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19.1.

19.1.

Hier, an der Côte d’Azur, vergeht kein Tag und selten eine Stunde, zu der ich mich nicht frage, wie dieser spezifische Geschmack der Südfranzosen in Kunst und Architektur und in der Gestaltung von so gut wie allem, auf das mein Blick hierzulande fällt, wohl zustande gekommen sein mag.

Auf unserem Weg hierher, der über die Schweiz und Grenoble, das von den Deutschen wohl in einer anderen Zeit auf «Graswalde» umgetauft worden war, sowie desweiteren über die Route Napoléon bis hinunter in das Apfelanbaugebiet um Sisteron und daraufhin immer wieder hinauf und hinan durch Löcher in den Felsen hindurch und hin und auch wieder her durch die Serpentinen und letztendlich sogar Haarnadelkurven führte, die es dort oben, in dem letzten Gebirge, bevor das Meer sich endlich zeigt, noch reichlich gibt, auf dieser Fahrt las ich bei Gracq, dass es bei ihm ausgerechnet die Wege selbst sind «warum ich solche Schwierigkeiten habe, mir die Vergangenheit über ungefähr das siebzehnte Jahrhundert hinaus vorzustellen, ist die fast vollkommene Unmöglichkeit, mir ein Bild vom damaligen Zustand der Straßen und Wege zu machen; nicht so sehr von ihrem allgemeinen technischen Ausbau, über den wir einige Informationen besitzen, vielmehr von ihrer lebendigen Beziehung zu den Städten und Ortschaften, die sie miteinander verbanden, zu den Landschaften, die sie durchzogen, zu den Hecken und Umzäunungen, den Wäldern, den Wasserläufen und auch zum Kommen und Gehen ihrer Benutzer: war es, wie auf dem Great Trunk in Indien, ein Gewimmel von Fußgängern, Händlern, Mönchen, Pilgern und Interessenten gutbesuchter Märkte? Überwogen die Reiter, einzeln oder in Gruppen, oder vielmehr die Wagengespanne? Muss man sich eher eine Einsamkeit vorstellen, die gerade ein- oder zweimal am Tag durch das schon kilometerweit hörbare Quietschen einer Wagenachse unterbrochen wurde wie bei einem russischen Bauernkarren? Gab es zahlreiche Gastwirtschaften? Oder standen sie vereinzelt in der Landschaft? Gab es eine Pannenhilfe?»

Ganz ähnlich, es ist wirklich verblüffend für mich, lauten übrigens meine Gedankengänge zum Stil der französischen Riviera, der ja im krassen Widerspruch, wenn nicht im Aufstand gegen die ästhetische Übermacht der hier beheimateten Natur sich begreift (oder besteht?). Ich habe heute mittag, bezeichnenderweise war das in einer Filiale von La Tarte Tropézienne in den Outskirts von St. Tropéz einfach so einen möglichen Handlungsverlauf für einen künftigen Roman von Houellebecq ersonnen, ich würde gern behaupten dürfen, er fiel mir ein, aber das wäre nicht ganz richtig, denn der Anlass zu der ganzen Chose war ein Fehlkauf, der mir am Vortage in einem hiesigen Supermarkt unterlaufen war. Ein Zufall, gewiss. Aber damit war freilich auch der Ton gesetzt.

Unser Mann kauft also einen Apfelsaft, von dem er sich einiges verspricht. Der Hersteller hat seinerseits auch einiges unternommen, solche Erwartungen überhaupt erst entstehen zu lassen, denn auf den Etiketten wird den potenziellen Kunden unter anderem versprochen, dass es sich bei dem Fruchtsaftgetränk um einen sortenreinen Apfelsaft aus der Bretagne handeln wird. Der Preis ist dementsprechend: beinahe drei Eurp für einen knappen Liter. Als es daheim zur Kostprobe kommt, ist die Enttäuschung groß, um nicht zu sagen, saftig wie der Preis, denn das Getränk schmeckt, wie man so sagt: nach allem Möglichen, also unter anderem auch nach Apfel, aber es ist einfach nichts Besonderes .

Richtig genervt setzt er sich an seinen Computer und googelt sich auf die Seite des Herstellers, wo sich ihm unter der Rubrik Kontakt eine erfreulich detailliert bebilderte Seite mit Ansprechpartnern und ihren Emailadressen auftut. Seine Beschwerde schreibt er an die Leiterin der Abteilung Lebensmittelchemie, das erscheint ihm passend; derart passend, dass es ihn schon wieder zum Grinsen bringt. Und außerdem schaut sie in ihrem Laborkittel mit der pornösen Brille einfach animierend drein in seinem Kundenblick.

