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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

27.1.

Auf Anraten meines Vaters, einem Experten für die Fragen von Akustik und Schwingungen, mache ich seit heute Versuche mit diversen Schreibtischauflagen, um den Körperschall zu dämmen, der bei meinem Tippen entsteht. Die Auswahl an Schaumstoffen im benachbarten Baumarkt ist erstaunlich groß. Ob auch erfreulich, weiß ich noch nicht. Dies könnte sich zu meiner Matratzen-Odysee entwickeln.

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26.1.

Late at night in the typewriter light… klopfte es also an meine Tür. Draußen stand der Nachbar. Beziehungsweise der Mann, der unter uns wohnt, und fragte mich, woher dieser Lärm rührt, der seine Frau am Einschlafen hinderte. Ich sagte ihm, dass ich schriebe.

«Sie schreiben?» sagte er und machte dabei ein Gesicht, dass ich ihm seinen Unglauben tatsächlich abnehmen konnte. Also bat ich ihn herein, um ihm meine Tastatur zu vorzuführen — wie bei Woody Allen, wo der Psychoanalytiker seine Tabakspfeife vorzeigt wie eine Hundemarke.

Mein Nachbar zeigte sich jedenfalls erstaunt, wie unlaut sich mein demonstratives Tippen im Raum doch anhörte in seinen Ohren, denn seine Frau hatte ihm gegenüber behauptet, dass es für sie so laut gewesen war «als ob sie Stepptanzen oder so etwas. Wir schlafen direkt hier drunter», fügte er noch hinzu, woraufhin wir beide auf den selben Fleck Fußboden schauten — betreten, wie es üblicherweise in solchen Situationen heißt.

In dem Zusammenhang fand ich es freilich besonders lustig, dass ich ja noch immer an einem Campingtisch schrieb. Aber irgendwann kommt wohl für jeden die Zeit, das Camp aufzugeben oder zumindest in etwas Solideres umzuwandeln.

Diese Phase des Überganges — Abschied vom Camp, Übersiedelung ins Alterswerk — ist heikel wie sonst keine im Leben des Künstlers. Wie schief es gehen kann, lässt sich derzeit zum Beispiel an Nie Wieder Krieg studieren: Leider weder Foi Na Cruz noch Apfelmann.

In Italien übrigens, das fiel mir aber ärgerlicherweise erst ein, als ich meinen Nachbarn schon wieder hinauskomplementiert hatte, halten sämtliche TV-Moderatoren einen Kugelschreiber zwischen Mittel- und Zeigefinger, obwohl sie mit ihrem Zigarettenersatz natürlich nie etwas notieren. Der Kugelschreiber ist wie die Tabakspfeife des Psychoanalytikers zum Zunftzeichen der Fernsehjournalisten geworden. Was auch sonst? Die Mikrofone sind ja tatsächlich ins Mikroskopische geschrumpft.

Aber weiter im Text.

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25.1.

Das könnte ich nicht so stehen lassen.

Am Tag darauf, da schon auf italienischem Gebiet — wir waren auf der Route der alten Via Aurelia nach Sanremo gefahren —, kam ich zwangsläufig auf die Frage nach dem mediterranen Stil zurück. Das ursprüngliche Problem, der südfranzösische Geschmack, ließ sich von hier, aus der Nähe gewissermaßen, mit der nötigen Distanz betrachten. Am Strand der Stadt der Lieder schaute ich stundenlang einem Greis zu, der es sich, in schwarzen Hosen, schwarzem T-Shirt, auf einem schwarzen Liegestühlchen bequem gemacht hatte. Ich beneidete ihn um seine Untätigkeit, bis mir eingefallen war, dass er vermutlich ein ähnliches Gefühl auskostete, wie ich es auf Bahnfahrten liebe: dass ich nichts machen muss, weil ja schon die Landschaft unermüdlich an mir vorüberzieht. Für ihn, den Bewohner des Meeressaums, sah sich diese Funktion im Wellenschlag erfüllt.

