2024: AN DER BASSENA
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de
02.12.
Bei jedem Besuch in der Alten Heimat kommt mir das Land dort verändert vor, aspekteweise, zur Fremde hin.
Dieses Mal war es ein Automat für Grabgestecke, der den Kunden dieser Gärtnerei auch am Sonntag zur Verfügung steht, wenn selbst in der Landeshauptstadt, anders als in Berlin, alles geschlossen hat.
Auf dem Friedhof lag noch am Nachmittag Reif auf den Wiesen. Oder schon wieder? Ich dachte an den Sonnenstrahl hinter der Aussegnungshalle, in dem ich die Bienen schwärmen gesehen hatte hinter der getönten Scheibe. Und davor, auf einer Staffelei, das Foto von seinem Gesicht.
An den Abenden lange Gespräche mit dem Bruder. Ich konnte es nicht glauben, musste immer wieder hinschauen, wie ähnlich wir geworden sind. Nicht einander. Aber etwas Drittem. Dem entgegen gleichen wir uns an.
Er wohnt mittlerweile selbst ganz ähnlich wie ich. Vergleichbare Lage. Sein Stadtrand freilich mit weit schönerem Blick, weil der Rand dieser Stadt der Rand eines Kraters ist.
Nachts fing es schlagartig an zu regnen und heute früh, als ich in Nachtdunkelheit zur Bahnstation wanderte, saß in einem frisch abgewaschenen Apfelbaum ohne Blätter, dafür noch mit Früchten ein ebenso dunkler Amselhahn und zwitscherte sotto voce vor sich hin. Unentschieden, ob jetzt Winter werden würde, oder doch bald Frühling. Amseldrosselhochsaison.
26.11.
Jede einzelne Entlassung aus dem Krankenhaus, hätte ihn beinahe finanziell ruiniert. Das erfährt man aus den späten Tagebüchern von Derek Jarman.
Jede Entlassung wurde bei ihm zu einer Feier des Lebens. Mit opulenten Restaurantbesuchen und teuren Einkäufen in den Lieblingsgeschäften. Wer weiß, wie lange man noch hat. Er jedenfalls hatte bald nicht mehr lang.
Das Wetter auf den Straßen heute ist dementsprechend: Wie am Tag nach dem Winter, bloß dass der noch nicht einmal begonnen hat. Aber man weiß halt auch erst, dass es wirklich ein Laubhaufen war, wenn man hineingesprungen ist — so steht es zumindest auf der Box an der Wand in dem Café des Barrista, der schüchtern war. Und der sich, in meiner Abwesenheit einen Schnurrbart hat stehen lasse. Ganz ähnlich zu meinem übrigens, der mir gewachsen war, während ich darnieder lag.
Heute früh habe ich ihn abrasiert.
«Du hattest ja kürzlich angedeutet, dass Du dich ein bisschen veränderst», sagt einer, der im himmelblauen Anzug an mir vorübergeht, in sein Telefon.
21.11.
Zurück in der Stadt nach Tagen auf dem Lande. In Zuid Limburg hatte es sachte zu schneien begonnen am Morgen der Heimreise, die daraufhin, wie von den Flocken eingeläutet, recht ähnlich verlaufen sollte wie all jene, die im Bildverlust beschrieben stehen.
Auch dort, im Herzen des Apfelanbaus, hinter Reihen um Reihen von niedrig gehaltenen Apfelbäumen an Spalieren, Bäumchen wie ans Kreuz geschlagen, wie um, das hatte ich bei Tacitus gelesen, die Nacht ein wenig aufzuhellen durch zweitausend Gekreuzigte am Wegesrand, deren Körper man mit Fett bestrichen hatte, damit sie wie die Fackeln brannten; das Laub der Apfelbäumchen von Zuid Limburg freilich nicht lohfarbend sondern birnengelb.
Und auf der anderen Seite der vom Regen dunklen Landstraße hoben Flugzeuge ab hinter einem Stacheldrahtzaun. Ganz wie die Bankfrau hätte ich zu Fuß dorthin aufbrechen können und darüber hinaus in die Welt.
