Zum Inhalt springen

2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

01.04.

Müller zitiert Werner Hegemann über König Friedrich Wilhelm I., dem «die Sklaverei, in die er sein Land herabgewürdigt hat, schließlich selbst zuwider ward. 1738 wollte er sich in das republikanische Holland zurückziehen, um dort als ‹freier Bürger› zu leben. Er nannte sich selbst gern einen ‹guten Republikaner›.»

«Oft hat er beliebige Bürger zum Mittagessen ins Schloss geladen. Dem Berliner Bürger, der sich von dem bis ins Innere aller Häuser dringenden Spionagesystem des Königs umgeben wusste, konnte nichts Peinlicheres zustoßen. Denn mit einer Tracht Prügel entlassen zu werden, war die mindeste der damit verbundenen Gefahren. Stets drohte Zwangsarbeit im nahen Spandau. Auf derartige königliche Überfälle mit allen Waffen der Scheinheiligkeit, Biederkeit und des manchmal rettenden Witzes vorbereitet zu sein, galt als Selbsterhaltungspflicht jedes, der die Berliner Straßen benutzen musste.»

Das ist die tiefe Prägung, die in den Erscheinungsformen der Berliner und Brandenburger (wir reden vom herrlichen Preußen) bis heute nachschwingen. Die Prägung erfolgte laut Hegemann und anderen von klein auf, da «selbst Schulkindern nachgesagt wird, dass sie sich mit den passenden Lügen auf die zudringlichen Fragen des unvermutet auftauchenden Königs vorbereiten mussten.»

In der weiteren Geschichte wird dieses Verhalten unter einem strafenden Spionagesystem bis ins Rückrat eingefleischt. Kein Wunder, dass es mittlerweile Reichsbürger gibt, die es zurückdrängt an den Ursprung. Die sich nach dem guten König sehnen wie andere nach Japan oder früher nach den USA.

Die Story mit dem Grab im Weinfass ist verbürgt.

Heute früh wunderbar breit gestrichener Sonnenaufgang.

Weiterlesen

31.03.

Abends bei Niko. Endlich, wie ich sagen muss — im Nachhinein. Bis ich dann tatsächlich dort war, vor Ort, hatte ich freilich befürchtet, dass es dort ganz grauenvoll sein würde et cetera.

Doch sitzt man dort in Wahrheit eben wunderbar und genau so, wie man schon immer sitzen wollte. Also ich vor allem: Allein und doch umgeben von den anderen; die man nicht kennt, trotzdem beobachten kann. Es gibt jede Menge zu schauen. Ein katzenhafter Ort.

Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass es mittlerweile derart viele Japaner gibt in Berlin. Getränke und Speisen von daher auch von allererster Güte. Tolles Waschbecken auch im Souterrain aus einem einzigen Block rötlichen Steines geschnitzt oder gefräst.

Hier könnte ich jeden Abend hin. Sagen wir: an jedem dritten. Was eindeutig auch daran liegen mag, dass man dort als Gast nicht vom Personal behelligt wird. In Berlin ein ganz neuartiges Konzept: Man bringe seine Wünsche vor, sie werden erfüllt. Keinerlei Kommentar.

Allmählich wird es zu spät, noch nach Japan zu ziehen, zumal ich auch nicht wissen will, ob es dort in Wirklichkeit auch so gut ist oder vielleicht doch auch ein wenig schlechter.

Daheim dachte ich noch länger darüber nach, aus welchem Grund wohl die Berliner derart anstrengende, ärgerliche und größtenteils auch unverschämte Zeitgenossen sein müssen dergestalt, dass mir der Kontrast zum hingebungsvollen Japaner derart krass erscheint.

Die Antwort fand ich in einem älteren Band von Heiner Müller. Und der Schlüssel scheint mir, dass es sich bei dem Konzept des Berlinertums gar nicht um ein zeitgenossenschaftliches handelt. Sondern um ein historisches; um eines von super langer Dauer immerhin.

Weiterlesen

27.03.

Bei der Zubereitung einer guten Brühe für die Maultaschen morgen, am Gründonnerstag, fiel mir freilich jene Begebenheit aus einer Warteschlange auf die Conch-Soup von Jamaika wieder ein.