Im schmalen Niemandsland zwischen den Ortschaften St-Paul-de-Vence und Cagnes-sur-Mer gibt es am Rande der beides verbindenden Straße einen großflächig angelegten Freiluftmarkt für Gartenskulpturen. Das umgebende Gewerbegebiet hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, seitdem ich Anfang der neunziger Jahre beinahe zufällig zum ersten Mal dort entlang gefahren war, erheblich verändert. Damals gab es dort rings um die kleine Küstenklinik vor allem Swimming-Pool-Händler, Lagerhallen und Autowerkstätten, Tankstellen, Bäckereien, Hähnchenbratereien und ähnliches, mittlerweile wurden dort Einkaufszentren im californischen Stil errichtet. Showrooms. Am Kreisverkehr gibt es in der Mall Polygone Riviera sogar eine Filiale von Uniqlo («Von Tokyo an die Côte d’Azur»).

Und an eben diesem Kreisverkehr steht seit ein paar Jahren auch ein Bürogebäude, das im Grunde wie die Kaaba aus einem schwarzen Würfel besteht. Ich sage im Grunde, denn dieser Würfel hat sich scheinbar soeben geöffnet, er hat sich horizontal in zwei Hälften eines Würfels geteilt, zwei Quader auf quadratischem Grundriss, die aus den schwarz verspiegelten Fensterscheiben des Gebäudes bestehen und in der Lücke, die zwischen diesen beiden auseinandergefahrenen Würfelhälften entstanden ist, schaut das silberne Gesicht eines silbrigen Kopfes auf den unermüdlich im Kreis herum gelenkten Strom der Fahrzeuge. Das ist, was ich mit dem südfranzösischen Geschmack meinte. Und wie er sich verändert hat.

Denn seitdem es diesen Kopf aus der Kaaba gibt — im benachbarten Nizza steht in der Nähe des Place Garibaldi ein Gebäude, das ebenfalls aus einem Würfel besteht, der mit einer Büste verschmolzen wurde, allerdings trägt hier ein menschlicher Hals aus Beton den Würfel anstelle eines Kopfes —, hat sich auch das Sortiment des gegenüber gelegenenen Freiluftmarktes für Gartenskulpturen gewandelt: Anfang der neunziger Jahre und die Neunziger hindurch über die Schwelle zum neuen Jahrtausend hinweg gab es dort Gipsfiguren um griechisch-römischen Stil. Auch Vasen und Säulen, alles vorwiegend weiß oder in den Schattierungen von Terrakotta. Seitdem nun der Silbrige seinen Kopf aus der Kiste streckt, stellt der Freiluftmarkt keine antikisierenden Götter und Helden mehr aus. Auf denselben Rasenterrassen werden jetzt aus Kunstharz gegossene Tiere in strahlenden Primärfarben ausgestellt. Vor allem Gorillas. Der Riesenaffe schien mir dort überhaupt ein beliebtes Sujet, ungefähr so, wie einst die Trikolore. In St Tropéz schaute ich kurz in ein Café, in dem ein übermannsgroßer, in Blau, Weiß und Rot lackierter Gorilla aus Kunstharz zum Sprung über die Theke ansetzend montiert war…

Ich musste freilich an Houllebecq denken, der ja von einem neuen Götzenglauben schreibt. Vermutlich hätte ich ohne das Wenige, das ich von seinem Roman gelesen hatte, die Veränderung im südfranzösischen Geschmack zwar bemerkt, aber anders bewertet, eingeschätzt, erinnert.

Jan Assmann weist darauf hin, dass das Wort für das Erinnern im Englischen to remember aus dem Osiris-Kult hervorgegangen ist. Erinnern heißt, nach Assmann, die einzelnen Teile des zerschmetterten Osiris zusammensetzen, ein Ganzes wieder herzustellen. So wie es war, wie es gewesen sein soll, muss. Müsste?

«Zu den Privilegien des Genies gehört das Recht zu langweilen», schreibt Gracq. Der Satz fällt ihm am Ende seines Großen Weges ein — zumindest steht er dort in dem Buch an dieser Stelle, bevor er über Proust schreibt, davor schaut aber noch der beinahe hundertjährige Ernst Jünger zum Mittagessen bei ihm vorbei, bis dann mit den «Treibhäusern des Katholizismus» die Sache endlich aus dem Ruder läuft.

