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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

7.2.

Am Nachmittag dann die Neuverfilmung von Heidi, um meinem Bedürfnis nach intakter Natur etwas entgegenzubringen. War nötig, da ich mir mit dem größten Messer den Fingernagel des Zeigefingers inklusive des darunter gelegenen Nagelbettes durchtrennt hatte; ich kann von Glück sagen — wie es heißt, dass ich noch rechtzeitig, in letzter Millisekunde quasi, die Notbremse zu ziehen wusste, beziehungsweise geistesgegenwärtig die schon ins Nagelbett eingesunkene Klinge wieder retour, am eigenen Griff heraus.

Heidi hingegen ein Genuss. Gegen die Landschaftsaufnahmen mussten die Szenen, die im historischen Frankfurt spielten, natürlich stark abfallen. Hinterher las ich, dass diese Straßenbilder des angeblichen Frankfurts am Main in diversen Städten Ostdeutschlands aufgenommen worden waren. Unter anderem in der Spielkartenstadt Altenburg, an der wir im vergangenen Sommer vorbeigefahren waren. Immerhin.

Zu Heidis Zeiten wurde in Frankfurt viel und rücksichtslos geritten. Heute, das fiel mir angesichts des auf seinem limousinenschwarzen Hengst einherpreschenden Sesemanns wieder ein, sind auf den Uferpromenanden stattdessen die Radfahrer zu fürchten.

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6.2.

Neulich Abend haben wir uns Endless Summer angeschaut. Wie schön das Leben sich da zeigen ließ, ungebrochen irgendwie. Unzynisch auch. Nicht unschuldig, aber harmlos.

Und die ewigwährende Schönheit des Wassers. Sie ist uns geblieben. Teils wie Jade oder ein anderer milchig leuchtender Stein, aus dem die hohen Wellentäler gehobelt werden von dem winzigen Menschen auf seinem Span von einem Brett. Den Schaum der Gischt mag ich, obzwar den Schäumen zugeneigt, gar nicht so sehr, aber an den aufgebäumten und durchschienenen Farben der Tiefe kann ich mich nicht sattsehen.

Im Anschluss schauten wir uns noch eine Aufzeichnung an aus dem vergangenen Winter, wo sich Hochleistungssurfer in Portugal getroffen haben, um extreme Wellen zu meistern, die teils dreißig Meter hoch angerollt wurden: Da konnte man den Menschen dann kaum noch erkennen auf seiner Schußfahrt quer über die glasgrüne Wand. Das eiskalte Wasser wie kochend im Loch der steilen Bucht.

Der Main dagegen heute friedlich, obwohl auch hier das Nass an mancher Stelle schon am Ufer leckt. Braun und breit wie der Mekong, die Strömung ist heftig. Möwen trieben an uns vorüber, es wirkte irgendwie hilflos, Heck voraus.

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5.2.

Der Frühlingshauch hatte auch die Spanier aus der gegenüberliegenden Wohnung auf ihren Balkon gelockt. Dort traten sie auf wie diese Bäuerin mit dem Bollenhut vor die kleine Wetterstation, die ich als Kind insgeheim begehrenswert gefunden hatte. Youngmorpheus allerdings mit freiem Oberkörper, und als zeitgenössische Form des Bollenhuts hatte er sich die gebleichten Dreadlocks zur Ananasfrisur hochgesteckt. Dass Gesichtstätowierungen einst gesellschaftsfähig würden, hätte ich mir — wie es heißt: nie träumen lassen. Und ich finde ihren Anblick noch immer irritierend. Aber was heißt das schon?

Später, da schon wieder im Regen, kam mir auf der Allee ein Mann entgegen, den ich bislang bloß als Randfigur von der Rasterinsel, The Island Of Zoom kannte. Es war ihm kurz anzusehen, dass auch er den Anblick meines Gesichts in seinem visuellen Adressbuch abgeglichen hatte. Als wir aneinander vorübergingen hielt ich den Atem unwillkürlich angehalten, wie mir drei Schritte später bewusst wurde so spannend fand ich offenbar die Frage, ob wir uns grüßen würden.

