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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

24.4.

Ich mag diese Zeit im Jahr («liebe») auch ihrer stimulierenden Wirkung wegen.

Zwar ließe sich im Talkshow-Stil erläutern, dass die Produktivität der Natur mitsamt Blühen und Nestbau und Blattproduktion eventuell ansteckend wirkt — der Mensch freut sich auf’s Ernten. Aber ich denke halt, wie immer vermutlich, dass es ganz so einfach nicht sein wird.

Simona, meine Freundin in der Schweiz, in der Ferne, hat in den vergangenen Tagen einige ihrer schönsten Texte schreiben können, weil, zumindest sehe ich das so: eine sich konstant und überreich verschönernde Umgebung dem Menschen gemäß erscheint. Und nicht eine des Leides, der Bitterkeit und des Harms — wie gesagt: wenn ich Fernsehbilder aus Mariopol sehe, von dieser gewesenen Allee, tun mir die Baumstümpfe leid.

Aber selbst im Winter produziert die Natur, ihre Hervorbringungen sind unendlicher Natur, aber die des Herbstes, des Winters bis zum Frühling hin treffen halt nicht unseren Geschmack.

Erde schaut schmutzig aus.

Vorgestern kaufte ich in der LPG, jenem Biosupermarkt am Senefelder Platz, der einst noch bestaunt wurde, weil er eine zweite Etage und die darauf hinaufführenden Rolltreppen hat, einen Liter Kuhmilch.

Weil die Kassierin einen Eingabefehler gemacht hatte, wurde vom Display her ein Preis von 22.000 Euro aufgerufen. Ich machte einen Scherz. Sie aber, die ungefähr 60.000 Jahre jünger war als ich, schaute mich funkelnd an «Das wäre doch endlich ein gerechter Preis!»

Bloß um dann mit mir über das Leid von Kühen zu diskutieren…

In acht Monaten ist Weihnachten!

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23.4.

Die Spatzen erwarten mich vor dem Sonnenaufgang. Im blauen Licht der Frühe trippeln sie auf dem Blech der Balkonbrüstung hin und her, bis ich endlich zu ihnen heraustrete, um ihre Schale aufzufüllen mit einer Mischung aus Kernen, Nüssen und Rosinen — auf der Tüte steht «Der Magnet für Wildvögel».

Sie legen keine Vorräte an wie die Eichhörnchen oder der Neuntöter. Ihr Heim sind die Lüfte, himmelhoch und weltenweit. Es sind nicht bloß ihre Kleider, die Lieder, dass sie mit Besteck von meinem Porzellan fressen, bei den Vögeln ist es ihr Lifestyle der Volatilität insgesamt, der mir behagt.

Auf einem Ausflug in die weitere Umgebung haben wir neulich wie zufällig einen Bäcker entdeckt, der großartiges Brot macht. Das war dringend notwendig geworden, nachdem unser einstiger Bäcker, noch jung, einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen war (und anscheinend gab es auch niemand mehr, der ihn zu ersetzen versuchen wollte.

Der neue Bäcker war ursprünglich Koch mit eigenem Restaurant in Kreuzberg. Seit Corona geschlossen. Und dann wieder auf, wieder zu und so fort — bis gar keine Gäste mehr kamen. Das wollte er nicht noch einmal erleben. Jetzt backt er Brot. Seine Bäckerei hat nur drei Tage geöffnet.

«Ich will mein Leben nicht mehr nach der Arbeit ausrichten.»

Endlich wieder strahlender Sonnenschein. Jungbienen umschwärmen des Mandelbäumles letzte Blüten. Das Barometer zeigt auf 1015 Hektopascal.

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21.4.

Am Morgen, es klingelt (wie in der Komödie): Zwei Männer wollen die Rauchmelder installieren. In dreiviertellangen Hosen, an den Waden markant tättowiert. Die Geräte selbst erfreulich formschön — mittlerweile lebt man ja schon mit Routern zusammen. Von daher: Gut dem Dinge…

Beziehungsweise «jut». Vorgestern, als es noch warm um sonnig war, habe ich einen Spatz beobachtet, der bei den Nachbarn in einen Buchsbaum flog, den die auf ihrer Dachterrasse haben (der Zünsler scheut die Höhe öffenbar): Wie ein Raummelder oder ähnliches gab er stoisch seine Standortmeldung ab — mir zum Besten, bis schließlich ein anderes Exemplar seiner Gattung, vermutlich der Gatte, erschienen war, flatternderweise, um fortan den Busch besetzt zu halten. Der Pionier war abgetaucht in den grünen Grund des Hinterhöfles: ein Nestbaumaterialmarkt für derengleichen.

Anderntags traf ich auf der Straße auf Leila Günther, die Katze von Nachbarn, die uns gegenüber residieren. Sie würdigte mich keines Blickes, vermutlich ist sie halt taub, bloß um dann unter die schwarze Husse eines auf dem Trottoir abgestellten Motorrades zu verschwinden. Dort oben, auf dem Sattel unter der sonnenwärmeaffinen Hüll‘ verbringt sie dann wohl einen Gutteil Ihrer Tage… und ich hatte mich schon beinahe gewundert, wo.