Unweit der Strandpromenade von Sanremo gibt es eine Gasse, auf deren Mitte eine ziemlich lustlos geformte Bronzeskulptur eines gewöhnlich aussehenden Mannes mit Föhnfrisur steht. Dabei handelt es sich offenbar um ein Denkmal für den verstorbenen Fernsehmoderator Mike Buongiorno.

Später am Abend, als wir, an der Olivenstadt Imperia vorbei, in Mailand angelangt waren, zeigte unser Bildschirm im Hotelzimmer eine Endlosschleife eines Imagefilms der Hotelkette, einem Spin-off der Marke Hilton, zu dem unser Haus zu gehören schien. Der Film spielte größtenteils in sonnigen Gefilden der vereinigten Staaten. In einer Szene war eine Brillenträgerin zu sehen, die ein Buch von Michel Houllebecq las: eine amerikanische Ausgabe von Serotonin.

Late at night, in the typewriter light

She ripped his ribbon to shreds.

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19.1.

Hier, an der Côte d’Azur, vergeht kein Tag und selten eine Stunde, zu der ich mich nicht frage, wie dieser spezifische Geschmack der Südfranzosen in Kunst und Architektur und in der Gestaltung von so gut wie allem, auf das mein Blick hierzulande fällt, wohl zustande gekommen sein mag.

Auf unserem Weg hierher, der über die Schweiz und Grenoble, das von den Deutschen wohl in einer anderen Zeit auf «Graswalde» umgetauft worden war, sowie desweiteren über die Route Napoléon bis hinunter in das Apfelanbaugebiet um Sisteron und daraufhin immer wieder hinauf und hinan durch Löcher in den Felsen hindurch und hin und auch wieder her durch die Serpentinen und letztendlich sogar Haarnadelkurven führte, die es dort oben, in dem letzten Gebirge, bevor das Meer sich endlich zeigt, noch reichlich gibt, auf dieser Fahrt las ich bei Gracq, dass es bei ihm ausgerechnet die Wege selbst sind «warum ich solche Schwierigkeiten habe, mir die Vergangenheit über ungefähr das siebzehnte Jahrhundert hinaus vorzustellen, ist die fast vollkommene Unmöglichkeit, mir ein Bild vom damaligen Zustand der Straßen und Wege zu machen; nicht so sehr von ihrem allgemeinen technischen Ausbau, über den wir einige Informationen besitzen, vielmehr von ihrer lebendigen Beziehung zu den Städten und Ortschaften, die sie miteinander verbanden, zu den Landschaften, die sie durchzogen, zu den Hecken und Umzäunungen, den Wäldern, den Wasserläufen und auch zum Kommen und Gehen ihrer Benutzer: war es, wie auf dem Great Trunk in Indien, ein Gewimmel von Fußgängern, Händlern, Mönchen, Pilgern und Interessenten gutbesuchter Märkte? Überwogen die Reiter, einzeln oder in Gruppen, oder vielmehr die Wagengespanne? Muss man sich eher eine Einsamkeit vorstellen, die gerade ein- oder zweimal am Tag durch das schon kilometerweit hörbare Quietschen einer Wagenachse unterbrochen wurde wie bei einem russischen Bauernkarren? Gab es zahlreiche Gastwirtschaften? Oder standen sie vereinzelt in der Landschaft? Gab es eine Pannenhilfe?»

Ganz ähnlich, es ist wirklich verblüffend für mich, lauten übrigens meine Gedankengänge zum Stil der französischen Riviera, der ja im krassen Widerspruch, wenn nicht im Aufstand gegen die ästhetische Übermacht der hier beheimateten Natur sich begreift (oder besteht?). Ich habe heute mittag, bezeichnenderweise war das in einer Filiale von La Tarte Tropézienne in den Outskirts von St. Tropéz einfach so einen möglichen Handlungsverlauf für einen künftigen Roman von Houellebecq ersonnen, ich würde gern behaupten dürfen, er fiel mir ein, aber das wäre nicht ganz richtig, denn der Anlass zu der ganzen Chose war ein Fehlkauf, der mir am Vortage in einem hiesigen Supermarkt unterlaufen war. Ein Zufall, gewiss. Aber damit war freilich auch der Ton gesetzt.

