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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

11.11.

Am Morgen war ich in der Früh bei wolkenlosem Himmel losgefahren. Aber gleich hinter Leipzig drängte von Hessen her der Nebel heran.

Nie zuvor, so stieg er mir zu Gemüte, hatte ich Deutschland noch schöner geschaut; zu Gesicht bekommen.

Die Dümmlichkeiten des Bahnpersonals, ich vergaß sie beinahe ganz.

Je südlicher ich fuhr, desto nebliger wurde es um mich.

Als ich in Zürich angelangt, war dort alles weiß.

10.11.

Abends wurde ich dann beinahe von einem Fahrrad umgefahren, von einer dieser fahrradfahrenden Frauen, die hier vorzugsweise auf dem Trottoir unterwegs sind. Nach Sonnenuntergang auch oft ohne Licht.

Warum, das weiß ich nicht (ohne leider). Ich nehme an, sie haben es sich einstmals angewöhnt, als sie ihre Kinder auf Kinderfahrrädern eskortieren mussten und sind «irgendwie» dabei geblieben?

Und auf der kleinen Terrasse vor dem Kosmetikstudio «Belle de jour» im Nachbarhaus saßen dann noch zwei — die eine älter, die andere jünger —, und rauchten Zigaretten. Die Nachtluft war kühl, feucht, neblig. Die Frauen unterhielten sich über die Pandemie. Dann husteten sie noch eine Weile vor sich hin. Jede für sich.

Und heute in der Straßenbahn las eine laut aus ihrem Telefon vor: «Jetzt wollen die auch schon 2G im Supermarkt machen!»

Da nahm ihr die andere das Gerät aus der Hand, las kurz um daraufhin festzustellen: «Nur bei Medien und Mode. Essen und Getränke darf man auch weiterhin.»

Da sagte die erste nach einigem Nachdenken «Ich denke mal, das gilt auch bloß für Discounter — Wo wir halt einkaufen.»

Dass bei ihr ein Klassenbewusstsein stark ausgeprägt war bishin zur Stigmatisierung, tat mir fast leid.

Wenig später wurde ich in einem Laden einmal wieder darauf hingewiesen, dass ich hier erst ab einer Kaufsummme von 30 Euro bargeldlos bezahlen kann.

Man hat hierzulande schon viele Freiheiten zur Hand.

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9.11.

Nach den wenigen Schauerregen am Sonntag und Samstag zeigt sich die Welt am Wegesrand wie eine Stadt, die, einst prachtvoll und bunt, jetzt zunehmend unter Beschuss geraten, zunehmend durchsichtig geworden ist. Wie Spitze, ein abgenutztes Gewebe oder wie eines der in Unzahl gefallenen Blätter selbst, das bald sein Gerippe, das Aderwerk zeigt in Entblössung, wenn man bloß lange genug mit der Drahtbürste darauf herumgeklopft hat.

Fünf saßen um einen Topf mit Congee, mit blubberndem Reisbrei herum. Das war am Samstag gewesen, abends, das Lokal, in dem es diese köstliche Speise, den Porridge der Indochinesen, gibt, hatte ich im Sommer im Zufall entdeckt. Immer mal wieder hatte ich mich bis dahin schon gefragt, wann endelijk endelijk diese Speise zu uns herüber kommen würde. Jetzt ist sie da.

Was trinkt man dazu? Wie ist man das?

Auf einer der Platten lagen halbierte Entenküken (längs), daneben die Dotter aus Enteneier (mit dem Eiweiß wird der Teig für frittierten Tofu angerührt, damit werden Frühlingsrollen zusammengeleimt) — Werden, Sein, Seim.

Auch Du kommst noch in die große Reissuppe, pass bloß auf!

Und heute, draußen hinter dem alten Schwimmbad, war wieder der Grünspecht zu hören. Vernehmlich weil laut. Lauter noch als im Sommer, wie es mir vorkommen wollte. Das liegt am Wegfall der Schalldämpfung. Es fehlt dort das Laub. Sein Spottgelächter wirkte jetzt irrlichternd auf mich, gerade so, als ob er dem Gegenstand seines Sommers, der ihm sommerlang zuhanden war, hinterherjagen müsste.

Ich bin all hier. Vor dem Fenster schaukeln zwei Amseln in den Zweigen der Esche, die bloß noch wenige rote Perlen hat.

Dann sie schlagen, meine Stunde. Jede Sekunde ist es soweit. Mein Haus ist bereit.

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5.11.

Wie sind wir hierher gelangt? Auf die Frage weiß ich jetzt erst recht keine Antwort mehr; vielmehr aber weiß ich, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt, die sich mündlich geben ließe.

Eine Antwort lässt sich nur erzählen.

Neulich, als ich mit Christian im Sonnenschein spazieren war, fiel mir wieder einmal ein, dass es in meiner Kinderzeit und auch noch die Jugendjahre über hieß, «wir» zählten jetzt schon über drei Milliarden.

Die gesamte Menschheit, damals.

Und heute — zehn.

Alles, was man schaffen muss, schafft man zu zweit viel besser.

Aber wer könnte das denn für uns sein. Unser — sozusagen: Partner? Unser Gegenüber; die bessere Hälfte des Menschengeschlechts?

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4.11.

Gestern den Osterhammel beendet. Das Ende kam für mich überraschend, da ich in der rechten Hand davon noch einige hundert Seiten zu halten meinte, aber auf einmal stand dort vor meinen Augen «Schluss».

Wie früher bei Filmen (oder noch früher sogar in Romanen, bei Mann freilich Finis).

Zum Ende hin dreht er noch einmal auf, unweigerlich steuert das 19. Jahrhundert und in diesem Omnibus «so groß wie die Welt» die ganzen vorigen als seine Insassen auf den Weltkrieg zu. Der aber außerhalb des von Osterhammel selbst gesetzten Rahmens seiner Erzählung liegt und lediglich ex negativo zur Wirkung gebracht wird.

In einem Fazit fasst er dann noch die fünf wesentlichen Veränderungen zusammen, die das 19. Jahrundert charakterisiert haben. Unter anderem «die Effizienzsteigerung beim Militär. Die Tötungskapazität des einzelnen Kämpfers wuchs.» Aus seiner Sicht allerdings nicht als unmittelbare Folge der Industrialisierung, «sondern als Prozess, der sich zu ihr in verbundener Parallelität entwickelte.»

Das hat Ernst Jünger ganz genau so gesehen. ob Osterhammel auch die Stahlgewitter mit einbezogen hat in seine Analyse? Das nachfolgende Register verzeichnet nur die von ihm zitierte Literatur.

Elon Musk jedenfalls, so ist nun halt das 21., setzte gestern einen Tweet in die Runde, in dem er seine beinahe abgeschlossene Lektüreerfahrung des Storm Of Steel meldet: «Intense. Great Book.»

Was soll er denn auch sonst sagen?

Das Barometer, fallend: bei 1050 Hektopascal.

Storm Of Steel unschöne Übersetzung btw.

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