Zum Inhalt springen

2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

20.11.

Das Leben lässt sich halt nicht imitieren: An dem Züricher Abend ging es in meinem Gespräch mit Thomas auch um die nicht unwesentliche Frage «Warum Schallplatten kaufen?» Die Antwort, im Grunde selbstverständlich, aufgrund ihrer Wesenshaftigkeit. Und heute früh setzte ich dann die Nadel auf (oder in) die erste, die ich seit langem — seit dem Juli 2012 immerhin — mein eigen nenne. Auch dieses sphärische Nichts, ohne Knistern, ohne Rauschen; ein Klang, der vielleicht nur sich selbst mitteilt, der Sound des Tonträgers Vinyl gehört zur Wesenhaftigkeit der Platte.

Ist dieses Medium jetzt anwesend, was sagt die fühlsame Flamme?

Contre la lune maléfique: Aber in diese Erinnerung an jenes Gespräch mischt sich angeblich ebenbürtig ein die von einem ganz anders gearteten vom darauffolgenden Abend, als Oliver sich über das Haarwachstum in seinen, in unser aller Ohren beklagte, das nun einmal das Altern mit sich bringt. Dagegen ist, natürlich, wie es mich verlangt zu sagen, kein Kraut gewachsen.

Ich habe ihm dann die Struktur des menschlichen Haares mit der Fingerspitze in den Tau an seinem Glas gemalt. Zur Verdeutlichung.

Einst wird das Gedächtnis aus diesen beiden Rohstoffklumpen wunderschön zart ziselierte Erinnerungen kristallisiert haben.

Total unecht, deshalb erst wahr.

So war es, so waren wir.

Ich vor allem.

Kein Grund, deshalb gleich die Po-Polizei zu rufen.

Weiterlesen

18.11.

Zurück zur Blumensprache!

Meine Lust an der neuen Häuslichkeit wird, wie es ausschaut, in diesem Winter der neuen Häuslichkeit nicht unmaßgeblich von den Internetradiosendungen des Thomas Rhein bestimmt. Teilweise handelt es sich bei diesem Namen um ein Pseudonym, doch ist der Discjockey von Rhein 674.fm im Kern jener Thomas geblieben, den ich vor ein paar Tagen in Zürich auf Renés Vernissage kennengelernt habe (es scheint schon wieder s—————————>o lange her ; )

Ungewöhnlich lange Sendungen, in denen vor allem auch noch gesprochen wird. Und der Peak wird freilich erreicht mit jener Sendung, in der René mitmischt. In jeder dieser Sendungen ist ein anders spezialisierter Plattensammler zu Gast. Die Sendung mit René läuft bei Mixcloud unter der Rubrik «Education».

Ich habe es nicht nachgemessen aber vom Gefühl her würde ich behaupten, dass in den Sendungen zu gleichen Teilen den Studiogästen wie der Musik das Wort erteilt wird. Und natürlich interessiere ich mich für Musik. Aber zu gleichem Theile halt auch für die Sprache.

Und die ist wahrlich bemerkenswert in diesen Sendungen, denn Thomas lebt in Köln, er ist zum Teil auch Plattenhändler und selbst dieser Plattenladen befindet sich dort (und soweit ich es beurteilen kann, haben es auch die meisten seiner Studiogäste nicht weit).

Ich höre das und muss freilich freilich andauernd an Hamburg in den frühen neunziger Jahren denken; dass dort damals auch so geredet wurde — über Musik, über alles im Grunde. Und sämtlich in diesem eigenartigen, zu gleichen Teilen albernen und auf eine frappierende Weise abgeklärten Ton. Ich glaube, dass das an Diedrich Diederichsen lag, damals, als der in seiner aktiven Zeit noch prägend wirken konnte auf den musikalisch-politischen Komplex.

In Köln scheint diese prägende Wortgewalt und der Definitionszwang sich frigidisierend ausgewirkt haben auf sämtliche Nachfolgeregungen. Stattdessen wurde die Ära Diederichsen konserviert. Man redet dort heute noch in Erinnerung an einen, der nur einen Abend lang zu Gast war.

Schön!

Aber würde sich denn tatsächlich etwas tun, wenn diese Nische im Bundestag repräsentiert würde?

Was sie ja nicht wird (nur wer nichts wird, wird Wirt).

Wer hätte denn auch ahnen können, dass Politik eines Tages uns alle angehen könnte?

Weiterlesen

17.11.