Diese dort traditionelle Suppe wird spätmittäglich in Zelten ausgeschenkt, währenddessen aus den umliegenden Kapellen der Gospel erschallt. Ursprünglich wurde dieser Eintopf wohl aus den gigantischen Muscheln hergestellt, deren Schalen es heute auch bei Ikea und Hay gibt, um das Badezimmer der Girl-Bosses zu dekorieren, da das schimmernde Innenleben dieser Muscheln an die Vagina erinnern soll (wie so vieles).

Doch ist das Fleisch dieser Schalentiere mittlerweile rar, wie es unter Schweizern hieße.

However, standen wir dort auf Jamaika also in einer dieser Schlangen, es war noch früh am Nachmittage, und der Koch unter dem Zeltdach rührte in einem mächtigen Bottich ohne e die Suppe an.

Schamlos, wie ich es fand, schnitt er währenddessen zwei große, zumindest drei Liter umfassende Tüten mit Suppengranulat von Maggi from Switzerland auf. Dazu schüttete er, ebenso aus der Schweiz importiert, ein Säckli MSG aus Basel dazu, dessen Qualität ja mittlerweit äquivalent zum Kokain aus Darmstadt von den Gourmets weltweit hoch geschätzt wird.

Und, entre nous: Diese Suppe mundete wunderbar. Dass die Schweizer ihre koloniale Vergangenheit unterdrücken, hat vor allem mit ihrem Fokus auf das Gegenwärtige zu tun.Mit ihrer Angst vor dem Übermorgen.

Weiterlesen

26.03.

Für die milde Witterung in diesen Tagen hält die Garderobe der Frauen von Prenzlauer Berg den Trenchcoat bereit. Die Männer gehen in Fallschirmspringerhosen an mir vorüber.

Die Winterfütterung der Augen

Kann jetzt allmählich beendet werden.

Magnolien, Flieder

Das Buschfeuerwerk der Spiräen, in Hüfthöhe

Ich blühe auf.

Weiterlesen

23.03.

Gestern — oder sollte ich hier vielleicht doch jestern schreiben? am Jahrestag der Pandemie: Ausflug nach Luckenwalde.

Mir war, vor allem auf Tik Tok, eine ältere Sendung in Erinnerung gerufen worden, in der Frank Rosin dort ein Waldgasthaus heimgesucht hat, um der mir irgendwie sympathisch scheinenden Wirtin die Leviten zu lesen.

Nach angenehmer Fahrt im Regionalexpress führte die Wanderung über den Luckenwalder Skatewanderpfad in den Wald. Auffallend viele Tore und Pforten, die, übermannshoch und an den Oberkanten noch mit Zacken oder Stacheln bewehrt, den fremden Blick in die größtenteils von Schrottimmobilien bestandenen Grundstücke verhindern sollen. Der desolate Zustand der Gebäudemasse steht freilich in einem krassen Gegensatz zu den akurat geteerten Straßen und einer astrein gefliesten Fußgängerzone.

Im Hinterhof eines Trockenbauers war eine piratendunkle Flagge aufgezogen mit der Aufschrift «Lieber im Stehen sterben als im Knien zu leben». Der Waldgasthof, mittlerweile in Waldidyll umbenannt, hatte geschlossen.

Hannah Goldfield hat jüngst im New Yorker von dem Phänomen berichtet, dass Restaurants jetzt vermehrt auf eine Form des Social Clubs setzten, die ja auch bei der deutschen Ganja-Legalisierung eine tragende Rolle spielen sollen: Solche Restaurants der neuen Art sind nur noch theoretisch öffentlich, im Grunde muss man ein informelles Mitglied deren Gästeschaft werden, das läuft über Bürgschaften, wie man es hierzulande vor allem von den Golfvereinen her kennt, und man entrichtet einen gewissen Vorschuss auf die zu verzehrenden Mahlzeiten in Form eines informellen Jahresbeitrages im Voraus.

Ob aber das Waldidyll im Elsthal zu Luckenwalde seit kurzem als solch ein Social Club firmiert, konnten wir im weiteren Verlauf des Tages nicht mehr erruieren. Interessant war dann aber doch noch eine Plakette an einer Fassade, die darauf hinzuweisen helfen sollte, dass dort, im einem Gebäude, das früher noch an dieser Stelle gestanden hatte, die SPD gegründet worden war. Mittlerweile befand sich dort ein sogenanntes Job Center der Agentur für Arbeit. Es war riesengroß. Beinahe größer als Luckenwalde selbst.

Mittagstisch in «Steffens Kantine»: Backfisch, Rahmgemüse, Reibekuchen mit Apfelbrei. Durabel.

Weiterlesen