Unser Mann kauft also einen Apfelsaft, von dem er sich einiges verspricht. Der Hersteller hat seinerseits auch einiges unternommen, solche Erwartungen überhaupt erst entstehen zu lassen, denn auf den Etiketten wird den potenziellen Kunden unter anderem versprochen, dass es sich bei dem Fruchtsaftgetränk um einen sortenreinen Apfelsaft aus der Bretagne handeln wird. Der Preis ist dementsprechend: beinahe drei Eurp für einen knappen Liter. Als es daheim zur Kostprobe kommt, ist die Enttäuschung groß, um nicht zu sagen, saftig wie der Preis, denn das Getränk schmeckt, wie man so sagt: nach allem Möglichen, also unter anderem auch nach Apfel, aber es ist einfach nichts Besonderes .

Richtig genervt setzt er sich an seinen Computer und googelt sich auf die Seite des Herstellers, wo sich ihm unter der Rubrik Kontakt eine erfreulich detailliert bebilderte Seite mit Ansprechpartnern und ihren Emailadressen auftut. Seine Beschwerde schreibt er an die Leiterin der Abteilung Lebensmittelchemie, das erscheint ihm passend; derart passend, dass es ihn schon wieder zum Grinsen bringt. Und außerdem schaut sie in ihrem Laborkittel mit der pornösen Brille einfach animierend drein in seinem Kundenblick.

Leider trifft ihre Anwort auch schon binnen Sekunden bei ihm ein: Es handelt sich um die automatische Beantwortungsfunktion ihres Postfaches. Das Postfach ist voll.

Andere Dinge passieren und als er selbst schon gar nicht mehr daran denkt, erhält er eine Email aus der Feder jener Leiterin der lebensmittelchemischen Abteilung des Fruchtsaftherstellers, die sich herzlich und durchaus nicht uncharmant bei ihm zu entschuldigen versucht für diese Panne. Seine Kritik an dem von ihm monierten Apfelsaft hat sie mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Um ihn umzustimmen bietet sie ihm einen Gutschein an für den firmeneigenen Tag der Apfelfreunde, der im September stattfinden wird.

Als er sich abends in einer Bar im Erdgeschoss seines Wohnkomplexes mit Calvados betrinkt, nimmt er sich noch einmal diese Email mit dem Gutschein für den Besuch des Apfelfestes vor. Dazu studiert er auf der Firmenwebsite das Portraitfoto der Lebensmittelchemikerin. Am nächsten Morgen ist sein Plan noch immer reif: Er nimmt sich Urlaub und bricht auf eigene Faust auf in die Bretagne, um die schöne Lebensmittelchemikerin, der einzige Mensch, der es je gut mit ihm meinte, zu erobern. Final, wie er mit vom Lenkrad erhobener Faust und mehrfach in den Innenraum seines Peugot ruft.

Die Fahrt in die Bretagne wird natürlich auch zu einer Art Selbsterfahrung; er ist jedenfalls richtiggehend fix und fertig, als er endlich dort an den Werkstoren eintrifft. Der Fruchtsafthersteller ist zwischen einem Kernkraftwerk und dem Industriehafen angesiedelt. Das Areal ist übermannshoch mit Stacheldraht eingezäunt. Es kostet ihn einige Überredungskunst an der Pförtnerloge, dass sich jemand aus diesem Hochsicherheitstrakt der Nahrungsmittelproduktion zu ihm heraus auf den menschenleeren Parkplatz bequemt.

Zu seiner Frustration ist es auch nicht die Leiterin der Lebensmittelchemie selbst, sondern ein weiterer Mann, im selben Alter wie er selbst und auch sonst nicht besonders ansprechend — weder vom Äußeren, noch von seinen Ideen her. Er wirkt ziemlich depressiv und lässt sich nicht lange bitten, dem weitgereisten Kunden die bittere Pille zu verabreichen: Es gibt gar keine Leiterin der lebensmittelchemischen Abteilung. Die Abteilung an sich gibt es freilich schon, aber dort arbeiten, wie überhaupt überall in diesem Unternehmen, vor allem männliche Angestellte. In der Produktion übrigens vor allem Afrikaner, die in dem alten Industriehafen in rauen Mengen als Flüchtlinge anlanden.

