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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

1.2.

Das Barometer fällt auf 950 Hektopascal. Kreislauf dementsprechend. Noch immer keine Risiko-Begegnung (/ en). Ich wurde von einer Idee geweckt. Ganz allmählich, unaufdringlich, dennoch bestimmt, hatte sie sich in den Ausläufern des Traumgeschehens kristallisiert, bis ich allein wach sein wollte, um sie vollends denken zu können.

Später suchte ich länger nach Abbildungen einer Landschaftsmalerei des späten 19. Jahrhunderts mit Motiven aus Afrika. Aber nicht wie von Wilhelm Kuhnert oder Ernst Vollbehr — «Verhoffender Wisent» u.ä.

Keine Tiere. Auch menschenleer. Wie von John F. Kensett, bloß halt mit afrikanischen Flussläufen, Buchten, Seen. Gibt es anscheinend nicht.

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26.1.

Aber die Dinge sind doch magisch und sie haben eine Stimme, sie können erzählen (mit unserer Hilfe); und beileibe nicht bloß Bleistifte oder Madeleines.

So habe ich gestern, da ich wider meine Angewohnheit in einer anderen Filiale einkaufen war, zu den Haferflocken eines Herstellers gegriffen, der mir zwar nicht neu war — im Gegenteil ist es mir von sämtlichen Haferflockenfabrikaten das Vertrauteste — aber dafür vorkam, wie hinter mir gelassen. Es waren die Haferflocken meiner Kindheit, zu denen ich griff, weil mein gewohntes Fabrikat, meine Hausmarke, ausverkauft war. Und ich es, in dem Moment, albern fand vor mir selbst, in eine andere Filiale zu gehen, um dort nach der anderen Sorte zu fahnden. Sind es doch, so mag ich in dem Moment der Entscheidung tatsächlich empfunden haben: lediglich Haferflocken.

Heute früh dann aber, draußen schneite es nicht, es regnete lau, war es dem Inhalt meiner Schale schon vor Ablauf der gewöhnlichen Einweichzeit anzusehen, dass er mir nicht so munden dürfte wie gewohnt. Auch zusätzliche Güsse von Milch konnten nichts mehr ausrichten: Mein Müsli schien missraten. Und war es dann auch. Die Haferflocken hatten sich zwar (soweit, sogiwie gewohnt mit dem heißen Wasser vollgesogen, dabei aber, anders als sonst, hatten die Flocken dieses Fabrikats, dem Fabrikat meiner Kindheit, ihre Kontur verloren und waren ineinander geschmolzen. Die nachgeschüttete Milch konnte ich kaum einrühren, es war, wie ich es von der Betonherstellung kannte, dass die Masse da längst abgebunden hatte, wie es unter Baustatikern hieß. Beinahe fassungslos ließ ich die Schale mitsamt dem Löffel in den Treteimer plumpsen.

Die schönen Erinnerungen an die Haferflocken meiner Kindheit kamen aber sofort zurück und zeigten sich von meinem Erlebnis in der Wirklichkeit unbeschädigt, als ich die Website des Haferflockenfabrikanten aufgerufen hatte. Bis dahin, also mein gesamtes Leben lang, hatte ich ja in dem Glauben gelebt, die Flocken kämen aus Köln! Dabei handelte es sich in Wahrheit um ein Unternehmen aus dem Umland von Hamburg. Zwar hatte ich selbst dort neun Jahre lang gelebt, aber dass ich mich nach dort im Umland eventuell ansässigen Haferflockenfabriken (oder Manufakturen) erkundigt hätte… Stattdessen hatte ich mir eben dort, in meinen Hamburger Jahren, «amerikanische Maisflocken», wie die Gräfin sie angeblich genannt, die Corn Flakes angewöhnt. Mit diesem albernen Hahn!

Dagegen die schöne, blau in blau karierte Tüte… Die hatte ich leider längst weggeschmissen. Sie ruhte dort unter der Schale im Eimer begraben. Warum haben mir diese Haferlocken, die seit 1820 (dem Todesjahr von Scheffner) schon auf diese Weise hergestellt und verkauft wurden, früher noch tadellos gemundet und jetzt, mit einem Mal, nicht mehr?

Ernst Jünger, mit Sicherheit mahnend: «Ein buntes Gefieder hat der Hahn des Asklep.»

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