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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

15.1.

Komm! ins Geschlossene, Freund!

Tatsächlich hatte es schon in der Frühe begonnen zu schneien. Allerdings spärlich. Auf mich wirkten die Flocken vereinsamt. Zumal es nicht einmal richtige Flocken waren, sondern eher schneeweiße Krümel. Leise sägt jemand am Styropor.

Impressionen vom Schaufensterbummel «White Wedding»: Es gibt jetzt auch E-Pfeifen. Aus «kaukasischer Maserulme» und sogenanntem Hybridholz (Ultra High Gloss). Die Stadt New York City hingegen hat in eine großflächige Imagekampagne investiert. Zu sehen ist ein stürzender Blick in die berühmten Häuserschluchten, der Slogan lautet New York City misses you too. Man soll, so die subtile Botschaft, einstweilen die Website besuchen. Die Adresse lautet nyc.com. Was es dort wohl zu sehen gibt?

Billiger aber ebenso zahlreich werben kleine runde Aufkleber für Monero, eine Kryptowährung. Da ich schon Bitcoin verschlafen habe, könnte ich jetzt profitieren. Aber schon die Antworten in den FAQ wirken auf mich — nun ja — kryptisch, beziehungsweise wird mir der Vorteil dieses neuen Geldes nicht klar: «Monero is not magic. If you use Monero but give your name and address to another party, the other party will not magically forget your name and address. If you give out your secret keys, others will know what you’ve done. If you get compromised, others will be able to keylog you. If you use a weak password, others will be able to brute force your keys file. If you backup your seed in the cloud, you’ll be poorer soon.»

«…damit fegst Du deine Organe unnormal weg…», ruft ein junger Passant in sein Telefon, das er wie eine akustische Drohne vor seinem Gesicht in der Schwebe hält. Grasgrüne Sneaker. Vielleicht hole ich mir auch einen Personal Trainer.

Die Titelseiten der Zeitungen hier orakeln derweil von einem neuartigen Lockdown, den «Merkel», wie sie hier genannt wird, ausbrüten soll. Wenn jetzt auch noch das Internet abgeschaltet wird, drehen die Leute durch.

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14.1.

Auf dem Titel der aktuellen Ausgabe von Mobil, dem Bordmagazin der Deutschen Bahn, ist Angela Merkel abgebildet (das Foto hat Markus Jans gemacht).

«Ohne die Bahn wäre für viele Menschen der Alltag kaum zu bewältigen.» Schon der erste Satz aus ihrem Interview genügt mir vollkommen. Ich denke, dass Angela Merkel mit ihrer Art auch jegliche Neugierde nach ihrem Leben nach dem Bundeskanzleramt erstickt haben wird. Dann kann sie eigentlich machen was sie will. Dem Interview zufolge ist das dann schlafen.

Ich glaube übrigens nicht, dass man in der Bahn so gut arbeiten kann, wie das von den dazu Befragten behauptet wird. In der Bahn kann sehr gut arbeiten, wer das unbedingt muss. In der Bahn mache ich alles andere. Wobei ich leider feststelle, dass ich schon deutlich lieber verreist bin — es gibt ja nichts mehr, worauf man sich am anderen Ende freuen kann; keine Cafés, keine Museen, kein Stöbern. Bleibt mir das Spazieren. Und Arbeit natürlich. Ist das das Lebensgefühl des Politikers? Die Träume, mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland zu fahren oder auch einmal durch die Rocky Mountains zu reisen, gibt es noch, aber geplant ist erst einmal nichts.