Auf die Frage unseres Mannes, «wozu in aller Welt» das Unternehmen sich fiktive Frauen in Führungspositionen ausdenken mag, hat sein Artgenosse eine verblüffend profane Antwort parat: Der Fruchtsafthersteller, Nachfahre des traditionellen Familienunternehmens einer bretonischen Kelter aus dem sechzehnten Jahrhundert, ist vor einem knappen Jahr an einen US-amerikanischen Hedge Fond verkauft worden. Die «Neuen Herren» legen Wert auf Geschlechterparität und außerdem — das lassen sich die beiden in einer Art Mexican Standoff zunächst auf ihren nach Calvados dürstenden Zungen zergehen, bevor sie es tatsächlich zeitgleich herausbringen: Sex sells.

«Pass auf, mein Freund», sagt der Saftlaborant mit (nervösem) Blick auf das Display seiner Apple Watch, «Ich muss hier noch zwei Stunden schuften, dann nehme ich mir Gleitzeit und wir kippen und ordentlich einen hinter die Binde — einverstanden?»

Gebongt, sagt unser Mann und registriert dabei den Funken, der in ihm aufglimmt, weil er einen Freund gefunden hat — ob nun gleich für’s Leben, das sogenannte ganze, wird sich weisen.

Der Roman geht freilich jetzt erst richtig los.

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14.1.

Im republikanischen Kalender ist heute Tag der Katze. Es ist sechs Jahre her (oder fünf?), als ich hier ein ganzes Jahr unter Year of the Cat geschrieben habe.

Post von Gracq, gerade rechtzeitig: «Noch einmal zur Kiefer: von unten gesehen bildet kein Teil des Baumkleides eine Masse oder einen Schild; jede Nadel, jeder Zweig hebt sich vom Himmel ab, ohne dem Auge auch nur den geringsten Eindruck von Abstufung oder Tiefe zu geben, als wäre es ein zartes, flaches Flechtwerk. Betrachtet man sie ganz nahe am Stamm stehend, mit zurückgeworfenem Kopf, formt das Geäst, das stets zum größten Teil aus trockenen und abgebrochenen Zweigen besteht (alle Stümpfe der alten, unteren Äste stehen rechtwinklig vom Stamm ab wie die Stange eines Papageis), ein Geflecht gebogener Winkel, das sehr stark an die Graphik chinesischer Schriftzeichen erinnert; sie ist der Baum der Zeichner, nicht eines Malers, eines Liebhabers des aussdrucksstarken, leicht manirierten Striches; wie gut ist doch zu verstehen, dass Japaner und Chinesen bis zum Überdruss diese trockene und hölzerne Eleganz abgebildet haben, bei der das Blatt überall zum Zweig, das Geäst zum Skelett wird und die dem tintegetränkten Pinsel ein Zeichen geheimen Einverständnisses zu geben scheint.»

Die Liebe zum Wald, zu den Bäumen ist nicht Bestandteil des erworbenen Geschmacks wie Austern oder Rinderbraten. Der Kiefernwald ist wie Musik.

In Köln, als wir in der Alten Metzgerei beisammen saßen, ging es mit Thomas unverhofft um den Moment, als man als junger Mann zum ersten Mal auf ein Konzert gekommen war. Auf sein Konzert, das Konzert des Musikers, der Band, die man als insgeheim betrachten wollte. Die zu einem sang (und sprach) mit ihren Liedern. Und wie man schließlich dort eintrat, bei sogenanntem Putzlicht, in den viel zu grell erleuchteten Saal: jedes kleinste Detail, auch das noch so willkürlich erscheinende, hatte nun Sinn bekommen. Alles sollte, so kam es einem dann vor: darauf hinweisen. Auf den Auftritt des Ersehnten. Und wenn dann erst das Licht im Saal erloschen war und die Bühne festlich erstrahlte…

Im Waldgefühl hat sich eine Form dieser Ehrfurcht gebietenden Halle für mich konserviert. Und im Studio war es dann für mich tatsächlich wie der Gesang eines Vogels gewesen, dass Thomas die Single von Marlene Dietrich aufgelegt hat. Überraschenderweise. Alles wurde still, ganz Ohr, wie es heißt. Wir lauschten.

Die Aufnahme der Sendung findet sich hier.

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