2024: AN DER BASSENA
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de
04.09.
Christian Boros auf dem Titel der Texte Zur Kunst. Er posiert mit seinem Geflügel. Das Heftmotto, in grünen Großbuchstaben: Country. «Loads to unpack here.»
Das Motiv der Fotografie nimmt erkennbar Bezug auf das epochale Titelbild der Fantastic Man aus dem Herbst 2006. Dort war damals Helmut Lang zu sehen, wie er einen schwarz gefiederten Hahn liebkost. Fotografiert hatte Bruce Weber. Und die Ironie mit dem black cock zündete freilich in diesem Kontext Fantastic Man/Weber/Lang. Der war damals aufs Land (Long Island) gezogen, nachdem er seinen Namen, der nicht sein wirklicher war, also nachdem er seinen Künstlernamen an Prada verkauft hatte, um fortan keine Mode mehr zu entwerfen, sondern um Kunst zu machen. Und dadurch Legende zu werden.
Es gibt in dem zugehörigen Text, den George Plimpton verfasst hat, eine wunderschöne Beobachtung, da geht er mit Lang oder wie der auch heißt am Strand spazieren, der Modeschöpfer trägt Jogginghosen und zieht, wie man das ja selbst ab und an in Momenten der Muße tut, die Taschenfutter nach außen, um die beiden dann wie Ohren an den Flanken der Hose herausragen zu lassen. Plimpton schreibt, Helmut Lang hätte ihn mit Blick auf dieses Sekundenentwurf impromptu gefragt, ob er das nicht glatt in einer Kollektion verwenden sollte — dabei war die Zeit der Kollektionen ja offiziell soeben für immer von ihm für beendet erklärt worden. Aber in dem, auch in dem Humor, dem tiefen Verständnis für die Machart der Kleidung wie der Mode und damit auch der Ironie, die Lang stets zur Grundlage seines Entwerfens zur Verfügung hatte, in dieser Millibeobachtung stand die ganze Kunstperson Helmut Lang, der ja bis heute Phantom bleiben durfte, vor dem Lesenden da.
Nun ist Christian Boros ja weder Phantom, noch eine Kunstperson, die sich zur Ruhe setzen muss. Im Grunde weiß ja niemand genau, was er macht. Von daher bin ich doppelt gespannt auf dieses Heft. Auch hinsichtlich Hab & Gut.
03.09.
Überall Schmetterlinge. Und das Licht am Morgen von einer Schönheit: Ich möchte entweder alles fotografieren oder nichts.
Zu Fotografieren bedeutet Malen mit Licht. Wie das Licht, wo es fällt, etwas zum Leuchten bringt, in den Schatten stellt, schimmernd macht, ausblendet.
Ich frage mich, mit was ich male; was die Rolle des Lichts innehat in meiner Kunst. Ich frage mich das andauernd, seit längerer Zeit.
Gestern, mit Max in den Räumen der Zeitschrift für Ideengeschichte wurde ich in den Bann geschlagen von Stephan Schlak, der, wie ich es zuvor nur ein einziges Mal, mit Bazon Brock, erlebt hatte: Sprache endlos spinnt. Bald fragte ich mich nicht mehr, woher er das nimmt, wie, sondern wer da durch Schlak zu mir sprach.
Oft schaute ich, wie um mich abzukühlen oder mich zu erden zu einem Blumenstrauß hin, der in einem gläsernen Krug auf dem Fensterbrett aufgebaut war, während vor diesem Hinterbild Schlak eine dunkle Kappe, bestickt mit dem Logo der stw aufprobierte, um daraufhin, ebenso provisorisch, Durs Grünbein zu verhöhnen. Aber die Zunge blieb drin.
Der spiritistische Vibe ließ auch später nie nach, als das Publikum sich zerstreut‘, die Gesprächsrunden kleiner geworden waren.
Viel hätte nicht mehr gefehlt, nur meine Einbildung, dass Schlak plötzlich, mit dem Rücken an ein geparktes Auto gelehnt, seinen Kopf hintüber geworfen, um Feuer auszublasen oder ähnliches.
Daheim dann noch «Hart aber fair».
02.09..
Bei genauerem Hinschauen, und ich kann nun einmal nicht anders, wuchs der Verkäuferin in der Bäckerei an der Hauptstraße von Sassnitz eine Schifferkrause aus dunklem Barthaar unter dem Kinn. Und im Regal hinter ihr, in dem die eingedellten Laibe ruhten, war über der oberen Etage eine Sachsenflagge aufgespannt.
Die Bäckerei war uns empfohlen worden. Ein Familienbetrieb, womöglich der letzte. Die handgeformten Kornknüppel sind hier die Spezialität.
Man ist im Osten doch immer und immer noch auf einer Suche nach dem Ursprünglichen, nach irgendwelchen Traditionen, nach den guten Dingen, von denen es ja hieß, dass es sie noch gäbe.
Angesprochen auf die Landesflagge — ungewöhnlich, da Rügen doch zu Mecklenburg-Vorpommern gehört — sagte die Verkäuferin, dass ihre Familie aus «stolzen Sachsen» besteht. Auf einem Blech in der Vitrine lagen bunt bemalte Kekse. Dazu ein von Hand geschriebener Hinweis, dass die dabei verwendete, gelbe Farbe nicht für den Verzehr von «hyperaktiven Kindern» geeignet ist.
