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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

13.1.

Wenn Julien Gracq über die Kiefer schreibt, geht mir das Herz auf:

«Das Gesicht des Baumes ist häufig nach oben gekehrt, und seine Schönheit ist dem ausgeliefert, was über ihm schwebt — darin sind sich alle Reisenden einig, die den Urwald überflogen haben. Aber nirgendwo in unseren Klimazonen ist das so ausgeprägt wie bei der Kiefer, wo der Blick an allen abgestorbenen, verdorrten und unansehnlichen Elementen hängenbleibt, wenn man unter ihrem Waldgewölbe dahingeht: Haufen vertrockneter Zweige am Boden, hässliche Stümpfe von dürren, entrindeten, niederen Ästen, die im Stamm steckengeblieben sind, Skelette aufgesprungener und kohlig-schwarzer Zapfen vom letzten Jahr, die noch immer im unteren Geäst hängen, düsteres und glanzloses Grün des spärlichen Kleides; die ganze Unterseite des Kiefernwaldes ist eine Produktionsstätte für abgestorbenes Holz und ausgetrocknete Nadeln.»

Als ich selbst nach langer Zeit aus dem Urweald zurückgekehrt war in die Welt, im August des Jahres 2013, hatte ich für eine Zeit lang Obdach gefunden in einem Haus, in dessen Garten ein paar alte, hohe Kiefern standen. Es war sehr heiß in dieser Zeit, es war auch dort, von wo ich hergekommen war, schon heiß gewesen und trotzdem akklimatisierte ich mich schlecht. Oft lag ich deshalb draußen in dem Garten, wo die Kiefern standen und schaute von unten an den sich häutenden Stämmen in ihre Kronen hinauf über denen der Himmel blau war. Und mit Wolken.

Auch im Nachbarsgarten standen dortmals Kiefern; es waren noch mehr, viele. Aber nur ein paar Jahre später starb der Erbauer dieses Nachbarhauses und seine Nachfahren, die Erben gaben umgehend den Befehl, das sämtliche Kiefern gefällt werden sollten, um Platz zu machen für eine Tiefgarage (die Wurzelballen der Bäume waren im Weg).

Zufällig hatte es sich so ergeben, dass ich dort gewesen war in der Nacht zuvor. In einem Winter mit wenig Schnee. Und als ich am nächsten Morgen früh erwachte, röhrten schon die Motorsägen. Und in dem ehemaligen Vorgarten des Nachbarhauses, das schon bald sein Gesicht verändern sollte wie jemand, der nach einer Schönheitsoperation nicht eben jünger, aber halt anders ausschaut, waren bald die meterlangen, baumdicken Segmente der alten Kieferstämme aufgetürmt, wie aufgebahrt, wie Elefantenbeine.

Nicht dass sie dampften!

Ein Gärtner, er war nicht alt, in gärtnersgrünen Hosen stand dort bei dem Holz und schaute mich an. Dass es die Gärtner sein mussten, die sonst das Leben in die Erde bringen und erhalten, die es in dem Fall auch beenden sollten.

«Sobald man eine Düne hinaufklettert», schreibt Gracq, «und den Blick über die sonnenbeschienene Seite des Waldes schweifen lässt, ist alles ganz anders: selbst der Baum, der von unten her am verbranntesten, am verkrüppeltsten aussah, wendet dem Licht ein gelberes und helleres, jüngeres und schimmernderes Grün zu, das hier zusammenströmt wie das Blut in den Wangen; und in den zarten Nadelsträußchen, die sich wie feinstgeflochtene Körbe zum Himmel hin öffnen, nisten überall die länglichen, neuen, mit Samenkörnern gefüllten Zapfen, die unter ihrem unversehrten Glanz grün-golden funkeln, genauso prall, genauso fleischig wie eine Ananas, und beinahe kann man verstehen, warum sie so ein Leckerbissen für das Eichhörnchen sind.»

Need(le)less to say dass auch auf dem Umschlag, des in braunem Leinen eingekleideten Buches, ein Bild von Kiefern eingelassen ist (von Félix Vallotton). Es sind deren fünf. Wie in dem Garten, in dem ich lag — wenn ich mich recht erinnere.

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12.1.

Ich war am Telefon mit Tabassom verbunden — Themen waren, direkt aufeinanderfolgend und gewiss auch unironisch: Kelimreperatur und ob man Claudia Roth nicht vorschlagen sollte, einen Kulturpreis für Kunst mit Migrationshintergrund, Arbeitstitel «Die Goldene Knoblauchzehe», ins Leben zu rufen —, da fing es draußen, vor meinem Fenster an zu schneien.

Natürlich nicht plötzlich, erst recht nicht schlagartig, sondern: einfach so. So, wie nur Schnee auftritt, schwebte er in Form von zunächst nur einer einzigen Flocke ein. Als ob dort oben ein Sack gerissen wäre.

Die Flocke hatte einen ewig weiten Weg schon hinter sich gelassen. Noch gute neun Meter zu ihren Füßen, wo sie würde schmelzen dürfen. Wenig später hörte es schon wieder auf zu schneien. Wann es wohl dort droben angefangen hatte?

Arbeiten bedeutet vielfach und immer wieder aufs Neue, Entscheidungen zu treffen. Und Professionalität, das hat Judith mir erklärt, bedeutet, dass man diese Entscheidungen schneller trifft.

Dem Abschied liegt übrigens auch ein Zauber inne. Dessen Schönheit ist lediglich von einer anderen Natur. Aber man kann sich schnell daran gewöhnen.

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11.1.

