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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

16.04.

Wälder, der Wald gewinnt jetzt an Tiefe; selbst der Park zieht mich dringlicher in sich hinein.

Am vergangenen Wochenende, auf Rügen, war es sogar tagsüber zu spüren: Allein unter Bäumen und, bloß durch das Sonnenlicht — möglicherweise war Caspar David Friedrich ein guter Maler, kein guter Künstler. hat er schon geschaut, was wir dort schauen durften?

Milchig grüne Wasser und die Kreide von den Felsen, über die Hände verteilt, machte die Haut seidig wie sonst nichts.

Es war dort, außer uns, kaum ein Mensch.

Auf dem Weg, eine Schnecke, mit butterhellem Gehäuse.

Ich bin für sehr viele Dinge mehr dankbar (morgen mehr)—

Islands in the stream

That is what we are.

Und aus dem Nirgendwo der Tiefe schallt der Ruf «Shoo-whoo»!

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09.04.

Manchmal ergreift mich das wilde Bedürfnis, mir sämtliche Bücher aus Kindertagen noch einmal zu kaufen, um darin vielleicht eine Antwort zu finden: wer ich bin.

Am Denkmal für die ermordeten Sinti unf Roma, von dem ich bislang nicht einmal wusste, wo es sich befindet, sollte gestern, am Roma Day, die große Roma-Parade beginnen. Als ich dort eintraf, auf der Mitte einer kurzen Allee, die vom Brandenburger Tor aus hinüber zum Reichstag führt, hatte sich lediglich ein Schärflein um einen bunt bemalten Lastwagen versammelt, aus dessen Ladefläche eine kleine Bühne ragte wie diese Schreibplatten aus einem Sekretär.

Von der Romaflagge, die es ja auch noch immer nicht bei den Emojis gibt, waren zwei Exemplare vorhanden. In das eine hatte sich ein kleiner Junge eingewickelt wie in ein Cape. Das andere war an einer ausziehbaren UKW-Antenne befestigt und wurde im sommerlich warmen Frühlingswind umher geschwenkt.

Zwei ältere Damen waren in ihren Warnwesten mit Rückenaufdruck erschienen. Traumverloren wie Audrey Horne tanzten sie zur Musik des Trios auf der Ladefläche. Ihr Tanzen wirkte auf mich eindrucksvoller als der Westenspruch «Omas gegen Rechts».

Katinka, Tochter des Akkordeonspielers ging nach einem Instrumental ans Mikrofon, um Djelem, Djelem zu singen. Hymne der Fahrenden. Mich berührt sie jedes Mal, gleich von wem angestimmt. Seit so vielen Jahren, so vielen Fahrten. Ich weiß noch immer nicht genau, woran das liegt.

Apropos Ricardo Villalobos war nicht gekommen. Auch sonst keine Prominenz. Das hat man ja selten, mittlerweile, dass eine Gruppe überhaupt keine Fürsprecher mehr findet in unserem Land.

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08.04.

Dabei, während wir über Love Inc. sprachen, waren wir unterwegs zum Antikflohmarkt. Dem ersten nach der Winterpause. Aus den lindgrünen Schöpfen der Linden keckerten Grünspechte. Der Duft warmen Ketchups lag in the air.

Rainald Goetz hatte ja einst in Abfall Für Alle klar gemacht, dass er Second Hand in jeglicher Form abstoßend findet. Ekelhaft. Und an jenem Samstag, möglicherweise auch prädisponiert durch den Anblick eines adipösen Alt-Ravers, der um kurz vor neun am hinteren Ende des Bahnsteigs eine kleinere Menge Stimulanz von der Bildschirmoberfläche seines Galaxy 26 Pro weg inhaliert hatte (nasal), roch auch ich den Hautgout des Alten: Vor allem in den verbalen Ausdünstungen der verkaufenden Personen. Als hätte man mir den Stein vor dem Rezeptor weggerollt, erkannte ich um mich herum lauter Rechte. An einem Stand sogar ein Gemälde, das wohl Adolf Hitler zeigen sollte. Das pastös gearbeitete Antlitz Kubitscheks lediglich halbherzig verbrämt von einem davor platzierten Smiley aus Holz.