So finden die Tiere weiterhin Orte und Plätze in unserer Welt. Allein uns selbst, den Menschen bleibt diese Mannigfaltigkeit versperrt, wie vernagelt. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen dafür, dass wir uns die Welt zueigen gemacht.

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20.4.

Das neue Album der Red Hot Chili Peppers ist leider enttäuschend geraten. Man kann es sich noch nicht einmal schön trinken. Oder gut.

Was schade ist — Wie lautet eigentlich das Gegenteil von «Feiere ich»? Jedenfalls so.

Einerseits biografisch geprägt, war es andererseits ja vor allem die Nachricht von der Rückkehr John Frusciantes gewesen, die bei mir, in mir, abermals Hoffnungen wecken konnten, dass.

In einem Videoschnipsel sah ich ihn mit Lesebrille — sein Griffbrett studierend…

Das Grausame am älter und immer nur noch älter werden, an der Krankheit zum Tode ist, dass man permanent die zuschlagenden Türen zu hören bekommt: Dies ist vorbei und das! Und das! Und das!

Kein Beat, zu dem ich je in Stimmung käme. Wobei: Wir kennen ja unsere Zukunft nicht. In so manchen Restaurants von Asiaten reagiert man mittlerweile aufgeschreckt huhnhaft, wenn der Gast mit Maske zu den Klos sich anschickt zu schreiten: « Sir, please don’t do this!»

Gemahnungen an die Pandemie sind Kassengift ☠️

Erinnern wir uns doch viel lieber an die sorglosen Jahre! Am 11. Juli 2010 schreibt beispielsweise Wolfgang Herrndorf: «WM-Finale Spanien-Holland bei Holm. Alle sind für Holland. Auf dem Balkon doziert der bizarre Joachim Bessing. Hinten in einem der Zimmer liegt allein irgendwo Julias Kind. So winzig, so unwissend, so hilflos, daß ich sofort raus muß vor die Tür, ich ertrage das nicht.»

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17.4.

Am Morgen hatte es sich so ereignet, dass die Lehmverschlüsse vor den Kammern des kleinen Insektenhauses aus Beton aufgebrochen waren bis auf einen. Das Insektenhaus hatte ich im vergangenen Jahr zu Ostern geschenkt bekommen. Was auch immer darin überwintert hatte, es war davon keine Spur mehr zu finden.

Danach ein Spaziergang durch ein Gebiet in unserer weiten Nachbarschaft, das wir neulich wie durch Zufall entdeckt haben. Vorbei an Karpfenteichen und an einer alten Gärtnerei, wo eine Wild- oder Waldkatze wohnt, die vermutlicherweise Lily heißt. An sämtlichen Bäumen entfalten sich jetzt pünktlich die Blätter. Von weitem betrachtet schwebt dort ein maigrüner Dunst zwischen den dunklen Gerippen.

Sonnenstrahlen. Magnolienblüten. Tagpfauenauge und Löwenzahn.

Wir leben in einer seltsamen Zeit, dachte ich, gestern; mit der Stimme von Adam Curtis, die es noch immer für mich gibt; in meinem Kopf. Das wir tatsächlich in einer seltsamen Zeit leben war mir eingefallen vor dem Zahnbürstenregal im zweiten Stock eines Drogeriemarktes, der so heißt wie einst unsere Währung.

Vor ein paar Monaten erst bin ich zurückgekehrt von einer elektrischen Zahnbürste zu einer Zahnbürste.

Und vor dem Zahnbürstenregal stellte ich fest, dass es einerseits noch immer extrem zukunftsweisende Zahnbürsten gibt, die wie Sneaker aus diversen Kunststoffsorten amalgamiert sind und in einem klarsichtigen Griff noch diverse grellfarbene Streifen eingeschlossen haben wie in meiner Kindheit Murmeln aus Glas (oder noch früher Bernstein prähistorische Insekten). Und es gibt Zahnbürsten aus Bambus.

Und es gibt eine, für die ich mich entschieden habe, deren Material aus alten Zahnbürsten hergestellt wurde. Sie ist ganz leicht. In einem milchigen Blau. Das federnde Gelenk, durch das sich die Zahnbürsten von Dr. Best früher von ihren Mitbewerbern abheben konnten, federt bei dieser gar nicht mehr, es ahmt lediglich durch seine Form noch diesen Wettbewerbsvorteil nach — oder bietet einen Wiedererkennungswert an, ganz wie man es sehen will, der mittlerweile anscheinend in dem wiederverwendeten Material dieser Zahnbürste besteht.

Sie ist, wie es heißt: grün. Warum sie dann aber blau ist, weiß vielleicht der sogenannte Himmel.

Diese drei Geschlechter der Zahnbürste: Hi-Tech, Fossil oder Green-Tech, kosten alle ungefähr gleich viel. Man hat also wirklich die Wahl, in welcher Zeit man leben will. Seltsam sind sie aber alle drei.

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