What happens on the island, stays on the island. Für Medientheoretiker interessant wird die Erzählung unserer Begegnung erst in Anbetracht der Wahlplakate, die entlang dieser Straßenseite der Allee aufgehängt waren und auf denen als Bildmotiv ebenfalls das Gesicht des grußlos an mir vorüberstrebenden Insulaners gezeigt wurde. Er ging beinahe schon wie aus seinem Abbild heruntergestiegen auf mich zu.

Ansonsten sind im Frankfurter Kommunalwahlkampf natürlich die Plakate der CDU wahrlich bemerkenswert. Aber dazu ein andermal. Im Focus steht, ich betriebe Geschichtsschreibung. Auch daran muss ich mich erst noch gewöhnen: dass nicht nur Unfreundlichkeiten über mich in der Zeitung stehen.

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4.2.

So geschah es, so wird Wirklichkeit: Der Himmel rosenfarben, sämtliche Schattierungen, der blaue Himmel hinter den Scheiben. Die Luft: rein, sie wurde ja tatsächlich tagelang mit Monsun gewaschen, warm, mit einem Wort: lockend. Mit ihrer Wärme, die mir nach dem Öffnen der Fenster entgegenquillt, mit Licht, und mit den Geräuschen, die es lange nicht gab, die es erst wieder im Frühling gibt: ein Martinshorn, die Stimmen auf dem Spielplatz um die Ecke, bald auch wieder Geschirr. Schrill schilt die Amsel.

Der Frühling war für mich nie Blaues Band; Frühling heißt des Christkinds ruchloses Geschwister, das in einem zarten Kleid durch die Weiten streift, die nackten Gerippe rechts und links aus ihrer Starre aufzuwecken mit dem Seidenstab.

Jedenfalls: Dich hab‘ ich vernommen.

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2.2.

Am Vormittag brachte der Briefträger die neue Ausgabe der Zeitschrift Das Wetter. Ironischerweise war der Umschlag total durchnässt worden, es hatte die Nacht hindurch geregnet.

Ernst Vollbehr, der Maler, der ja vor allem ein Kriegsmaler war, hatte sich für seine Auftragsarbeiten während des ersten Weltkrieges einen stählernen Helm schmieden lassen, angeblich sogar noch, bevor die Soldaten selbst Stahlhelme bekamen. Er soll auch, nach Arbeitseinsätzen im Herzen der Finsternis, eine tarnfarbene Uniform für die deutschen Soldaten angeregt haben, nachdem ihm aufgefallen war, dass «die dunkelfarbigen Hereros, wenn sie verfolgt wurden, die dunklen Stämme der Schirmakazien in den Dornbuschsteppen umarmten, und die rötlichgelben Hottentotten hielten sich still im rötlichgelben Gestein der Karras-Berge. Unsere Schutztruppler liefen an ihnen vorbei, weil sie sie nicht sahen, und bekamen dann hinterrücks Feuer.»

Es gibt ein Selbstportrait von Vollbehr, da schirgelt er unter seinem selbst entworfenen Stahlhelm hervor in den Spiegel. Auch «Hitlers Autobahnen» hat er gemalt, most truly war er a gun for hire und als es zwischenzeitlich bei einem Einsatz in der Pfalz eigentlich noch zu kalt gewesen war zum Aquarellieren, hat er seine Farben mit Pfälzer Weißwein angerührt. Aber das hilft ja alles nichts, wenn die Kunst nichts taugt.

Nach den Legenden ging ich hinaus, es hatte endlich aufgehört zu regnen, die Luft war frisch und, vor allem: warm. Regelrecht lind, ich ging gleich bis nach Griesheim hinaus. Von den dürren Ästen in den Schrebergärten hingen noch immer dicke Tropfen, darin wölbten und bogen sich Panoramen jener Welt dort am Fuße von Bahndamm und Gleisen. Möglicherweise, dachte ich, war dieser Regen ein letzter Vorhang und jetzt kommt der Frühling zu uns.

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