Noch nicht einmal über Politik, es ging mir um Bernstein, geriet ich im Fieber einer anstehenden Rügenfahrt mit einem der Typen dort in heftige Auseinandersetzung, im kurzen Verlauf derer er mich des Idiotentums bezichtigte — einfach so. Kurz darauf bezeichnete mich ein Niederländer als «Schweinepriester». Die Nerven, man hört es ja allerhand, boß halt die Band dieses Namens, auch sie aus Baden-Württemberg, sagt oder singt dazu nichts. Auch nicht in Form eines Instrumentals.

Ernst Jünger hat einst eine Anmerkung gemacht, die nicht allein aufgrund der hohen Zahl gebrauchter Angelruten und auch -sehnen dort auf dem Antikflohmarkt auch auf die Antikflohmarktverkäufer als zutreffend erscheint: Der Angler unterscheidet sich vom Jäger durch seine Hinterlist. Durch dieses von Lutz Bachmann geprägte «Aber das wird man doch noch sagen/verkaufen dürfen, Euer Ehren?». Der Jäger, so Jünger, stellt sich dem Wild und riskiert, dass er im Zweifel von ihm umgewalzt wird oder aufgespießt.

Der Angler präpariert eine Falle mithilfe eines Wurms.

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07.04.

Freundschaft verlangt nach Besiegelung. Nachdem ich gut zehn Tage lang still an meiner Demütigung gelitten hatte, erzählte ich Alexander gestern von meinem Reinfall mit dem italienischen Plattenhändler.

In dessen Angebot hatte ich ein Exemplar von Love Inc.s Life’s A Gas zum akzeptablen Preis gefunden, dann aber bei Erhalt des vermeintlichen Doppelalbums feststellen müssen, dass sich in der tadellos erhaltenen Hülle nur eine Scheibe befand. Und dies leider halt die verzichtbare, erste.

Auf meine umgehende Reklamation hin hatte der Italiener mir zurück geschrieben, dass ich den in seinem Beschreibungstext verklausulierten Hinweis «Solo Lato uno» stillschweigend zur Kenntnis genommen hätte mit meiner Bestellung.

Alexander nun, der meine Litanei bis zum Ende angehört hatte, erzählte, dass ihm mit derselben Aufnahme etwas vergleichbares widerfahren war. Allerdings hatte sich in seiner tadellos erhaltenen Hülle der von mir gesuchte zweite Teil des Doppelalbums befunden.

Zusammen besaßen wir nun das komplette Werk. «Ein bisschen wie mit den Nuklear-Codes», sagte Alexander.

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05.04.

Die Wunder sind schwerer noch zu finden dieser Tage. Heute ragte aus dem Wirtschaftsteil eine kl. Nachricht heraus, dass der letzte, noch fehlende Turm der Sagrada Familia in Bälde vollendet würde – warum aber diese Frohe Botschaft im Wirtschaftsteile verkündet wurde und nicht im Feuilleton — wo aller Wahrscheinlichkeit nach Claudius über die Grünen schreibt — man weiß es nicht (also ich).

In einer Zeitschrift aus dem Jahr 1920, die ulkigerweise «Das Tagebuch» hieß, fand ich einen Text eines ominösen O. Robins, einem Amerikaner, der damals Gespräche mit Lenin geführt hat. Interessant, dass Lenin sich an einem als bizarr geformt vermerkten Tisch hat sprechen lassen. Auch schreibt der Ami, dass Lenin auf die Fragen nie eingeht, stattdessen stundenlang über Historisches labert; Fakten also, auch Scheinfakten darunter, die einem als Nicht-Russen schleierhaft sind, wahrscheinlich auch bleiben sollten. Die «reiche» Kultur dieses wunderbaren Landes ist ja teilweise durch die Aggression des Westens in Vergessenheit abgedrängt worden.

Sehr gut kann ich mich dahingehen erinnern an die Minute mit Rainald im alten Schuhmanns an der Maximilian-Straße, in der ich ihn befragen konnte: Warum Berlin!

Ähnlich irgendwie sind wir dann letztlich alle hier gelandet, niemand von uns gern.

Der Nachbar, wie die meisten hier Ex-Stasi, räumt heute den Hinterhof auf, dass, rechtzeitig zum Herrentag, in Bälde das sommerlange Saufen vor den Mülleimern beginnen kann.

Aber wäre ich denn zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land, mit anderem Klima noch glücklicher?

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