief dann alles wie am (eisernen) Schnürchen: Der weißlackierte Zug jagte durch die weißen Ebenen Brandenburgs, um darauf das Tischtuch Sachsend zu zerschneiden. Am Bahnhof von Halle an der zugefrorenen Saale wurde aufgrund von Störungen im Betriebsablauf eine gute Stunde Verspätung akkumuliert, aber die Stimmung war gut. Ich hatte endlich Zeit, mich mit dem Frühwerk von Grischa Lichtenberger zu beschäftigen.

Innerlich schon halb daheim, um mit Friederike letzte Hand an die Vorbereitungen zum Valentinstag zu legen, drang dann während eines Aufenthalts in Fulda eine Lautsprecheranlage zu mir durch, die ich auf angenehme Weise als irritierend empfand. Wir würden nun, obzwar schon mitten in einem Frankfurter Vorort stehend, nach Bayern umgeleitet, um dann über Aschaffenburg in Frankfurt am Main Einfahrt halten zu können. Ich dachte freilich an meinen lieben Vater, an sein gütig zwinkerndes «von Hinten durch die Brust ins Auge»… Auch das Emoji «Regenwurm» stand mir vor dem inneren Auge. Der Grund für diese Umleitung war allerdings schnöde. Ich habe ihn vergessen.

Während unserer verlangsamten Fahrt schaute ich mir auf Youtube die Podiumsdiskussion von Bernd Eilert und Martin Mosebach in einem menschenleeren Saal der Evangelische Akademie an, die dort anlässlich des 75. Jubiläums (der Akademiegründung) aufgezeichnet worden war. Vor den Fenstern draußen gab es nichts mehr zu sehen. Die fränkische Landschaft war schütter, auf mich wirkte es nachlässig, beinahe herzlos verschneit; ich war von der sächsischen Schneefee verwöhnt worden.

Ich wickelte schon das Kabel meiner Kopfhörer um meine Finger, als wir in Hanau, hier also schon tatsächlich im Frankfurter Raum noch einmal, dieses Mal ausserplanmäßig

zum Halten gekommen waren. Grund war «ein Polizeieinsatz».

Spannend! Bisschen fürchterlich auch, denn angeblich ist das ja auch eine Art Codewort für Selbstmordversuche im Lingo der Bahn und da wir schon standen, beziehungsweise der Zug die Stunden zuvor eher gerollt als gerast war: Hatte der Zugführer vielleicht einen Lebensmüden gewalzt? Vor den Fenstern auf dem Bahnsteig waren mit einem Mal auch ein knappes Dutzend Polizisten in schwerer Montur und mit leichten Maschinenschusswaffen zu sehen.

Endlich das erlösende Dröhnen der Zugführerstimme aus den Deckenlautsprechern: «So, ich rede jetzt einmal Klartext. Und zwar…» War es wohl so gewesen, dass einem Passagier, einem Bundespolizisten in Freizeitkleidung, der auf dem Weg in den Urlaub war, aufgefallen war, dass ein einzelner Passagier einen verdächtigen Gegenstand mit sich führte. Er hatte daraufhin heimlich Fotos von diesem Passagier und von dem Gegenstand gemacht und diese dem Zugeführer gezeigt. Klandestin, im sogenannten Zugführerabteil. Dieser allerdings, der Zugführer, hatte ihn zu beschwichtigen versucht. Seiner Ansicht nach handelte es sich bei dem sehr umfänglichen, aus Alufolie gefertigten und gänzlich mit Paketband isolierten Hüftreif mitnichten um einen Sprengstoffgürtel, sondern um eine — na ja, wie soll man es bezeichnen: Korsett? Die beiden, Zugführer und Bundesbeamter in Zivil, waren daraufhin zum Hüftbereiften hingegangen und hatten ihn höflich zur Rede gestellt. Der hatte ihnen, aus seiner Sicht wahrheitsgemäß, erklärt, dass es sich bei diesem mutmaßlichen Sprengstoffgürtel-Slash-Korsett um einen Schutzschild handelte, den er zu tragen nötig hatte, weil ihn der israelische Geheimdienst Mossad mit einer Strahlenwaffe traktiert. Und das ständig, auch hier und jetzt gerade, während dieser Fahrt. Im Nachhinein wundert es mich übrigens, dass dieser offenbar schizoide Paranoiker nicht endgültig durchgedreht war, als sich ihm ein Mitreisender als Bundespolizist in Zivil offenbarte. Aber gut, die Wahnwelt hat vermutlich auch ihre Nischen und Schublädle, tiefe Falten im Samt, aus denen selbst dem vom Wahn Verwöhnten noch die exquisitesten Überraschungen präsentiert werden zu der einen oder anderen Stund’…

Die Bundespolizisten mit den Maschinenpistolen und den Helmen verstanden freilich keinen Spaß. Das Abteil wurde Tatort-mäßig evakuiert, der Ring Man ins Freie eskortiert, dort umstellt und von seinem Ring getrennt, während man seine Personalien überprüfte, beziehungsweise festzustellen versuchte, wer er wirklich war. Aus seinem Gepäck, das im Wesentlichen aus einer breiten Einkaufstasche bestand, einer volkstümlichen Ausgabe der längst klassisch gewordenen «Never Full» ragte ein Schild, auf dem er die Domain seines Blogs in Blockbuchstaben kundtat: derdissident.net. Ich betrachtete seinen antisemitischen Reif aus Silberfolie und Paketband, der dort im Sonnenschein auf dem verschneiten Bahnsteig von Hanau lag.

Ausgerechnet in Hanau, dachte ich. Ausgerechnet heute.

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