Manchmal stanzt das formlose Geschehen einen Phänotypen aus. Helden sind mir so nur selten begegnet. Aber gestern erst ein Querulant.

Er hatte vor mir in der Kassenschlange im Kaufland gestanden, wo es ja alles gibt, im Kühlregal sogar den in Schwarz, Rot und Gelb gestreiften Smoothie mit dem Handelsnamen Danke Merkel, also tatsächlich alles — bloß halt keine Amarena-Kirschen (weil jetzt Winter ist). Er immer noch vor mir, weil er ein kleiner Mann ist, geradezu zierlich von Wuchs, bin ich verhältnismäßig spät erst auf ihn aufmerksam geworden.

Er hatte mich auf sich aufmerksam gemacht. Ein Rascheln. Ich schaute auf seine Hände, die eine Verpackung von Rispentomaten mutwillig zerstörten, während sie vor ihm auf dem milchig schwarzen Kassenband lagen. Alte Hände. Sie hatten ihre Mühe mit der Zerreißung des synthetischen Materials. Ein alter Mann. Ich schaute dann aber nicht mehr weg, weil ich den Vandalismus von Alten nicht kannte bislang.

Die Kassiererin eschien ihn zu kennen. Ohne einen Kommentar nahm sie von ihm die angeblich defekt angebotene Ware entgegen und ließ das Tomatenpäckchen mit betont achtloser Geste in einen Eimer zu ihren Füßen plumpsen. Und scannte unverdrossen seine restlichen Kaufwünsche ein.

Freilich dauerte es ewig, bis er die nötigen Münzen aus seinem winzigen Portmonnaie gefingert hatte. Die Kassiererin sagte dazu nichts. Erinnerte ihn aber, bevor er sich zum Gehen wandte an «die Bananen», die er dann — zwei Stück — aus dem Brustfach seines DDR-Mantels zog. Knurrend: «Als ob ich die klauen wollte.»

«Ich bin die einzige, bei der er noch einkaufen darf», sagte die Kassiererin zu mir, als er außer Hörweite war. «Bei allen anderen Kasisiererinnen hier hat er Hausverbot.»

In Zürich hatte mich zu später Stunde, die ja gemessen an dem Rahmen dieser Feier, eine noch frühe war, Olivier gefragt, ob ich denn wirklich ein Jahr älter als Ernst Jünger werden wollte.

Und Patrick, Kung-Fu-Panda zitierend: Yesterday is the past, tomorrow is a mystery. Today is the present and that is why we call the present a gift.

Weiterlesen

15.11.

Könnte gut sein, dass ich der letzte Träumer bin. Stell‘ Dir das mal vor.

Die ganze Heimfahrt über habe ich aus dem Fenster geschaut. Abends war ich müde und wir machten ein Feuer. Im Kamin.

Die Flammen hinter der Scheibe sind anders als Landschaft, die vorüberzieht. Sie muten lebendig an, obwohl sie das Gegenteil des Lebens selbst verkörpern («Flamme bin ich, sicherlich»).

Die Flamme ist uns gegenüber wie Musik, in der wir uns gänzlich aufzugehen; sehnen.

Und wenn mich dann jemand bitten könnte, jenem einen Liede zuzuhören, zudem ich selbst geworden war.

Flamme. Mein Bajazzo-Moment.

Weiterlesen

13.11.

Abschied von Zürich — im Nebel, bezeichnenderweise. Immer wenn ich dann nach einer Zeit dort nach Deutschland zurückkehren muss, kommt mir mein Vaterland wie ein entfernter Verwandter vor, den ich besuchen fahre; der ein bisschen zu viel isst (aus Tüten) und sich ein bisschen schlechter anzieht, als er sollte.

Wie es wohl kommt, dass ich auf den Straßen Zürichs auch keine glücklichen Gesichter ausmachen kann?

Die NZZ hatte gestern eine ganze Seite zu dem von ihr befürcheten Niedergang der Schweizer Bahn. Als Anlass angeführt waren drei Verspätungen in den vergangenen Monaten. Zudem gibt es in der Westschweiz derzeit fortwährende Probleme aufgrund eines unter dem Gleisbett falsch verlegten Rohres: «Es drohen deutsche Verhältnisse».

Bedas Geburtstagsfest wie immer eine schäumende Feier des Lebens. Bis auf zwei Ungeimpfte waren wieder alle da.

Zu später Stunde gab es tolle Szenen mit einem Porschefahrer aus der Bodenseeregion. Donna Summer, Grand Illusion.

Weiterlesen