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10.2.

10.2.

Nach dem Mittagessen, bei Schwarzwälder Törtchen zum Kaffee machte Friederike mich auf einen Amselhahn aufmerksam, der auf dem Balkongeländer gelandet war. Dort saß er, aufgeplustet, seidig glänzend, und schaute, durch seinen goldenen Augenring, zu uns herein.

So blieb er lange sitzen. Und flog auch dann nicht wieder fort, als ich mich ihm genähert hatte. Weit näher übrigens, als er dies zulassen dürfte. Ich befürchtete, er wäre krank. Ein Tropfen glitzerte an seinem orangefarbenen Schnabel. Vielleicht hatte er bloß Schnee getrunken, vielleicht aber hatte er sich mit Usutu angesteckt, der Amselseuche, die von einem Virus aus Afrika hervorgerufen wurde.

Die Sonne schien so schön wie seit Tagen nicht. Ich füllte die altbekannte Schale mit ein paar Cranberrys, mit kleinen Kürbiskernen, blanchierten Mandeln und Haferflocken. Der Patient verharrte an seinem Sitzplatz am Abgrund. Selbst als ich die völlig verzogene und von daher höchst schwergängige Glastüre zum Balkon aufstoßen musste, rührte er sich nicht.

Es dauerte dann noch eine ganze Weile, quälende Warterei, bis er — mit Todesmut, wie es mir nun schon scheinen wollte — vom Geländer auf den Boden hopste, um sich dort allmählich der Schale anzunähern. Nach einigen saftlosen Versuchen gelang es ihm, eine der Trockenbeeren aufzunehmen. Einige Augenblicke darauf noch eine. Dann hüpfte er voran und stürzte sich durch die Lücke zwischen zweien der Balkonstreben vier Stockwerke tief in den schattigen Garten hinab.

Doch kehrte er über den Nachmittag bis in die Abendstunden noch vielmals wieder. Er machte jetzt einen sehr guten Eindruck, gestärkt und agil. Auch hatte ihm kein anderer Vogel den Inhalt seiner Schale streitig gemacht.

Wie Friederike mir vorlas, können Amseln bei geschlossener Schneedecke binnen vier Tagen verhungern, weil sie viel Energie verheizen. Wir hatten ihn also gerettet, zumindest wieder aufgeladen, als er sich mit letzter Kraft zu uns emporgeschwungen hatte. Vier Stockwerke hoch, das 64-fache seiner Körperlänge, ans Licht.

Mir war ein Herzenswunsch erfüllt: Eine Amsel für mich alleine/ A Blackbird of One’s Own.

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