Leider trifft ihre Anwort auch schon binnen Sekunden bei ihm ein: Es handelt sich um die automatische Beantwortungsfunktion ihres Postfaches. Das Postfach ist voll.

Andere Dinge passieren und als er selbst schon gar nicht mehr daran denkt, erhält er eine Email aus der Feder jener Leiterin der lebensmittelchemischen Abteilung des Fruchtsaftherstellers, die sich herzlich und durchaus nicht uncharmant bei ihm zu entschuldigen versucht für diese Panne. Seine Kritik an dem von ihm monierten Apfelsaft hat sie mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Um ihn umzustimmen bietet sie ihm einen Gutschein an für den firmeneigenen Tag der Apfelfreunde, der im September stattfinden wird.

Als er sich abends in einer Bar im Erdgeschoss seines Wohnkomplexes mit Calvados betrinkt, nimmt er sich noch einmal diese Email mit dem Gutschein für den Besuch des Apfelfestes vor. Dazu studiert er auf der Firmenwebsite das Portraitfoto der Lebensmittelchemikerin. Am nächsten Morgen ist sein Plan noch immer reif: Er nimmt sich Urlaub und bricht auf eigene Faust auf in die Bretagne, um die schöne Lebensmittelchemikerin, der einzige Mensch, der es je gut mit ihm meinte, zu erobern. Final, wie er mit vom Lenkrad erhobener Faust und mehrfach in den Innenraum seines Peugot ruft.

Die Fahrt in die Bretagne wird natürlich auch zu einer Art Selbsterfahrung; er ist jedenfalls richtiggehend fix und fertig, als er endlich dort an den Werkstoren eintrifft. Der Fruchtsafthersteller ist zwischen einem Kernkraftwerk und dem Industriehafen angesiedelt. Das Areal ist übermannshoch mit Stacheldraht eingezäunt. Es kostet ihn einige Überredungskunst an der Pförtnerloge, dass sich jemand aus diesem Hochsicherheitstrakt der Nahrungsmittelproduktion zu ihm heraus auf den menschenleeren Parkplatz bequemt.

Zu seiner Frustration ist es auch nicht die Leiterin der Lebensmittelchemie selbst, sondern ein weiterer Mann, im selben Alter wie er selbst und auch sonst nicht besonders ansprechend — weder vom Äußeren, noch von seinen Ideen her. Er wirkt ziemlich depressiv und lässt sich nicht lange bitten, dem weitgereisten Kunden die bittere Pille zu verabreichen: Es gibt gar keine Leiterin der lebensmittelchemischen Abteilung. Die Abteilung an sich gibt es freilich schon, aber dort arbeiten, wie überhaupt überall in diesem Unternehmen, vor allem männliche Angestellte. In der Produktion übrigens vor allem Afrikaner, die in dem alten Industriehafen in rauen Mengen als Flüchtlinge anlanden.

Auf die Frage unseres Mannes, «wozu in aller Welt» das Unternehmen sich fiktive Frauen in Führungspositionen ausdenken mag, hat sein Artgenosse eine verblüffend profane Antwort parat: Der Fruchtsafthersteller, Nachfahre des traditionellen Familienunternehmens einer bretonischen Kelter aus dem sechzehnten Jahrhundert, ist vor einem knappen Jahr an einen US-amerikanischen Hedge Fond verkauft worden. Die «Neuen Herren» legen Wert auf Geschlechterparität und außerdem — das lassen sich die beiden in einer Art Mexican Standoff zunächst auf ihren nach Calvados dürstenden Zungen zergehen, bevor sie es tatsächlich zeitgleich herausbringen: Sex sells.

«Pass auf, mein Freund», sagt der Saftlaborant mit (nervösem) Blick auf das Display seiner Apple Watch, «Ich muss hier noch zwei Stunden schuften, dann nehme ich mir Gleitzeit und wir kippen und ordentlich einen hinter die Binde — einverstanden?»

Gebongt, sagt unser Mann und registriert dabei den Funken, der in ihm aufglimmt, weil er einen Freund gefunden hat — ob nun gleich für’s Leben, das sogenannte ganze, wird sich weisen.

Der Roman geht freilich jetzt erst richtig los.

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