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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

5.1.

Am Morgen hatte ich mich noch beklagt, dass seit beinahe einem Jahr nichts anderes in der Zeitung steht; dass ich mich von dieser Eintönigkeit allmählich gelangweilt finde. Auch weil ich «Zuflüsse von außen brauche, weil du sonst nichts absondern kannst», wie Hermann Lenz festgestellt hatte. Diesen Zufluss von außen gab es ja wohl noch, die Zeitung kam unbeirrt jeden Tag durch den Briefschlitz ins Haus, aber ich empfand sie mittlerweile als eintönig, was, wie Friederike feststellte, zwar für mich so sein mochte (wir versuchen unsere Sphäre frei von Floskeln zu halten) aber halt so nicht der Fall war. Es standen und stehen, so Friederike, noch andere und andersartige Nachrichten in der Zeitung; es gibt von dort diesen Zufluss, Du findest ihn bloß nicht.

Aber es war ja auch die Birne durchgebrannt in der Dunstabzugshaube. In unserem Heim ist es die Lichtquelle, die mir am liebsten ist. In deren Lampe Schein ich am liebsten dasitze und bin. Die einzige im Supermarkt erhältliche Birne mit passendem Gewinde war nur ein schlechter Ersatz (also keiner): Zu dunkel war das Licht der Backofenbirne, die zwar einer Umgebungshitze von bis zu 300° Grad Celsius ausgesetzt werden könnte, aber dafür saß ich in ihrem bräunlichen Schein wie in einem Renaissancegemälde. Mein Telefon indes zeigte auf seinem gleißenden Schirm den nächstgelegenen Baumarkt als geöffnet an.

Gegen die Outskirts von Griesheim ist die Zone freilich ein bürgerliches Viertel. Halb Industriegebiet, der übrige Teil eine Ödnis aus lieblos ineinandergefahrenen Mietskasernen — auf seinem Weißen Album hatte Haftbefehl zumindest einen seiner Texte in dieser Ungegend angesiedelt; aber nicht deswegen, sondern des C-Wortes wegen hatte sich vor dem Baumarkt ein Türsteher aufgestellt. Wie beinahe immer wurde ich auch von diesem Bouncer abgewiesen. Ich verwies ihn auf Google.

«Google! Auf unsere Website müssen Sie schauen.» In den Baumarkt vorgelassen wurden lediglich Handwerker mit Gewerbeschein. Au net schlecht.

Aber im Gegensatz zu den anderen Türstehern in meinem Leben schaute er sich zumindestens meine Glühbirne an: «Ist die für eine Dunstabzugshaube? Die haben wir sowieso nicht, die sind irgendwann aus dem Sortiment gefallen…» Doch noch bevor ihm das A-Wort herausrutschen konnte, gab er mir einen nähergelegenen Tipp: Ungefähr dort hinten, hinter dem Getränkemarkt und neben dem Frischeparadies gäbe es seines Wissens noch einen illegalen Elektrogroßmarkt: «Möglich, dass der so etwas hat.»

Im Frischeparadies, das konnte ich von außen sehen, steckten die Leute mit ihren Einkaufswagen dicht ineinanderverkeilt im Mittagsstau fest. Der konspirative Elektrogroßmarkt befand sich tatsächlich gleich nebenan. Der Vorraum wurde von einem mächtigen Aquarium dominiert. Dessen Scheiben waren stark veralgt. Dahinter wackelten Schleierschwänze mit ihren Schwänzen. Auf mich wirkten sie fahl. Ein Angestellter bequemte sich zu mir, verwies mich aber auf den übernächsten Hinterhof: Er handelte lediglich mit Unterhaltungselektronik. Dort aber würde mir geholfen. Außer, dass ich dort einen Angestellten einer belgischen Spedition kennenlernte, der nicht abladen durfte — was ich mir schrecklich vorstelle —, passierte aber auch dort nicht mehr viel in Sachen Birnenkauf. Dieser konspirative Elektrogroßhandel wurde immerhin von zwei Asiaten betrieben. Als ich sie rief und dabei mein Birnchen schwenkte, winkten sie schon von weitem ab und riefen «Nein, Nein!» Dies weder höflich, noch freundlich, sondern asiatisch neutral. Also eigentlich zum Ausrasten. Aber Asiaten kneifen ja nicht etwa ihre Augen zusammen, um eine winzige Glühbirne von weitem besser begutachten zu können, ihre Augen sind so. Und so ähnlich stelle ich mir auch die Reklamationsabteilung vor von dem Chinesen auf der Europaallee, bei dem Friederike unsere Atemschutzmasken kauft.

Wieder daheim, im Schein meiner Backofenleuchte, empfand ich jedenfalls tiefgehende Zufriedenheit. Als ob ich einen halben Roman gelesen.

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4.1.

Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass ich noch ein paar Tage von diesem Ausflug nach Bad Homburg zehren würde. Aber dann entdeckte ich in einem Kühlregal im Skyline Plaza einen Neuzugang, der mir ein ziemliches Erlebnis versprechen wollte. Dabei handelte es sich um eine Vollmilch, auf deren Verpackung groß und von daher auffällig gedruckt stand «Diese Milch wurde von uns Verbrauchern gewählt»; in weißen Großbuchstaben auf grünem Grund übrigens, dieser Aufdruck; der Rest des Milchkartons ist blaugrundig bedruckt, wobei dort, auf der unteren Hälfte des Verpackungsdesigns vor allem ein recht unbeholfenes, wie von Torsten Gaitzsch gezeichnetes Emblem aus einer Sprechblase mit Augen und Mündle auffiel, das den Zusatz-Slogan «Du bist hier der Chef!» umrahmte. Der unverbindlich empfohlene Verkaufspreis «von Verbrauchern gewählt» für diesen Liter Milch sollte 1 Euro 45 betragen. Nicht billig, vielleicht aber preiswert?

Jedenfalls hatte mich das Ganze schon sehr neugierig gemacht, obwohl ich ansonsten ein treuer Käufer der Vollmilch aus der Molkerei Schwälbchen bin (allein schon wegen Wilhelm Genazino, der zeitlebens ebenfalls ein Liebhaber von Schwälbchens Vollmilch war; so sehr sogar, dass er dieser Köstlichkeit in einer seiner obskureren Erzählungen, der Ausschweifung, einen frivolen Auftritt bereitet hat) und das vermutlich auch bleiben werde, denn von ihrem Geschmack her hat die von Verbrauchern gewählte Chefmilch mir im Vergleich mit der aus Schwälbchens Hähnen nichts Vorteilshaftes zu bieten gehabt. Sie ist halt teurer. Der politische Aspekt, der ja bei genauerem Nachdenken schon in die konzeptionelle Nähe einer «Volksmilch» führt, wie sie garantiert vom Axel-Springer-Verlag auf den Markt geschoben werden wird, sobald die Grünen die Bundestagswahl «krachend» gewonnen haben werden, bleibt ja eher dubios. Auf der Website des Milchvermarktungsvereins www.dubisthierderchef.de mit Sitz im schönen Eltville erfuhr ich beispielsweise, dass die Idee einer Volksmilch auf eine französische Initiative zurückzuführen ist. Es handelt sich dabei mehr oder weniger um ein Überbleibsel des Gelbwesten-Movements. Der Gründer des deutschen Ablegers heißt dann auch folgerichtig Nicolas und lässt im Dialog mit den Bauern auch seinen französischen Akzent durchschmecken. Wobei: Es ist im Grunde bloß eine einzige Genossenschaft aus Hessen, über deren Abgabepreis die etwa 9000 Abstimmenden abgestimmt haben, die sich jetzt laut dieser Milchverpackung Chef nennen dürfen. Im Grunde ist es also eine Marketingoffensive dieser bislang gesichtslosen Molkereikooperative. Und hat man uns in der Grundschule noch eingeschärft, dass «Sex sells», so ist es halt mittlerweile Basisdemokratie.

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3.1.

Ausflug nach Bad Homburg. In eine Stadt also, deren Name einem vermeintlich viel sagt — aber was? Ich weiß es noch immer nicht. Auf der Heimfahrt entschied ich mich jedenfalls klar zugunsten des ebenfalls unweit gelegenen Bad Nauheims, das wir allerdings letztmalig bei sommerlichen Bedingungen besucht hatten. Friederike hielt, trotz Lockdown, Eisregen und matschiger Spazierwege, Bad Homburg für die schönere der beiden Kurinstanzen. Konnte ich zwar einsehen, dem aber nur zur Hälfte zustimmen. Wir einigten uns noch vor dem Erreichen Rödelheims darauf, das die von uns sogenannte vordere Hälfte Bad Homburgs sich als Bad Nauheim insgesamt überlegen erwiesen hatte, die von mir allenfalls etwas zu stark in den Vordergrund gerückte hintere Hälfte jedoch den guten Eindruck, den die vordere Hälfte allein zu hinterlassen imstande wäre, allzu prägnant wieder überschrieben mit ihrer andersartigen Handschrift, sodass — vorausgesetzt man besucht dort, vom Bahnhof kommend, zuerst die vordere Hälfte, um nachher durch die hintere zum Bahnhof zurückzufinden —, am Ende dann doch Bad Nauheim einen insgesamt günstigeren Eindruck hinterlassen dürfte

