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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

2.11.

Schon längst bevor die Eingangstüre aufgeschlossen wird, hatte sich vor dem Medizinischen Versorgungszentrum MVZ eine Schlange gebildet. Jeder, der jetzt noch durch die Seitengasse zu den Wartenden stieß, wurde mit stillem Kopfschütteln und ähnlichen Gebärden begrüßt.

Die Schwester, ich kannte sie nicht, die mir Röhrchenweise Blut abnahm und die damit gefüllten Röhrchen jeweils mit routinierter Beiläufigkeit in das Silber einer Nierenschale klappern ließ, erklärte mir, dass es nach jedem Wochenende diesen Andrang auf die Sprechstunde gibt. Über das Wochenende, besonders während des Sonntags hat sich dann eine Menge Einsamkeit angestaut.

Es gibt, behauptet sie, Montags bei ihnen oft keinen einzigen Fall, dem mit medizinischen Mitteln geholfen werden könnte. Die Leute suchen hier das Gespräch. Zumindest irgendeins.

Ich fragte die Schwester, ob sie von den Plauderkassen gehört habe, die es jetzt in holländischen Supermärkten geben soll. Hatte sie nicht. Fand die Idee aber gut.

Ich würde auch selbst gern als Plauderkassierer arbeiten. Nicht ausschließlich, aber ein Mal in der Woche durchaus.

Draußen vor dem MVZ lag ein Krankenblatt auf dem Trottoir, malerisch von herabgefallenem Lindenblättern bedeckt. Ein entzündetes Auge war abgebildet, blau starrte aus seiner Abbildung heraus, wie der Himmel.

Schon vor 61 Jahren war Arno Schmidt aufgefallen, dass «In der Nacht vom 1. zum 2. November 1960 ein schlagartiger Blätterfall erfolgt war: weite Gebiete müssen damals sofort rostrot gewirkt haben.

In Bargfeld stehen Buchen. Hier wirkt alles vergilbt.

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1.11.

Über die Stimmen aus dem Computer, aus dem System, gar über die sogenannte Künstliche Intelligenz (K.I.) sollte man besser keine Witze machen, aber wenn es am ersten November draußen grau ist und es gießt, wie es sich gehört, und der Getränkebringdienst schickt eine Email mit dem Betreff «Zeit für deine Erfrischung», dann muss ich das unpassend finden. Vielleicht sollte man es sich generell abgewöhnen, im Umgang mit den Maschinen weiterhin Nachsicht zu üben; immer so, als stünde ein Durchbruch demnächst bevor. Aber immer nur demnächst.

Wobei es sich im Fall des Getränkehändlers nicht um ein technologisches Problem handeln wird, sondern um Nachlässigkeit. Den vergangenen Freitag habe ich überwiegend in sogenannten Hotlines verbracht (nichts un-hotter als das), oftmals hatte ich es dort mit Gesprächspartnern zu tun, die mir zwar helfen wollten, das aber nicht konnten, weil die für sie programmierten Systeme das nicht zulassen sollten. Dabei ging es um technischen Support. Die Ausnahme war, für mich freilich verblüffenderweise: Die Bahn.

Offenbar handelt es sich bei diesem viel (und dabei noch besonders viel von mir) kritisierten Unternehmen tatsächlich um eines, dem die Transformation gelungen ist und das mittlerweile online im Äther unvergleichlich besser funktioniert als drüben noch auf Schienen in der physischen Welt.

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9.10.

Zurück in der Alten Heimat. Ich wünschte, dass ich behaupten könnte, es hätte sich nichts verändert, seitdem ich zum letzten Male hier gewesen bin.

Dabei reichen offenbar vier, fünf Wochen schon aus und während derer tut sich eine Menge. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Mais früher auch so lange noch auf den Feldern stand. Es hat jetzt damit zu tun, dass die Bauern nicht länger an den Kolben interessiert sind: die Pflanze an sich wird als reif zur Ernte betrachtet und dann wird das gesamte Feld in einem Zug abgemäht und kleingehächselt. Es geht hier um den Anbau von «Biomasse» — ein unschöner Begriff, gewiss. Am Ende sind wir das doch alle.

Die gehächselten Felder werden später zu Treibstoff vergoren. Zum Mähen und Hächseln und auch noch zum Abtransport der Biomasse werden übertrieben proportionierte Fahrzeuge der Marke Fendt™ eingesetzt, die an die Agrarkultur der Sowjetunion denken lassen. Ob diese Mutanten selbst mit Biosprit betrieben werden, scheint mir fragwürdig. Den Anbau der Biomasse subventioniert die EU zu sechzig Prozent.

Aber selbst das Ende der Welt wie wir sie kennen, hat noch lange nicht das Ende der Welt zu bedeuten, sondern halt lediglich eines jener Welt, wie wir sie gekannt hatten.

Sagte und schrieb Andreas Neumeister.

Lange ist’s her.

Neulich gab es hier einen Stromausfall, abends um zehn, einige fanden sich in ihren elektrisch verstellbaren Ruhesesseln gefangen. Nichts, aber absolut nichts ging mehr. Bis auf die Kerzen.

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