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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

25.07.

Aus einem kurzen Gespräch mit der Frisörin fühlte ich mich weggetragen in die Zeit vor 22 Jahren als mich der Intendant des Jungen Theaters von Göttingen mit einem Monolog für eine Schauspielerin beauftragte. Heute handelt er mit gebrauchten Armbanduhren. Übrigens.

Da ich mir, wie immer, gar nicht sicher war, wovon solch ein Monolog, den zu schreiben ich große Lust verspürte, handeln könnte, gab er mir den Rat, mich vermehrt im Hutgeschäften aufzuhalten. Bei Brautmodehändlerinnen. Zur Not, ganz nötigenfalls auch bei Friseusen (wie man damals noch zu sagen pflegte). «Denn diese Frauen», sagte der Intendant «leben ihr Leben in anderen fort.»

Und damit war seiner Erfahrung nach vor allem das sogenannte Liebesleben gemeint. Ich nahm das für wahr, denn er, dieser Intendant, war ja nicht bloß älter sondern insgesamt ein doller Typ, der es, wie es hieß: wissen musste.

Warum eigentlich?

Ich erinnere mich nicht mehr.

Der Monolog sollte dann schließlich von anderen Dingen handeln. Ein Hutgeschäft habe ich bis heute noch keines betreten. Brautmoden dito. Aber mir fiel damals ein, dass ich eine nicht geringe Zeit meines Lebens zu Bett gegangen war mit Blick auf ein enorm großes Poster, dessen Produktion, Druck, selbst für heutige Verhältnisse, auch enorm teuer gewesen war. Darauf abgebildet war meine damalige Freundin, deren Frisur ich im Stile Suzanne Vegas geschnitten hatte und auf dem Bild trug sie ein T-Shirt, auf dem war das Piktogramm für Feuermelder gedruckt. Das Motiv selbst war die Fotografie einer Fotografie, denn der Produktion des Riesenposters war die Produktion eines ersten, leicht veränderten vorausgegangen, auf dem lediglich sie in diesem T-Shirt mit dieser Frisur zu sehen gewesen war. Das wiederum hatte ich an einer Wand dann befestigt und eine mit Zahnpasta belegte Zahnbürste vor dieses Motiv in die nächste Kamera gehalten. Wie anbietend.

Und daraus war dann dieses Motiv entstanden, dessen ansichtig ich eine nicht ungeraume Zeit meines Lebens dann Schlafen gegangen war.

So what’s a type anyway? Wovon reden wir, wenn wir von Liebe sprechen?

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24.07.

Im Lauf eines Nachmittages wurde ich zwei Mal für jemanden gehalten, der ich nicht war. Zunächst an einer trubeligen Kreuzung, während ich auf Grün wartete. Ein Mann stellte sich neben mich und sagte «Are you by any chance Dave?»

Wenig später, da saß ich schon vor einem Café, an dem kleinen Tisch neben der Eingangstür, als dort eine Frau heraustrat, sich zu mir herunterbeugte und sagte «You must be Felix.»

Diese Tinder-Dates in der Öffentlichkeit sind, trotzdem die App den füreinander vorgesehenen Partnern auch gegenseitig deren Bilder anzeigt, wohl immer auch Blind Dates. Den wahren Dave habe ich ja leider nicht zu Gesicht bekommen, aber kurz nach dem Missverständnis mit Felix, trat der wahre Felix an diese Frau heran, die nach meiner freundlichen Richtigstellung noch immer auf dem Vorplatz des Cafés stand, wartenderweise, während sich im Hintergrund ein Rollstuhlfahrer rückwärts über den mit Pfeilen eindeutig als andersherum zu befahrenden Radweg schob.

Der wahre Felix wiederum, das wunderte mich dann schon, war hager und sehr langhaarig. Sein Gesicht war oval, beinahe pferdhaft schmal, während das meine ja rund ist wie eine Tomate mit Zähnen.

Die Frau, von ihm angesprochen (er trug diese abgeschnittenen und aufgerollten Jeanshosen in Bermudalänge, wirkte auch underwhelmed auf mich, als sie seiner ansichtig wurde. Und da hatten sie ihr Date erst noch vor sich.

Neulich, da saß ich mit F irgendwo und am Nebentisch lief auch gerade wieder eines ab, da sagte die weibliche Person «Also vom Aussehen her bist Du eine zehn. Wie würdest Du dich charakterlich einordnen?» Der andere musste da nicht lang überlegen.

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22.07.

Draußen auf der Straße war es kühler. Im Buchladen las ein japanisch ausschauender Mann einer (seiner?) Frau aus einem Werk in deutscher Sprache vor. Langsam, auf mich wirkte es besonnen, Satz. Für. Satz.

Sie korrigierte ihn mit sanfter Stimme in einem Englisch, das mich an New Jersey denken ließ; regelrecht dorthin zu transportieren suchte. All die Male, die ich nicht in Newark gelandet war, dafür am sogenannten JFK.

Dann wurde es selbst mir zu warm. Und der Himmel war so bleigrau und silbrig, die Kugel des Fernsehturms ging beinahe darin auf, so,

Als könnte sie darin schmelzen. Im Himmel aus Eisen. Nicht sichtbar die Sonne. Irgendwo oben, dahinter.

Das Buch hieß Die Yacht.

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21.07.

Eine Bushaltestelle am südöstlichsten Stadtrand hatte einen von Hand beschriebenen Zettel «Diary Found!» Die Telefonnummer habe ich mir nicht notiert.

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18.07.

Heute keine Blume vom Wegesrand.

Dafür klammerte sich gestern während eines Streifzuges eine prachtvolle Raupe an meinem Stoffbeutel fest: Larve eines Lindenschwärmers. Lindgrün und samtig, prall. Mit einem turquoisen Horn am Hinterteil.

Da ich seit Jahrzehnten nicht mehr mit einer Raupe zusammengelebt hatte, richtete ich ihr, kaum daheim angelangt, ein Terrarium ein im Kimchi-Glas. Mit diversen Zweigen, die ich en passant abgerupft hatte.

Anfänglich schien es der Raupe dort auch angenehm. Sie klammerte sich an ein Lindenblatt und regte sich wenig.

Abends dann lag sie auf dem gläsernen Boden des Gefäßes und machte einen erschlafften Eindruck auf mich. Immernoch samtig, doch nicht mehr prall. Ziemlich dicke Füße. Veritable Stampfer.

Heute früh hatte ich dann den Salat: Über Nacht war sie ganz braun geworden und ihre Außenhülle schien jetzt wie verholzt mit Rillen und Kerben.

Das habe ich ihr persönlich genommen. Es geht einfach nicht an, dass man sich, kaum im neuen Heim beim Gastgeber eingetroffen, verpuppt. Zudem las ich, dass die Raupe des Lindenschwärmers in der Puppe überwintert. Kaum ist dann im Frühling der Schwärmer geschlüpft, lebt der nach der Eiablage sowieso bloß noch einen Tag ungefähr, weil sein Rüssel vom Prinzip her verkümmert ist dergestalt, dass er damit gar keine Nahrung aufnehmen könnte.

SATIS•EST

Das Terrarium löste ich umgehend auf «mitsamt der Marketenderin».

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