Beim Frühstück dachte ich, wie lange wohl die Kellner:innen noch die Energie würden aufbringen können, ihre Gäste zu umsorgen in dieser Zeit, in der die Gastlichkeit riskant ist, Absonderung stets die sichere Wahl bedeutet? Sie gehören nun auch zum
Pflegepersonal, pflegen alte Sitten.

Anlass war freilich ein besonders herzloses Frühstück. Mit Sicherheit war es steril. Den Raum, in dem ich bedient wurde, kannte ich jedoch noch aus der Vorzeit. Wie heiter es dort einst noch zugegangen (es war noch gar nicht lange her).

Um den kalkig gelben Dotter meines hartgekochten Eies, das mir — aus Sicherheitsgründen — ei(s)kalt serviert worden war, hatte ich ein bläulich eingefärbter Ring gebildet. Ein sogenanntes Teufele, wie man bei mir daheim gesagt hätte. Doch hier im Kölschen? Es war niemand anders da, den ich hätte fragen können. Ich war der einzige Frühstücksgast in meinem Hotel. Und die Kellnerin hatte sich zum Zwecke des Doomscrollens hinter eine nicht tragende Säule zurückgezogen…

«We live in strange times», hat Adam Curtis gesagt, zwei Jahre ist das jetzt her oder doch erst eins? Es stimmt jedenfalls immer noch. Und war es je anders?

Vielleicht nicht so.

Trotzdem diese Heiterkeit, weil der Sbend zuvor so schön gewesen war. Mit René in der Puszta Hütte, später Plattenladen und dann Studio. Pingpong mit Thomas an den Mikrofonen «Mike and equalizer are the DJ’s tools and people come to dance like children go to school», sagt Shabba Ranks.

Und kam heute gerade noch rechtzeitig hier von Bord, wo bei Pankow die rote Sonne im Meer aus Fensterspiegeln versinkt.

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10.1.

Gestern zum Raclette eingeladen gewesen. Sogleich entspann sich eine muntere Diskussion zwischen den Gästen, ob denn mehr noch als geschwallte Kartoffeln und Gürkchen zum geschmolzenen Käse lege artis sei. Die Gastgeberin zum Beispiel meinte, gerade in der Schweiz würde dazu auch Salat gegessen, was ich bestreiten wollte (und hatte doch schon aus den Augenwinkeln die Schälchen, gefüllt mit Bananenscheiben und Ananas in Würfeln entdeckt).

Heute auf dem Weg nach Köln. Wir können uns das Lebensgefühl der Schweizer nicht vorstellen, die einfach so zu einem Bahnhof fahren, dort zur gebuchten Stunde in den Zug steigen, um wie versprochen anderswo wieder aus dem Zug zu steigen und dort ihren Geschäften nachgehen.

Hierzulande, und das merkt man den meisten auf den Bahnsteigen auch an, geht jedes Reisevorhaben mit der Bahn ins Ungewisse; bleibt Ausnahmezustand. Und wird zum Grund für Freude, falls es trotzdem «klappt».

Immerhinque: Kurz vor Hannover fängt es zu regnen an, gleich hinter Hannover hört es wieder auf.

In einer Woche stehe ich am Mittelmeer.

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9.1.

Neulich, es ist vielleicht schon ein paar Wochen her, hatte es im «Literarischen Leben» ein Gedicht von Michael Krüger, das hier noch immer auf dem Küchentisch liegt. Darin ist vom Herbst die Rede, der einem in den Knochen steckt. Das geht mir seither nicht mehr aus dem Sinn: Dass es einen Tag geben kann, eine Stunde, da man in seinen Knochen fühlen wird, dass jetzt der Herbst beginnt.

Gestern waren in der Süddeutschen, im Spiegel und in der F.A.S. die Texte zur deutschen Ausgabe des Romans von Michel Houellebeqc erschienen. Die Redakteure waren sich einig, dass dies ein Buch ist, das man gelesen haben muss (das sie gelesen haben mussten).>

Der Spiegel hatte zudem einen opulent aufgemachten Hausbesuch bei Michel Würthle, dem ich schon lange nicht mehr begegnet war. Anlass: Er hat den Herbst in den Knochen. Der Autor durfte sogar hinfassen. Sein Text war auf eine ärgerliche Weise schlecht, lieblos geschrieben. Als Herbstzeitloser frage ich mich da wozu.

Ohne noch.

Abends «Sturm auf das Kapitol». Der Dokumentarfilm ist größtenteils aus dem Material der Kapitolerstürmer zusammengesetzt und wirkt gerade deswegen so stark, weil echte Gewalt doch ganz anders ausschaut als die aus den angeblich so realistisch dargestellte in Spielfilmen. Und immer wieder hört man die Leute ausrufen, dass sie nicht glauben können, was sie gerade erleben. Das rufen Amerikaner ja anscheinend gerne und ständig aus, aber hier wirkte das ausnahmsweise einmal, tja: tief empfunden? I can`t believe it`s not butter! Und dass sie demnach wirklich dort angekommen waren, hier, in ihrem eigenen Film. Als ob ihnen die nächsten Einfälle für ihr Drehbuch auf den Zungen lägen, aber sie brächten sie gerade nicht heraus.

Answered prayers.

Ich glaube, es war Margaret Mead, die von einem Experiment im Norden Englands berichtet hat, in dem die Einwohner einer Ortschaft einfach mal wochenlang machen sollten, worauf sie Lust hatten. Jedenfalls krochen sie wenig später auf allen Vieren herum und gaben Laute von sich.

Komme her, Schneeflocke *

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