Zum Inhalt springen

2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

7.1.

Der wesentliche Unterschied von Julien Gracq und Stifter scheint mir, dass Gracq die Landschaft nicht hernimmt, um halt irgendetwas zum Beschreiben zu haben. Bei ihm sind die Bäume nicht wehrlos, die Steine nicht länger tot. Er schreibt nicht, um zu bannen (oder seine Leser:innen zu chloroformieren). Und er erzählt die französischen Landschaften so, dass ich es kaum noch abwarten kann, bis wir in kaum mehr noch als einer Woche dort selbst eintreten dürfen.

Sind es drei oder vier Jahre, fünf? seitdem ich zum letzten Mal in St. Paul gewesen bin? Die Lektüre bringt intensive Erinnerungen herauf, die, vermutlich, allesamt ungenau sind; einige sogar falsch. Und in denen ich mich dennoch nur allzu gerne eingefügt sehe, mich auflösen will «wie ein Stein im Himmel».

So fand ich dann heute früh, als die Windschutzscheiben noch vom Reif bedeckt waren, auf dem Mauersims des großen Eckhauses gegenüber, an dessen Fassade seit ein paar Tagen ein Banner von Engels und Völkers hängt, eine handvoll Taschenbücher von Paul Éluard — Schicksal oder Chiffre?

An den 80. Geburtstag von Ernst Jünger erinnert sich Gracq übrigens auch. Er wurde im Schloss auf der Solitude begangen. Vor dem Essen wurde Bach auf dem Cello gespielt und aus den hohen Fenstern schaute man in den schwarzen Wald, der die kleine Lichtung dort umgibt.

Also auch dieses Heimweh wird dann bald gestillt werden.

Weiterlesen

6.1.

Heute früh habe ich am Himmel wieder die Sterne gesehen. Nicht an Weihnachten, nicht in der Silvesternacht, immer war es dort trüb und verschleiert gewesen. Dann noch ein Sonnenaufgang mit zartgelben Säumen über den Dächern und seitdem dieses herrliche, klare, von Wolken reine Blau, für das es im Englischen das schöne Wort Cerulean gibt… Zum Anbeißen schaut das aus (und ich gestehe, ich bin dann auch hinaus und habe einen Bissen zu mir genommen).

Auf dem Küchentisch ein Buch von Julien Graqc: Er schreibt weder heftig, noch schwach und trotzdem habe ich gestern vor dem Einschlafen gleich 60 Seiten tief hineingelesen in sein Tagebuch vom Großen Weg.

Einsam ist es dort in den Landschaften, die er beschreibt; an die er erinnern will. Man ist dort schön alleine, mit ihm unterwegs. Und mir kam kein anderer entgegen.

Wie findest Du mich?

Weiterlesen

5.1.

Launiges Wetter. Ein Aussen, das sich so gar nicht recht zum Innenleben fügen lassen will. Ein warmer Wind, Ill Wind wie in manchem Jahr um diese Zeit (sonst eher am Silvestermorgen) und ich habe das Gefühl, noch immer verkatert zu sein. Vielleicht bin ich es auch, wie dieser Pinguin, zu dem ein anderer sagt, dass er so ausschaut, als trüge er einen Smoking, woraufhin er dann wiederum entgegnet «Maybe I am?»

In diesem Sinne kamen wir am Sonntagnachmittag unter anderem auch auf das Thema Namensnennung in veröffentlichten Tagebüchern zu sprechen: Soll man es bei den Vornamen belassen? Geht man mit anderen so um wie mit Marken und führt sie en bloc mitsamt Nachnamen ein oder — um es literarisch hochwertiger zu gestalten: kürzt man auf Initialen; oder, und dafür hatte unser Gast H. dann ein besonders exquisites Beispiel parat: erwähnt man sogar sich selbst wie einen Fremden von oben herab betrachtet, wie eine Spielfigur ohne Namen, lediglich mit einem Großbuchstaben bezeichnet und denn dann freilich, um es besonders theoretisch wirken zu lassen, auch noch dem eigenen Nachnamen entlehnt?

