25.1.
Das könnte ich nicht so stehen lassen.
Am Tag darauf, da schon auf italienischem Gebiet — wir waren auf der Route der alten Via Aurelia nach Sanremo gefahren —, kam ich zwangsläufig auf die Frage nach dem mediterranen Stil zurück. Das ursprüngliche Problem, der südfranzösische Geschmack, ließ sich von hier, aus der Nähe gewissermaßen, mit der nötigen Distanz betrachten. Am Strand der Stadt der Lieder schaute ich stundenlang einem Greis zu, der es sich, in schwarzen Hosen, schwarzem T-Shirt, auf einem schwarzen Liegestühlchen bequem gemacht hatte. Ich beneidete ihn um seine Untätigkeit, bis mir eingefallen war, dass er vermutlich ein ähnliches Gefühl auskostete, wie ich es auf Bahnfahrten liebe: dass ich nichts machen muss, weil ja schon die Landschaft unermüdlich an mir vorüberzieht. Für ihn, den Bewohner des Meeressaums, sah sich diese Funktion im Wellenschlag erfüllt.
Im schmalen Niemandsland zwischen den Ortschaften St-Paul-de-Vence und Cagnes-sur-Mer gibt es am Rande der beides verbindenden Straße einen großflächig angelegten Freiluftmarkt für Gartenskulpturen. Das umgebende Gewerbegebiet hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, seitdem ich Anfang der neunziger Jahre beinahe zufällig zum ersten Mal dort entlang gefahren war, erheblich verändert. Damals gab es dort rings um die kleine Küstenklinik vor allem Swimming-Pool-Händler, Lagerhallen und Autowerkstätten, Tankstellen, Bäckereien, Hähnchenbratereien und ähnliches, mittlerweile wurden dort Einkaufszentren im californischen Stil errichtet. Showrooms. Am Kreisverkehr gibt es in der Mall Polygone Riviera sogar eine Filiale von Uniqlo («Von Tokyo an die Côte d’Azur»).
Und an eben diesem Kreisverkehr steht seit ein paar Jahren auch ein Bürogebäude, das im Grunde wie die Kaaba aus einem schwarzen Würfel besteht. Ich sage im Grunde, denn dieser Würfel hat sich scheinbar soeben geöffnet, er hat sich horizontal in zwei Hälften eines Würfels geteilt, zwei Quader auf quadratischem Grundriss, die aus den schwarz verspiegelten Fensterscheiben des Gebäudes bestehen und in der Lücke, die zwischen diesen beiden auseinandergefahrenen Würfelhälften entstanden ist, schaut das silberne Gesicht eines silbrigen Kopfes auf den unermüdlich im Kreis herum gelenkten Strom der Fahrzeuge. Das ist, was ich mit dem südfranzösischen Geschmack meinte. Und wie er sich verändert hat.
Denn seitdem es diesen Kopf aus der Kaaba gibt — im benachbarten Nizza steht in der Nähe des Place Garibaldi ein Gebäude, das ebenfalls aus einem Würfel besteht, der mit einer Büste verschmolzen wurde, allerdings trägt hier ein menschlicher Hals aus Beton den Würfel anstelle eines Kopfes —, hat sich auch das Sortiment des gegenüber gelegenenen Freiluftmarktes für Gartenskulpturen gewandelt: Anfang der neunziger Jahre und die Neunziger hindurch über die Schwelle zum neuen Jahrtausend hinweg gab es dort Gipsfiguren um griechisch-römischen Stil. Auch Vasen und Säulen, alles vorwiegend weiß oder in den Schattierungen von Terrakotta. Seitdem nun der Silbrige seinen Kopf aus der Kiste streckt, stellt der Freiluftmarkt keine antikisierenden Götter und Helden mehr aus. Auf denselben Rasenterrassen werden jetzt aus Kunstharz gegossene Tiere in strahlenden Primärfarben ausgestellt. Vor allem Gorillas. Der Riesenaffe schien mir dort überhaupt ein beliebtes Sujet, ungefähr so, wie einst die Trikolore. In St Tropéz schaute ich kurz in ein Café, in dem ein übermannsgroßer, in Blau, Weiß und Rot lackierter Gorilla aus Kunstharz zum Sprung über die Theke ansetzend montiert war…
Ich musste freilich an Houllebecq denken, der ja von einem neuen Götzenglauben schreibt. Vermutlich hätte ich ohne das Wenige, das ich von seinem Roman gelesen hatte, die Veränderung im südfranzösischen Geschmack zwar bemerkt, aber anders bewertet, eingeschätzt, erinnert.
Jan Assmann weist darauf hin, dass das Wort für das Erinnern im Englischen to remember aus dem Osiris-Kult hervorgegangen ist. Erinnern heißt, nach Assmann, die einzelnen Teile des zerschmetterten Osiris zusammensetzen, ein Ganzes wieder herzustellen. So wie es war, wie es gewesen sein soll, muss. Müsste?
«Zu den Privilegien des Genies gehört das Recht zu langweilen», schreibt Gracq. Der Satz fällt ihm am Ende seines Großen Weges ein — zumindest steht er dort in dem Buch an dieser Stelle, bevor er über Proust schreibt, davor schaut aber noch der beinahe hundertjährige Ernst Jünger zum Mittagessen bei ihm vorbei, bis dann mit den «Treibhäusern des Katholizismus» die Sache endlich aus dem Ruder läuft.
Unweit der Strandpromenade von Sanremo gibt es eine Gasse, auf deren Mitte eine ziemlich lustlos geformte Bronzeskulptur eines gewöhnlich aussehenden Mannes mit Föhnfrisur steht. Dabei handelt es sich offenbar um ein Denkmal für den verstorbenen Fernsehmoderator Mike Buongiorno.
Später am Abend, als wir, an der Olivenstadt Imperia vorbei, in Mailand angelangt waren, zeigte unser Bildschirm im Hotelzimmer eine Endlosschleife eines Imagefilms der Hotelkette, einem Spin-off der Marke Hilton, zu dem unser Haus zu gehören schien. Der Film spielte größtenteils in sonnigen Gefilden der vereinigten Staaten. In einer Szene war eine Brillenträgerin zu sehen, die ein Buch von Michel Houllebecq las: eine amerikanische Ausgabe von Serotonin.
Late at night, in the typewriter light
She ripped his ribbon to shreds.