Nachts schlief ich im kühlen Apfelkeller einen tiefen Schlaf. Das Glück, als ich gestern in die heimischen Laken sank, mich unter heimischen Daunen auf heimische Sprungfedern zu betten. Stirbt denn die Bankfrau nicht auch beinahe einen Tod in der Farngrube, einen von dreien zummindest, bloß um dann wieder weiter zu wandern, als wäre das nichts (vor allem halt keine Kunst)?
Im Café zeigt die schwarze Box an der Wand ein wortloses Muster aus allen Farbtönen des Herbstlaubs. Den Besuch dort hatte ich länger hinausgezögert. Wie jedes andere Wiedersehen.
15.11.
Auf der Box war ein Zitat von Fitzgerald, das mich allein dadurch irritierte, dass darin vom Fall die Rede war in Sachen Herbst. Dabei hatte ich mich jetzt gerade an Autumn gewöhnt (dass das Leben an sich dann von neuem beginnt, wenn die Luft trocken zu rascheln beginnt mit den Blättern…)
Der Barrista selbst übrigens seit jenem Nachmittag nie mehr zu sehen; seitdem er mir über den silbrigen Rücken seiner fauchend in die Milch hinein dampfenden Kaffeemaschine hinweg ein «Thank you» hatte zukommen lassen. Stimmlos. Rein mimisch. Und von daher auch extra eindringlich.
Abends ging ich in der Galerie Friese vorbei. Beziehungsweise hinauf, eine Galerie auf der Beletage. Davon gibt es in Westberlin ja noch einige. Elegant, aber auch latent unangenehm, weil man nicht wie in ein gewöhnliches Ladengeschäft hinein- und auch wieder hinausgehen kann. Der Eingangsbereich samt Gegensprechanlage als Tropfsteinhöhle verkleidet. Im Ganzen aus Styroporblöcken herausgefräst. Ein schwarzer Schwan. Der Ausstellungstitel mit Filzstiften in Keilschrift auf die Wand getaggt: Neoromantik. Von Simon Strauß.
Später noch mit Olivier in einem extrem unbekannten Restaurant. Wir waren die einzigen Gäste. Nach uns kamen noch Dänen an, in Pelzmänteln. Feuchter Atem, wie im Keller. Zwetschgenluft.
14.11.
In der Zeitung dann eine Meldung, dass Simon and Garfunkel sich wieder versöhnt haben. Deren Trennung hatte ich gar nicht mitbekommen, währte angeblich über Jahrzehnte, nachdem Art Garfunkel in einem Interview den Abwesenden Paul Simon als Narren bezeichnet hatte. Ich wiederum dachte freilich an die schwarze Box.
Abends in den Kurpfälzer Weinstuben mit Jacqueline und Kurt. Angelockt von unserer vertrauenswürdigen Begleitung wurde nun bald schon der Wirt selbst zutraulich und zahm. Den hatten wir an anderen Abend stets als kuriose fackelnde Figur aus den Kulissen erleben dürfen. Ich fühlte mich freilich an Jan-Peter Bremer erinnert und an die bukolische Szene aus Gatzas untergegangenem Roman, die einen Abend in der Bremerschen Küche beschreibt. Also auch im dort beschriebenen Verhalten ähnelt Bremer dem Wirt auf ziemlich verblüffende Weise und vice versa. Merkwürdig.
Knut spielt mit dem Gedanken, mir ein Praktikum in den Stuben zu vermitteln. An dem Abend kam es mir auch irgendwie noch erstrebenswert vor, aber heute schaut die Welt natürlich schon wieder anders aus. Und zwar ganz, also völlig!
Aus schleierhaftem Grunde war der Wirt plötzlich mit einem Beil an unserem Tisch erschienen. Dazu gab es Gans, Saumagen, Bratwürstchen, Kohl, Pfälzer Dreieinigkeit, eine Völlerei.
Interessant bei Art Garfunkels Entschuldigung an Paul Simon war, dass er sich mit der fraglichen Beschimpfung seines Collega als gefährlich darstellen wollte. Im Grunde ging es ihm um eine Imagekorrektur.