Bei Isabelle Graw ging es um Daft Punk. Sie scheint die recht spät entdeckt zu haben. Ich kann mich erinnern, dass ich nach dem Erscheinen von Da Funk nach England auf ein Festival geflogen wurde, um ein Interview zu machen. Sie waren am prallen Nachmittag in einem Zirkuszelt aufgetreten, damals noch ohne Helme, das Publikum bestand aus ravenden Müttern, die ihre Kinderkarren im Takt hin- und herschoben. Draußen zuckelten die bizarr draufgeschickten Musiker von The Prodigy auf einem Golf-Caddy über die Hügel und über der weiten Fläche des Freiluftgeländes schwebte ein Zeppelin, liebesapfelfarben, der Werbung machte für Virgin Express. Der, mit dem ich dann sprach, hieß Guy-Manuel de Homem-Christo. Wie Isabelle Graw weiß, waren seine Eltern reich.

Hinter Bad Karma (Sachsen) liegt Schnee.

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13.1.

Im Briefkasten lag (außer der Zeitung) das Faltblatt eines neuen Restaurants auf der Münchener Straße: Safari Grill Haus — Halal. Die Speisekarte umfasst 328 Positionen. Hat das eigentlich schon jemand gemacht: die Speisekarte eines chinesischen Restaurants komplett abzutippen von wegen Schiffskatalog?

Der jüngst verstorbene Roky Erickson soll ja eine längere Zeit seines Lebens solche Faltblätter «beantwortet haben». Ich nehme an, damit wird gemeint sein, dass er Briefe an die Absender solcher Postwurfsendungen geschrieben hat. Das mache ich nicht, aber ich schreibe schon gerne an Hersteller oder Institutionen, wenn ich eine Frage zu deren Produkten oder Leistungen habe. Früher in Briefen, mittlerweile schicke ich Emails. Beispielsweise erhielt ich gestern Antwort vom Rowohlt Verlag auf meine Frage, warum dort die Anführungszeichen auf französische Weise gesetzt werden (wie ich es selbst auch bevorzuge). Dabei hatte ich freilich auf eine Antwort in Form eines historischen Briefes oder wenigstens einer Anekdote von Ledig Maria Rowohlt gehofft — der soll ja angeblich so legendär gewesen sein. Aber leider beschied man mich statt all dem mit einer Erklärung zum Phänomen Anführungszeichen an sich. Ich hätte mich deutlicher ausdrücken müssen, simpler eventuell auch, also schrieb ich erneut: Warum «TEXT» und nicht »TEXT«? Wussten die aber leider auch nicht Bescheid. Na ja. Frittierte Calzone ist jedenfalls das Neue Ding.

Bei Isabelle Graw ging es um die Tischordnung bei den Dinnern nach Galerieeröffnungen. Ein beinahe schon historisch gewordenes Thema, von daher doppelt interessant. Ich kann mich noch gut erinnern.

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12.1.

Schnee. Um kurz nach vier leuchteten schon dünne Lagen in der Dunkelheit. Schlief daraufhin natürlich noch einmal besonders tief und gut. Am Morgen trieben die Flocken schräg am Fenster vorüber. Das Barometer war über Nacht um genau den Wert gefallen, um den es während der vorvergangenen Nach gestiegen war (bis auf 1020 Hektopascal). Heute gehe ich natürlich nicht vor die Tür. Schnee bringt ein den weißen Schuhen vergleichbares Problem des Anschneiden-Müssens, beziehungsweise meines Heil-Lassen-Wollens.

Bei Isabelle Graw ging es gleich im vierten Eintrag um ihr Schreiben. Sie empfindet es trotz der bekannten Widrigkeiten als ein Privileg, am Schreibtisch sitzen zu dürfen, um nachzudenken. Geht mir ähnlich. Wobei es mich dann gestern, kaum dass ich das gelesen hatte, hinaus drängte, wo noch die Wintersonne scheinen sollte, denn meine Freiheit, nachdenken zu dürfen, wird von mir nicht bloß am Schreibtisch gegen die Anstürme der verwalteten Welt verteidigt, sondern überall, auch draußen.

Am Tel-Aviv-Platz setzte eine junge Frau der anderen auseinander, wie ungerecht sie sich von einer dritten behandelt fühlt, die übrigens abwesend war. Bei solchen Gesprächen höre ich sehr gerne zu, vermutlich ensteht so auch der Sog für mich in Die Andere Welt von Graw.