Man kann dort natürlich auch ausschließlich mit Bargeld zahlen. Und über dem Eingang zur Apotheke nebenan hängt ein breites rotes Banner, hergestellt in einer Druckerei, auf dem in weißen Lettern steht Ist Thomas Kaul Statthalter einer bandenmäßig organisierten kriminellen russischen Vereinigung?
So ist es, bis auf Erfurt und Leipzig, halt oftmals im Osten. Und die Irritation entsteht vor allem dadurch, dass sich diese Szenen im ostdeutschen Stil, dass sich der Ost-Pop oder wie auch immer, mit seinem Changieren zwischen Unbeholfenheit und Dreistigkeit in den makellos sanierten Kulissen seiner Trutzburgen ereignen.
01.09.
Frühstück auf Rügen, im Hotel, das genau so heißt, wie die Insel selbst (Rügen).
Es ist schon auffällig, wie sich bei den Ostdeutschen die Leute um die vierzig mit Tättowierungen und Körperschmuck, auch mit Frisuren, Bärten und den für sie speziell hergestellten Moden zu Ostdeutschen stilisieren. Es hat immer einen Hautgout des Outlaws; das Verquere, nicht nur im Denken, vor allem im Look, dient gar nicht dazu, das Individuelle herauszuarbeiten, sondern vor allem, dass man sich gegenseitig sofort erkennt. Mit anders Gekleideten redet man ungern, am besten nicht. Mode als Dialekt.
Dieser Ossi-Look ist weder Dandy noch eine Spielart von Punk. Die Kleidung wird von der Stange gekauft, bei Camp David, Yakuza und diversen Wandermodemarken. Man gibt sich, und ist es vermutlich, outdoorsy, körperlich, kampfbereit.
Interessant ist der Hang zur Individualisierung ab Werk: Die Stücke sind herstellerseitig schon vielfach mit Schriftzügen und Emblemen verziert. Das eigenhändige Beschriften oder Abändern der Mode, wie unter Punks usus, gibt es im Ossi-Pop nicht. Ob das an einer erlernten Abneigung gegen das Selbermachen geht, die aus dem Trauma der extremen DIY-Kultur der DDR stammt, kann ich bislang nur vermuten, werde aber hierzu einst noch genaueres schreiben.
Von meinem Fensterplatz im Sonnenschein aus, die (mitgebrachte) Zeitung lesend, nahm ich über die Morgenstunde auch hin und wieder das Geschehen in diesem Frühstücksraum in den Blick. Wie sie dort, Tacitus hätte es mit «schmausend» beschrieben, Gang um Gang das Büffet vernichteten. Gestocktes Ei und Aufschnitt vertilgend.
Der viril gekleidete Stamm aus tättowierten Mittvierzigern, mit Ringen und Stöpseln in Augenbrauen und Ohrläppchen, bis in die Mimikfalten hinein geschmückt und verziert, schien mir, aus der kindlichen Unmündigkeit des verlorenen Staates kommend, in einer gesellschaftlichen Pubertät angelangt. Auf gar keinen Fall aber wollten sie den in sie gesetzten Erwartungen entsprechen.
Besser im Stehen sterben, als im Knien zu leben, wie es auf der Flagge eines Dachdeckerbetriebes in Brandenburg heißt.
25.08.
Geweckt vom Wind, sogleich mit dem Handtuch im Marienbader Korb zum Schwimmen. Ich war der erste am Beckenrand, die Wasserfläche makellos wie auf der Postkarte von Hockney.
Kühl und angenehm chloriert, ein Kuss nach dem Zähneputzen. Noch immer, auch am Ende der zweiten Saison ahne ich nicht, warum ich beim Schwimmen anderes denke, als beim Gehen. Warum meine Gedanken einen anders gearteten Verlauf nehmen. Aber Zahnschmerzen fühlen sich ja auch anders an als Kopfrechnen, nicht wahr?
In der Zeitschrift für Ideengeschichte, die beinahe komplett den Erinnerungen an Siegfried Unseld gewidmet erschienen ist, kommt an zwei Stellen die Anekdote vor, wie er, als Soldat, während des Rückzuges von der Krim aufs offene Meer hinaus schwimmend den Feinden entrinnt. Beide Male wird betont, dass der Wahrheitsgehalt dieser Anekdote nicht als gesichert gilt. Aber der im Notfall amphibisch werdende Mensch bleibt haften. Es gibt noch eine andere Anekdote, die Stephan Opitz gerne erzählt, auch da spielt das Schwimmen des Unselds eine tragende Rolle.
Mein Sprung in das unberührte Wasser machte mir den Morgen gleich so schön, dass ich einfach nur weiter und weiter schwamm. Obwohl die anderen bald so viel an Aufwallung erzeugt hatten, dass aus dem leichten, schnellen Wasser, schwereres geworden war.
Im Gespräch mit Michael Krüger (in der Zeitschrift) sagt der dann auch, dass jeder Schriftsteller auch am liebsten einen Verlag ganz für sich alleine hätte. Und auch ich hätte gerne ein 50-Meter-Becken nur für mich.