Besagte Schokoladenseite von Bad Homburg jedoch ist wunderbar: Mit einem unverbauten Barocksträßchen, das, schnurgerade, vom von mir als problematisch empfundenen Bahnhofsvorplatz, der von einer Pseudo-Balkenhol-Figur dominiert wird, über die Alfred-Herrhausen-Brücke direkt zum Wohnhaus Hölderlins führt. Schräg gegenüber weist ein tempelartiger Bau, die Jakobs-Halle, unaufdringlich darauf hin, wie prachtvoll einstmals selbst schnöde Turnhallen geplant und ausgeführt wurden. Der interessantestmögliche Kontrast zur deutschen Geschichte ergibt sich für mich aber immer erst dann, wenn, wie in unserem Falle heute tatsächlich geschehen, zwei junge Frauen ganz in helle Wintermode gekleidet, mit ihren beiden — wie geföhnt, derart flauschig schauten die aus: Hunden das Szenenbild einer unserer historischen Gassen betreten. Es ging um Kindernamen. Die eine hatte zu berichten, dass ein den beiden entfernt bekanntes Paar jetzt ihre Kinder mit Chanel und Joko benannt hatten. Eventuell war es auch Yoko. Ich habe nicht nachgefragt.

Danach im Schlosspark, wo die Gärtner all überall wundervoll formulierte Hinweisschilder angebracht hatten. Versuchte, den Pfau nahe genug an das Gitter zu locken, um ihm eine seiner Schwanzfedern auszurupfen. Friederike meinte, die gäbe es bei Alice im Blumenland für fünf Euro.

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2.1.

Ein Neujahrsspaziergang in neuen Schuhen. Sie waren mir noch rechtzeitig vor den Feiertagen am Morgen des Heiligabends gebracht worden, aber nachdem ich sie aus ihrer erfreulich kantenscharf erhaltenen Schachtel ausgepackt hatte, brachte ich es infolge nicht mehr fertig, sie auch anzuziehen. Tagelang schaute ich sie mir an, wie sie dort in ihrer Stille beeinander standen. Nicht gerade das hochheilige Paar aus dem Lied, aber dennoch so würdevoll; noch unausgebeult von meinen Füßen, schmal, lang und wie bestäubt von ihrer weißen Farbe, wie darin eingehüllt (oder gewickelt). Ihre Stille durfte ich nicht zerstören.

Am Neujahresmorgen dann in den noch immer makellosen Schuhen in die sogenannte Zone, die Idsteiner Straße, die am Ende unserer Straße beginnt. In der Silvesternacht hatte ich dort, am Horizont tatsächlich ein in Grün und Gold funkelndes Feuerwerk gesehen. Am Neujahrsmorgen war dort alles leer wie sonst nie, auch roch es dort so frisch und gut wie sonst schon lange nicht mehr an einem Neujahrsmorgen zuvor. Ein kleiner Junge sammelte Blindgänger: rot, dick, mit blauen Lunten, allenfalls leicht feucht geworden. Wer weiß, vielleicht will er ja Galerist werden?

Obwohl in der Zone wohl kaum jemand deutsch spricht, gibt es dort an einer Straßenecke einen gläsernen Schrank, in dem gebrauchte Bücher angeboten werden. Ich schaue dort ab und an vorbei, das Angebot wechselt tatsächlich: manche Bände verschwinden, andere kommen dazu. Immer sind es durchwegs deutsche Titel.

Auf der stillen Straße aber lagen, verstreut wie Kirschblütenblätter, aus einem Buch herausgerissenen Seiten. Über Nacht vollgesogen mit Feuchtigkeit. Die Sprache war für mich nicht zu entziffern, eventuell Polnisch? Der Name des Autoren wurde auf jeder Seite obenstehend wiederholt: Joseph Conrad.

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1.1.

Auch am Ende jenes stillen Jahres waren die stillen Tage still. Überflüssigerweise — vielleicht auch tröstlich weil verlässlich? Ich las einen Kriminalroman. Es war eher ein Krimi, den mir Sebastian geschenkt hatte: Happy birthday, Türke! von einem, der selbst ein falscher Türke war; gewesen sogar, mittlerweile längst tot, früh gestorben (Krebs).

War lange her, dass ich einen Krimi… Die so ganz andere Art des Lesens gefiel mir abwechselnd gut, dann wieder musste ich mich regelrecht zurückpfeifen auf das Feld der Lektüre. Das ungewohnte Lesen befremdete mich auch. Kein Satz, bei dem ich darüber nachdenken wollte, oder gar musste, wie er beschaffen war; wie er gemacht worden war. Was nicht bedeutete, dass es mir leichter erscheinen wollte, im Sinne von einfach, diesen Text schreiben zu können. Man stellt von Soufflé um auf Kartoffelchips.

Im Traum hatte es geklopft. Erst einmal, und, nachdem ich, ebenfalls noch im Traum, erwacht war, um zu überlegen, wer da wohl klopfend seinem Begehr auf Einlass Ausdruck verliehen haben mochte — vor allem: Wo hinein! — klopfte es noch einmal und das noch immer im Gebäude meines Traums, aber dieses Mal auf anderem Material.

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