Auf dem Heimweg kam ich an einer mir unbekannten Bücherzelle vorbei, der ich einen weiteren Krimi von Jakob Arjouni entnahm, sowie drei außergewöhnlich hübsch gestaltete Broschüren aus den achtziger Jahren, die von einer indischen Sekte yogischer Flieger herausgegeben wurden: Living Meditation Through Aum Swarupa. In dem Heft mit dem Titel «Love : Sex» las ich heute früh, während es schneite: «Just by looking at the word ‹sex› we get different ideas about its many meanings. For example the pronounciation of the word sex is ‹se — x›. It can be read as a sign of multiplication, which is a ‹x›. In sex we multiply on many levels, not just physical. Another way to see sex is ‹see x – see a cross›: To ‹see across› is to explore. So seeing across one another is learning about each other.»

Nach dem Mittagessen hatte die Welt ihr Kleid schon wieder abgestreift.

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11.1.

Leben ohne Zeitungen, aufhören damit: Würde es überhaupt möglich sein? Ein erstes ihrer Probleme scheint mir darin zu bestehen, dass Zeitungen selbst ein Ende haben. Beziehungsweise: haben Bücher keins (in dieser Art; die Erzählung in Büchern weist über sich hinaus, ja, ihre Erzählweise selbst will über sämtliche Ufer treten). Eine Zeitung ist wie ein Menü, manchmal steige ich schon nach dem Küchengruß aus, ein Buch ist für mich wie eine Schale (Schüssel, oder Platte) von vielen, andersartig befüllten auf einem Büffet. Bücher — bedeuten nicht bloß, sie — sind Lesen á discrétion. All you can read.

Wenn ich in der Zeitung lese, habe ich selten Lust, von ihren Seiten aus auf die eines Buches überzugehen und wenn, dann kehre ich so gut wie niemals wieder zur Zeitung zurück. Die Zeitung erzählt von einem bestimmten Punkt des Zeitempfindens aus, das Buch ist dieser Zeit enthoben. Von Buch zu Buch wechselnd hingegen, kommt mir der Vorgang des Lesens natürlich vor. Als ob da ein Pfad von Natur aus angelegt wäre. Die Zeitung gehört nicht in diese Natur. Sie ist anderswo erschienen (man spricht oder sprach von einer Zeitungslandschaft). So gesehen ist Zeitungslesen mein Walking on the Moon.

Abschweifungen ins Internet empfinde ich mittlerweile gar nicht mehr als solche — so lange ich sie vom Buch aus unternehme. Lese ich von der Zeitung aus kommend im Internet etwas nach, führt das von dort aus regelmäßig in die Bücher (um abzuklingen) oder, im günstigsten Fall, in einen Text, an dem ich schreibe. Aber die Zeitung wird kalt in dem Moment, da ich sie aus der Hand lege. Sie erstarrt zu der bleiernen Wüste, die sie einst war; damals, als noch mit Blei gesetzt wurde (und später dann mit Licht!)

Internet pulsiert im Stand-by. Selbst wenn ich nicht angeschlossen bin, sind da noch Milliarden anderer Leser, die es mit Aufmerksamkeit laden. Internet verkörpert die Allgegenwart des Lesens, die Allgegenwart des Textes. Die Summe und die Mannigfaltigkeit alles Lesbaren (für Menschen wie für Maschinen).

Texte in Büchern mit Texten im Internet befriedigen meine Leselust giocoso wie die Rezepte der postmodernen Cuisine, die Kenny Shopsin erfunden hat: «I took an icecream scoop and I put pulled pork and cole slaw in it and called it ‹Barbeque Banana Split›. It’s almost like putting your dick in the wrong hole. There’s a thrill to it. There’s friction that occurs to me when you’re putting an ingredient into an improper dish. That’s the base of fusion cooking: that sexual friction that occurs when you’re putting the wrong food in the wrong place. Sometimes it works. But not always.»

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