Hier musste am Ende sogar Flutwein fließen. Wobei ich mir bis heute wie gesagt nicht sicher bin, ob die braven Winzer von der Ahr hier nicht hastig irgendwelche Kontingente irgendwelcher Weine aufgekauft haben zum Zwecke der Spendenaktion — Hatte man denn vor der Flut schon jemals von Ahr-Weinen gehört? Unsere Flaschen jedenfalls erschienen mir allzu malerisch mit Schlamm verschmiert…

Analog zu den Bio-Eiern, an denen immer genau eine Feder pro Karton an genau einem von sechs Eiern klebt.

Weiterlesen

3.1.

Am Donnerstag hatte ich mein Telefon verschlampt. Gleich, nachdem ich dieses (Miss-) Geschick bemerkt hatte, fand ich mich innerlich an einer Gabelung stehen, gleichsam mit der Entscheidung: Was brauchst Du?

Konkret: Brauchst Du ein Mobiltelefon? Die Antwort blieb ich mir schuldig. Und lebte fortan mit der Elastizität des Moments. Ich fühlte mich frei. Anders frei als sonst zumindest. Und gleichzeitig auch leicht schwindlig, wie aus großer Höhe auf die eigenen Fußspitzen schauend, wenn man als Kurzsichtiger mit der ersten Brille vom Optiker kommt.

Freiheit macht nicht bloß arm, sie wirkt auch noch aus anderen Gründen einschüchternd.

Jedenfalls befand ich längst auf dem Weg, um mein Telefon abzuholen, als mir in einer gähnend leeren S-Bahn ein zartes, geradezu winziges Geräusch auffiel. Vage technisch, auch irgendwie lieblich. Nur zufällig fiel mein Blick kurz vor dem Aussteigen auf einen winzigen Vogel, einen Zebrafink mit kirschrotem Schnabel, der dort beinahe kugelrund geplustert auf der Oberkante einer Trennscheibe saß, die Krallenfüßchen manierlich beieinander, und diese piepsenden Geräusche von sich gab.

Ich hatte ihm meinen Zeigefinger hingehalten in einer Geste des come-hither!, aber anstatt darauf zu hüpfen, flatterte er los, über meine Schulter hinweg durch das fahl erleuchtende Großraumabteil.

Die Türen hatten sich geöffnet, ich stieg auf den Bahnsteig aus. Nicht ohne ein paar Meter an dem wartenden Zug entlang und entgegen seiner Fahrtrichtung zu gehen, um den Finken durch die nächste weit offen stehende Tür ins unterirdische Freie der Bahnstation lotsen zu können. Doch meine Lockrufe blieben unerhört. Zumindest aber ohne die erhoffte Wirkung.

Und wie immer, wenn etwas wirklich aufregendes passiert war in meinem Leben, hatte ich nichts zu schreiben dabei.

Weiterlesen

1.1.

Silvester in der Derby-Klause am Stadtrand von Zehlendorf: Von der Dachterrasse aus geht der Blick weit in die schwarze Nacht über Teltow und Kleinmachnow, wo zum Jahreswechsel ein prachtvolles Feuerwerk erblüht. Der Samt wirkt jetzt mit dem Strahlen der Chrysanthemen, den funkelnden Korallenkissen bestickt. Jemand erklärt: «Dort wohnt Buschido». Auch Capital Bra hat dort seit neuestem ein Haus.

Auf der Heimfahrt durch ein irritierend schwach verkatertes und geradezu unvermülltes Berlin machte Friederike in ihrem Tornister den Zufallsfund jenes für uns mythisch gewordenen Wettzettels, den wir einst im August des vergangenen Jahres vor der Rössli-Bar ausgefüllt hatten. Wie es sich herausstellte, beziehungsweise jetzt nachlesen lässt, hatte ich damals sowohl die Koalition als auch den Kanzler und einige Minister korrekt voraussagen können. Die Wette ist damit eindeutig zu meinen Gunsten entschieden und obwohl ich gestern schon wieder eine gegen Friederike verloren geben musste (Felix Blume ist kein Volljurist), habe ich nun unverhofft einen Wettgewinn zu verbuchen, bisschen so, wie in einer Smokingjacke einen großen Schein zu finden.

Das neue Jahr fängt vielversprechend, siegreich an.

Weiterlesen