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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

16.4.

Du hast uns angelegt

Freiheit

Zaumzeug aus Sand

—René Char

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15.4.

Ausgerechnet am Gründonnerstag oder gerade da musste ich erfahren, dass Jonny, der sehr alte Kater, auf den ich im vergangenen Jahr ein paar Tage lang aufpassen durfte, am Beginn seines 22. Lebensjahres verstorben ist.

Gibt man in das Suchfeld von Google «Katze alter» ein, erscheint zuerst eine Meldung im Format einer Karteikarte mit der Information «Katze 12—18 Jahre». Die dazu abgebildet Katze schaut einen vor weißem Hintergrund aufgenommen oder freigestellt an wie aus einem sogenannten Passbild. Der vom getigerten Fell überzogene Kopf erscheint sogar leicht schräg gelegt; mir kommt diese Abbildung vermenschlichend vor und dadurch dann unmenschlich in ihrer spröden, faktizistischen, pietätlosen Tonalität. Was wohl erscheint, wenn man «Mensch Alter» eingibt — und schon wäre man bei den Fragen von Hautfarbe und Geschlecht.

Ich nehme an, die getigerte Katze wurde von einem Algorithmus als die auf Anhieb von allen und damit so niedrigschwellig wie eindeutig als Katze zu identifizierende Katzenabbildung festgelegt. Die Katze an sich. Der Apfel unter den Katzen.

Wie auch immer: Auch wenn ich nur wenige Stunden in seinen 22 Lebensjahren mit Jonny verbringen durfte, so hat er mir in diesen Stunden vor allem seine Individualität nahegebracht. Und zwar vor allem nicht, dass er so alt geworden war. Ich habe viele Erinnerungen an seine Laute und Bewegungen, vor allem halt auch an seine bizarre Vorliebe für Wasser frisch aus der Leitung im Gedächtnis behalten. Sie haben sich eingebrannt.

Hier lebt er fortan. Für mich.

Ohne zumindest.

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13.4.

Im Supermarkt wurde die nachfolgende Kundin dabei ertappt, mehr Mehl kaufen zu wollen, als erlaubt war. Zulässig waren in dieser Filiale von E.D.E.K.A. offenbar zwei Kilogramm pro Person; die Kundin, die überdies keinerlei Deutsch sprechen konnte, hatte ungefähr sieben Kilogramm im Einkaufswagen.

Einmal dabei, erspähte die Kassiererin außerdem noch 10 Kilogramm Butter (es waren vierzig Päckchen; ich bin heute morgen erwacht, während ich mir dabei gleichsam «zuschaute», wie ich diese Rechenaufgabe löste). So wurde, während die Kundin ihre unzulässigen Mehltüten zurück ins Regal sortieren musste, eine Schülerpraktikantin zum Marktleiter entsandt, um bei ihm zu erfragen, wie mit diesem geplanten Butterkauf zu verfahren sei.

Er gab indes sein Placet, wie die Sendbotin in einer Art Mauerschau über das Regal mit Hygieneartikeln hinweg ausrichten ließ. Wörtlich hieß es «Hau weg! hat er gesagt».

Seltsam betreten ob meiner Sprachlosigkeit verstaute ich die zulässigen Verbrauchsgüter und Nährmittel in meinem Sack.

Ich habe außerdem den Eindruck, dass den Menschen hier in Ostberlin diese hilfspolizeilichen Tätigkeiten Freude bereitet. Spass, wie es heißt. Mit zwei S. Eine willkommene Abwechslung im kapitalistischen Einheitsbrei.

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12.4.

Vor langer Zeit, es ist nun 22 Jahre her, aber es waren 22 lange Jahre, zumindest wirkt es auf mich so, hat mir jemand gesagt, ich sei für ihn wie ein Insekt. Und versprach mir unmittelbar zuvor, also wirklich einen Atemzug früher, eine Million. Das hatte sich ereignet sich im Vorraum zu den Toiletten im Ultraschall und, ja: er war high gewesen zu dem Zeitpunkt; aber dann wiederum: wer nicht?

Ob er ein Freund war, kann ich heute längst nicht mehr beurteilen. Vor nun schon beinahe zwei Wochen hat mir ein anderer Christian gesagt, ich sei für ihn wie ein Reptil. Und das stimmt auch — in dem Sinn, in dem er das gemeint hatte: Sobald die Sonne wärmt (zur Not tut es auch ein irdisches Feuer), geht es mir wohl.

Ich habe gestern den gesamten Tag mit Reinbert de Leeuw verbracht. Seeligkeit (sic).

Als sein Satie-Album erschienen ist, war ich neun Jahre alt. Als ich Satie für mich entdeckt habe, war er schon ein Household name (inklusive der Scheußlichkeiten aus dem Café del Mar).

Wie er die Partitur abstaubt: wie man ein Gemälde säubert: Quadratmillimeter für Quadratmillimeter.

In Jans Film sieht man den Moment, wo er, allein am Flügel, den perlenden Lauf in der Gnossienne Nummer vier abbrechen muss, brüsk, weil er selbst schon zu schwach geworden ist, um ihn noch hervorzubringen. Kopfschüttelnd. Das Instrument erscheint zunehmend sinnlos. Ein Monument, das ihn in die Tasche stecken wird.

Es gibt nichts, das ein Freund für mich tun könnte, das mir wichtiger ist, als mir etwas beizubringen, das ich noch nicht weiß.

Tage wie ausgeblasene Eier, Sonnenschein.

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11.4.

Am Nachmittag (bei Strich 120 km/h) zurück nach Berlin. Das dort zurückgelassene Barometer zeigte auf solide 1050 Hektopascal. Allen Pflanzen geht es gut, das Mandelbäumle wie von kirschfarbenen Knospen befallen: uns steht ein Ausbruch bevor.

Abends zur Premiere von Jans Film über das Flackern in der Stimme, das sie Fuoco sacro nennen. Zwei oder drei Szenen zeigen Reinbert de Leeuw bei den Vorbereitungen zu seinem letzten Konzertabend (mit Barbara Hannigan). Die Krankheit hatte ihn da schon beinahe zweidimensional gemacht. Haut und Knochen. Proben an den Liedern für Sokrates.

Das Erkalten des gestorbenen Körpers stelle ich mir fürchterlich vor für die Zurückgebliebenen. Noch fürchterlicher als die Frage, die unbeantwortet bleibt. Die Hand, die kalt bleiben wird, egal, wie lange man sie hält, reibt.

Ich gehe heute den ganzen Vormittag schon mit der Zeitung umher, ohne sie anzufangen.

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