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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

12.2.

Draußen hinter der Stadt versammeln sich die Gierlitze (Serinus serinus) im Schnee unter dem Häuschen, «kleine lebhafte graugelbe Vögel mit lautstarker Stimme. Man würde den winzigen Vogel in seinem Lebensraum übersehen, wenn das Männchen nicht den ganzen Tag von einer Warte aus singen würde.» Davon, von besagter Warte, war dort aber leider nichts zu sehen.

Auch den Namen Henri Heine haben sie nie recht aussprechen können. Ein Zitat, sicherlich. Abgelesen von den makellosen Wänden in der U-Bahn-Station «Günzelstraße». Später, im vierten Stock mit Ausblick auf das russische Viertel, Gespräche in zwei einander zugewandten Sesseln. Tee, überall Bücher. Und die Zigaretten, die Stalin so gerne geraucht hat, in einer schwarzen Schachtel. In Georgien gekauft. Übrigens hat er deren Papier mit dem Fingernagel aufgetrennt, und den Machorka in seine Pfeife gestopft.

Ach — von daher der Ausspruch?

Nein.

Dazu Juri Gottschall: Man könnte wahrscheinlich eine ganze kulinarische Doktorarbeit über das Prinzip des Wickelns und Ummantelns in der Küche schreiben.

Was mich irritiert hat: Er sprach über Hans Magnus Enzensberger in der Vergangenheitsform. Hatte ich etwa etwas verpasst? Draußen vor der Tür musste ich dringend googeln. Aber dort stand noch «ist» und nicht war.

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11.2.

Gestern zur Schlüsselübergabe mal eben nach Berlin, wobei die Fahrt dorthin natürlich sehr viel länger gedauert hat als gedacht. Aber für die zweistündige Verspätung wurden wir mehr als großzügig entschädigt von einer Fahrt durchs deutsche Winterpanorama, wie ich es zumindest schon seit sehr langer Zeit nicht mehr schauen durfte. Immer wieder mal Rehe, allein auf weißer Flur. Vor allem auf Nahrungssuche dort unterwegs. In der Ferne ein Fuchs.

Die Verspätung kam vor allem dadurch zustande, dass unser Zug einen langen Umweg durch mir noch unbekannte Gegenden Ostdeutschlands nahm, wo einst, so nahm ich an, die chemische Industrie ansässig gewesen sein musste. In der Vorbeifahrt an Merseburg zum Beispiel sah ich einen gelben Turm vor meinem Fenster, der war mit Farbe paniert worden, allwöchentlich, seit ewigen Zeiten schon, die Buchstaben drückten nur schemenhaft durch diese Schichten wie Wachsflecken hinter Butterbrotpapier. Ich las die Worte Aluminium und Folie.

Die Wohnung ist sonnig und luftig. Hier ließe sich leben. Aus dem Fenster schaute ich einen weiten Hinterhof, in dem Moment ließ sich vom gegenübergelegenen Dach ein großer Vogel in die Tiefe fallen, um gerade noch rechtzeitig steil hochzuziehen und in einer weiten Schleife westwärts weiter fortzufliegen.

Das Land zu beiden Seiten hell und weit.

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10.2.

Nach dem Mittagessen, bei Schwarzwälder Törtchen zum Kaffee machte Friederike mich auf einen Amselhahn aufmerksam, der auf dem Balkongeländer gelandet war. Dort saß er, aufgeplustet, seidig glänzend, und schaute, durch seinen goldenen Augenring, zu uns herein.

So blieb er lange sitzen. Und flog auch dann nicht wieder fort, als ich mich ihm genähert hatte. Weit näher übrigens, als er dies zulassen dürfte. Ich befürchtete, er wäre krank. Ein Tropfen glitzerte an seinem orangefarbenen Schnabel. Vielleicht hatte er bloß Schnee getrunken, vielleicht aber hatte er sich mit Usutu angesteckt, der Amselseuche, die von einem Virus aus Afrika hervorgerufen wurde.

Die Sonne schien so schön wie seit Tagen nicht. Ich füllte die altbekannte Schale mit ein paar Cranberrys, mit kleinen Kürbiskernen, blanchierten Mandeln und Haferflocken. Der Patient verharrte an seinem Sitzplatz am Abgrund. Selbst als ich die völlig verzogene und von daher höchst schwergängige Glastüre zum Balkon aufstoßen musste, rührte er sich nicht.

Es dauerte dann noch eine ganze Weile, quälende Warterei, bis er — mit Todesmut, wie es mir nun schon scheinen wollte — vom Geländer auf den Boden hopste, um sich dort allmählich der Schale anzunähern. Nach einigen saftlosen Versuchen gelang es ihm, eine der Trockenbeeren aufzunehmen. Einige Augenblicke darauf noch eine. Dann hüpfte er voran und stürzte sich durch die Lücke zwischen zweien der Balkonstreben vier Stockwerke tief in den schattigen Garten hinab.

Doch kehrte er über den Nachmittag bis in die Abendstunden noch vielmals wieder. Er machte jetzt einen sehr guten Eindruck, gestärkt und agil. Auch hatte ihm kein anderer Vogel den Inhalt seiner Schale streitig gemacht.

Wie Friederike mir vorlas, können Amseln bei geschlossener Schneedecke binnen vier Tagen verhungern, weil sie viel Energie verheizen. Wir hatten ihn also gerettet, zumindest wieder aufgeladen, als er sich mit letzter Kraft zu uns emporgeschwungen hatte. Vier Stockwerke hoch, das 64-fache seiner Körperlänge, ans Licht.

Mir war ein Herzenswunsch erfüllt: Eine Amsel für mich alleine/ A Blackbird of One’s Own.

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9.2.

Die Fliegen jetzt so ausgehungert

Kaum, dass ich ein Fenster öffne, stürmen sie herein aus dem windstillen Draußen, der gefrorenen Welt

Wie bei Peter Paul Ruben

In der Zentralperspektive

Die Schale mit dem Rest Eiscreme

Den ich gestern Nacht auf dem Küchentisch abgestellt

Zu faul, ihn in die Maschine zu räumen

Brachte ihnen eine Nachtschicht ein, am Morgen

Waren sie noch immer am Werk

Da sind sie

Wie ich

Den Glücklichen schlägt keine Stunde

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8.2.

Erster Arbeitstag unter den erschwerten Bedingungen. Ich hatte mir den zerschnittenen Zeigefinger extra fest mit Leukoplast umwickelt, trotzdem befürchtete ich dann andauernd, die Fingerspitze könnte mir auseinanderplatzen, während ich damit tippe. Ich kann mir aber mein grobes Einhauen auf die Tastaturen nicht abgewöhnen. Ebenso wenig, anscheinend, wie ich mir ein Tippen mit irgendwelchen anderen als den beiden Zeigefingern angewöhnen könnte. Allmählich komme ich mir zu 50% am Körper behindert vor. Zudem ich ja seit der Aktion mit den Quitten im vergangenen Herbst an einem sogenannten Tennisarm laboriere (ebenfalls links).

Immerhin hat es jetzt draußen doch etwas Schnee. Knirscht schön unter den Schuhen. Duftet nach Aldehyd.

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