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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

11.03.

Abends bei Reinhard Tempel in Leipzig. Der mittlerweile dritte Besitzer hat den Gastraum jetzt optimal ausgebaut: Sisal ergießt sich selbst über die Treppenstufen. Und die neuen Stühle, Exemplare eines finnischen Klassikers, haben diese dunkelbunten Lasuren — Copyright Regentag Hundertwasser — die mich unmittelbar nicht etwa an einen, sondern an den Plainsong denken lassen…

Wir sprachen über meinen Besuch des Stasi-Museums am Weltfrauentag: Wie lächerlich einem, also mir, mittlerweile das in der Zeit noch garantiert als pompös empfundene Interior Design des Bureaus von Erich Mielke erscheinen muss: Stilistisch, von den Farben wie von dem Gefühl für Materialien her sind wir, als Bewohner der westlich-industriell geprägten Sphäre seitdem doch meilenweit fortgeschritten.

Liebe es übrigens, wie man, in bester DDR-Tradition, nur noch verquaster sich ausdrückt in seinen Versuchen, den aktuellen Zustand der kapitalistischen Verrottung nach Kräften präzise zu bezeichnen…

Und auf einem «Thanksgiving Dinner» in Westberlin, also einer Art Rosinenbomber Larping, wurde ich am Rande des zuckrigen Buffets doch tatsächlich des antidemokratischen Wesens geziehen — Dazu fiel mir freilich kaum etwas weiteres ein als Right On Sister!

Nun aber Mielke: Ich hätte mir doch sehr viel mehr Räume gewünscht, die, in ihrem Originalzustand belassen, zu betreten gewesen wären. Stattdessen Erklärtafeln, Erklärtafeln, Erklärtafeln, die das von Botho Strauß im Partikular geprägte «kopierte, kopierte, kopierte» zwar nachzuahmen wünschen, aber dennoch scheitern müssen, weil doch die Stasi selbst nur eine Kopie der Tscheka war — und sich selbst auch so sah.

Aber in diesen wie unberührt hergerichteten Räumen des Ministeriums Für Staatssicherheit stellt sich im Betrachter, also stellte sich in mir bald eine weihevolle Ruhe ein, die von ihrer Qualia her eine andere war als die im Museum von Arno Schmidt, das von seinem museumspädagogischen Konzept ja vergleichbar funktioniert, aber, weil ein genialer Museumsdesigner, Friedrich Forssmann, es eingerichtet hat, eben null belehrend wirkt, sondern bloß: eindrucksvoll.

Mielke aber, das führte eine dort auf dem Überwachungschefsekretärinnenschreibtisch aufbewahrte Karteikarte, die mit Schreibmaschine beschriftet worden war, vor Augen: legte Wert auf ein regelmäßig regelrecht zubereitetes und angeordnetes Frühstück aus Kaffee, Milch, Brot, Marmelade und Ei. Butter fehlte merkwürdigerweise. Beziehungsweise war sie von ihm selbst in der Kartographie unterschlagen worden.

Draußen schien die Sonne.

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07.03.

Innewohnen ist ein schönes Wort in unserer Sprache. Auf Reisen bin ich es selbst, der den Kulturen innewohnt.

Beispielsweise an jenem Ort, keinem Dorf, der nicht einmal einen Namen hatte. Kein Schild. Die nächste Ortschaft nannte sich «Red Light». Die Gegend war hoch in den Bergen hinter der Hauptstadt, Kingston, auf ungefähr 800 Metern über dem Spiegel des Meeres, das sich von dort oben aus auch blicken ließ zwischen den Wolken: glitzernd; ab und an.

Vor unserer Tür dort hing eine Pflanze, die ich zunächst für künstlich gehalten hatte: Strongylodon macrobotrys, wenn es regnete, es regnete oft, lagen wilde Mangofrüchte auf dem Weg, sie waren winzig und süß.

Einmal fing es zu regnen an, kaum dass wir los gewandert waren nach Red Light — Dornbracht-Feeling über Stunden. Im Tal, wo wir einer handlangen Schnecke begegnet waren, stieg einer aus seinem Führerhaus aus, um uns eine Moskito-Salbe zu bringen.

Die Abende verbrachten wir in einer Berg-Kneipe, die sich «Reddy’s Hot Spot» nannte. Dort saßen meistens Greise unter dem Vordach, ins Domino-Spielen vertieft. Die Steine hauten sie auf den wackeligen Tisch, uns fiel besonders die Bemalung der Außenwand auf, wo allerlei Frauenfantasien festgehalten waren.

Eines Abends rückten dort mit einem Mal junge Männer aus Kingston ein. Einer hatte sogar eine Vorrichtung mitgebracht, um ruckelfrei filmen zu können. Gedreht wurde ein Clip für YK Kastro, eventuelle auch bloß für Chronic Law — wer weiß das schon genau.

Getränk der Stunde war Rum, overproof, gemischt mit «Boom», einem einheimischen Energy Drink. Und nicht bloß deshalb: neue, zartfließende Töne…

Es gibt einen interessanten Aufsatz von Isis Semaj-Hall über diese neue Musikrichtung des «Emotional Dancehall», die sich wohl auf die recht jung verstorbenen Künstler XXXTentacion und Juice WRLD bezieht.

Überall sonst ist es interessanter als bei Dir daheim, leider

Reddy’s Hot Spot war übrigens ein Schnellkochtopf, der in den fünfziger Jahren auf Jamaika vertrieben wurde.

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05.03.

Am Vorabend des Abflugs kehrte ich auf dem Heimweg noch in einer dieser neuen Spielhöllen ein. Ein schmuckloser Raum, wie man meinen könnte, allerdings bestand der Schmuck dort halt aus oder in den sechs, sieben Spielautomaten, die in ihren hölzernen Rahmenkästen tatsächlich so wirkten wie Bestandteile einer Kunstinstallation.

Außer mir befand sich noch ein anderer Mann in diesem Raum. Sitzgelegenheiten, etwa um es sich vor den Automaten bequem zu machen, standen nicht zur Verfügung. Der Spieler attackierte seine Roulettedarstellung wie eine Scheibe beim Dart.

Er lud mich ein, vom Platz neben ihm aus mein Glück zu versuchen. Ich fragte, ob ich eines der im Standby befindlichen Geräte fotografieren dürfte. Er verwies mich in eine Ecke des Raumes: «Ask the lady.»

Dort, wohin er gezeigt hatte, war niemand zu sehen. Lediglich eine Art raumhohe Kabine, deren kleine Öffnung, ungefähr auf Höhe meiner Gürtelschnalle, ich erst beim zweiten Hinsehen entdeckte. Offenbar wurde der Raum durch diese Öffnung hindurch aus dem Inneren der Kabine heraus von einer weiblichen Aufsichtsperson überwacht.

Wie bei Kafka beugte ich mich hinunter, um in die Öffnung hineinzusehen aber da war nichts außer einem grünlichen Leuchten, dem Abglanz der Straßenlaternen.

«Hello, may I take a picture of one of the machines», rief ich in die Öffnung hinein.

Die Antwort kam prompt. «I don’t think so.»

And that was that.

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04.03.

Mittlerweile ist hier in Berlin der Frühling eingetroffen und lässt die hinter mir liegende Zeit noch ferner erscheinen. Im Sinne von erledigt; die überstandene Krankheit als die vergangenste meiner Zeiten.

Ich konnte nichts tun. Nicht schlafen, nicht lesen, nicht einmal fernsehen. Musikhören wurde auch bald zuviel. Lediglich lagernd auf meinen Atem zu achten war mir noch gestattet — von wem? Dabei vermied ich es, obwohl es mich offenbar danach drängte, die Hände über meinem Brustkorb zusammen zu legen. Weil nur Sterbende diese Haltung einnehmen. Das hatte ich aus dem Zauberberg.

Dann, eine Zeit später, die schwangere Katze dabei zu beobachten, wie es sie in ihrer Lage vor das Telefon drängt, aus dem die Music For Cats spielt. Klänge, die ihr Linderung brachten. Ein Medikament.

Abends stiegen wir unseren Hügel hinab, um uns unter die Leute des Hafenstädtchens zu mischen. Die besten Bars dort erkannte man schon von der Straße aus durch die offen stehenden Türen daran, dass dort die Wirtin mit dem Kopf auf den Tresen gestützt schlafend ihren Dienst tat.

Übrigens hatte sich auf der Insel seit Corona vor allem eine Sache verändert: Jetzt gab es Spielautomaten. Und zwar, wie in solchen Staaten üblich: auf der ganzen Insel vor allem nur einen einzigen Typ Automat, der hieß «Roulette». Sein geradezu antik wirkender, grob auflösender Bildschirm, der zudem quadratisch war und in einem Gehäuse aus Holz steckte, zeigte auf blauem Grund den flächig dargestellten Roulettekessel.

Ob es darüber hinaus an dem Gerät noch Bedienknöpfe gab, ob er einen Münzschlitz für 10-Dollar-Münzen hatte (die nach wie vor das Profilrelief von Marcus Garvey zeigten) — alles vergessen, beziehungsweise gar nicht erst gemerkt.

Bloß, dass überall alle immer vor diesen Automaten saßen.

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29.02.

Die Zeit mit der Krankheit und, danach, die Zeit mit Mango hatten meine Empfindsamkeit für Tag und Nacht geschärft. Tag=Zeit des Heils, Nacht=Zeit für Furcht. Wer die Nacht über wacht, sie nicht durchschläft, fühlt sich dem Tod näher gerückt. Und mit jedem Sonnenaufgang kommt die Erlösung.

Warte, bis es dunkel wird. Die Nacht als Lebensraum, als Welt und dann, mit einem Mal: als Sphäre, in der Tod passieren wird. Vermutlich hatte ich deshalb, nach dieser Erfahrung der in Atmenot durchwachten Nächte, in unserer Wette darauf gesetzt, dass Mango ihre Kinder bald in einer Nacht, nach Einbruch der Dunkelheit zur Welt bringen würde (der Einbruch der Dunkelheit ist dort gleichbedeutend mit dem Beginn der Nacht, es wird blitzartig dunkel). Um mein verdrehtes Nachtgefühl zu wenden.

Tage später kam dann die Email, dass von den ursprünglich fünf Katzenkindern, die mittags im Wurfhäusle geboren wurden, nur eines am Leben geblieben ist. Auf den Fotos, die noch immer den pistazienfarbenen Fußboden der einst von uns bewohnten Hütte zeigen, ist es auf der schlafenden Mango zu sehen. Die weindunklen Augen himmelweit offen.

Jung, brutal gutaussehend. Wir nennen es Blue.

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