2022:
SCHÄUMENDE
TAGE
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de
28.11.
Um das Grundrauschen des Tonbandes zu kaschieren, legt Brian Eno eine Spur von Insektengeräuschen darüber, die er Jahre zuvor in den Bergen von Yoshinoyama aufgenommen hatte. Mit diesen Insektengeräuschen, schreibt er, klingt alles noch besser. Ein Freund hat sie deswegen als seine «MSG Insects» bezeichnet — weil mit Modosodiumglutamat auch alles noch besser schmeckt.
In dem Baumhaus an der Blauen Lagune auf Jamaika habe ich nachts eine Aufnahme von dem Vogelstimmem und Schabenklängen gemacht, die ich mir noch immer gerne anhöre. Der Ordner Field Recordings auf meiner Festplatte ist umfangreich.
Gestern, auf dem Wintermarkt in der Nachbarschaft, die Sonne schwand, der Jupiter funkelte am Himmel: Gesang einer Amsel. Mein MSG für alle Lebenslagen.
Später fand ich in der Einfahrt ein gefilztes Herz, das einem Kind aus der Tasche gefallen sein musste. nach einigen Überlegungen, wo es am besten wahrgenommen würde, brachte ich es an den Stand der Filzenden zurück «Weiß wer, wem dieses Herz gehört?»
Ein Mädchen schaute auf. Es war dabei gewesen, sich ein neues zu filzen: «Das ist meins!»
Die Sache mit Lotta Volkova könnte einiges in Gang bringen (We’re sliding down the surface of things).
Blutsauerstoff bei 98%. Ruhepuls 63. Früh zu Bett.
26.11.
Die Nachrufe auf HM Enzensberger ähneln sich insofern, dass dort die als außergewöhnlich empfundene Bandbreite seiner Produktion hervorgehoben wird (selbst hätte es wohl noch lieber gehabt, wenn man ihn für die Vielfalt seines Sortiments gerühmt hätte).
Wenn man Brian Enos Tagebücher aus den neunziger Jahren heute liest, kriegt man ebenfalls dieses Gefühl: Zum Beispiel erfährt man dort, in welchem Verhältnis man die Farben mischen muß, um eine größere Menge rosafarbener herzustellen (1 Tube Rot, einen Teelöffel Schwarz, drei Teelöffel Gelb auf knappe 9 Liter Weiß…), auch unter den lässig eingestreuten Kochrezepten kann ich mir gut etwas vorstellen, auch wenn diese — im Gegensatz zur Farbmixtur — keine Mengenangaben oder exakte Zutatenlisten enthalten.
Der angenehm mäandernde Strom seiner niemals banalen Gedanken wird zudem wie in einem Marmorkuchen von Anekdoten aus seiner Arbeit als Produzent durchzogen. Zur Erzählzeit ist er, unter anderem, mit den Proben und Aufnahmen für ein neues Album von U2 beschäftigt. Aus dem Alltag dort mit Bono Vox in Dublin berichtet er deadpan:
Of course, Bono, being a natural-born singer, ends up filling every available space and singing over our bits as well, which I keep saying doesn’t so good, but which he just can’t help doing. It doesn’t sound so bad either. Singers are like Arabs: they don’t abhor a vacuum. And a vacuum is defined as «when I’m not singing».
Man erfährt freilich auch, welche Software in jener Zeit von Eno als für geeignet befunden wurde, um die Talente seiner kleinen Töchter zu fördern, mit denen er sich sein Studio teilt.
Aber diese Tipps, mitsamt denen für die Hardware, sind inzwischen der Obsoleszenz zum Opfer gefallen.
24.11.
Die Getränke brachte gestern ein uralter Mann. Der Lieferant hat bislang noch jedes Mal jemanden anderes geschickt aber immer waren sie mir jung und kraftvoll erschienen — zumindest dazu in der Lage, eine Fuhre Kästen in den Keller zu tragen.
Anders nun gestern dieser vom Alter schon gezeichnete Mann, dem das Aufhalten der hohen Haustüre schon schwerzufallen schien. Im Gegenlicht ein Giacometti. Auch das Schieben der Karre fiel ihm schwer.
Und da hatte der Arbeitstag doch gerade erst begonnen. Ich musste auch später noch lange an ihn denken. Wenn man in dem Alter noch körperlich schwer arbeiten muss.
Sterling Ruby fiel mir ein, der von seinem Vater, der Bauarbeiter war, erzählt hatte, dass der mit Mitte fünfzig aufhören musste zu arbeiten. Weil er körperlich nicht mehr dazu in der Lage war — «zusammengeschafft», wie es auf dem Dorf früher hieß. Und ich dachte an Guy de Maupassant, der in Stark wie der Tod von einer inneren Erschöpfung schreibt, einem Lebensgefühl «wie ein alter zitternder Sklave».
Ich bin übrigens süchtig nach den Radiosendungen von Aaron Angell. Auch das Erfreuliche darf nicht zu kurz kommen.
Nur noch vier Wochen…
23.11.
Auf dem Weg zum Töpferkurs hatte sich die Verzauberung der Welt schon angekündigt: Im ersten Licht des Morgens, das außergewöhnlich gewesen war. Außergewöhnlich fahl. Und davon beleuchtet wurde auch der Park in Pastellfarbtönen dargestellt. Jedes einzelne Blatt war mit Raureif beschichtet. Die letzten Beeren an den Mahonien so milchblau wie Schlehen.
In den Arbeitspausen ließ sich durch den Rahmen des Atelierfensters beobachten, wie auf der anderen Straßenseite ein Pavillon aufgebaut wurde, in dem die Betreiber eines Institutes für Thai-Massagen ihre Eröffnung feieren wollten. In den Räumlichkeiten hatte sich zuvor eine Raucherkneipe befunden, jahrzehntelang, lange schon vor der sogenannten Wende auch, wie unsere Ausbilderin wusste.
Des Geruches wegen musste alles herausgerissen werden. Selbst der Putz von den Wänden: abgeschlagen. Geruch der gerauchten Zigaretten und Pfeifen war freilich gemeint, nicht etwa der des alten Systems.
Später fiel dann wie gesagt Schnee. Und als ich gestern durch den Schnee auf den Wegen zum Wochenmarkt ging, überholte ich drei Frauen, die, wie bei Edward Albee, älter, alt und jung waren. Das Mädchen machte sich über die Gipser lustig, die an einer Fassade den Putz aufrieben und sich dabei in ihrer Mother Tongue unterhielten. Einer von ihnen lachte meckernd, das schien prägnant.
«Wie ein Schaf», sagte das Mädchen, keineswegs out of earshot: «Scheiß Pollacke!»
Das blieb unwidersprochen. Auch unkommentiert. Und ich fragte mich, wie das Mädchen wohl auf dieses antiquierte Schimpfwort gekommen war; woher sie es hatte: von der alten oder gar von der noch nicht so alten dieser drei Frauen?
Im Trockenschrank jenseits des Parkes harrte derweil mein Väsle seines Schrühbrands.
21.11.
Samstag mittags hatte mich Friederike auf einen Schwarm Vögel aufmerksam gemacht. Von meinem Kompass las ich ab, dass sich die V-Formation in 79° nordöstlicher Richtung entfernte — und fragte mich, welche Art wohl dort das Weite suchen will, so fern vom Süden.
Bald daraufhin, während wir noch auf die Gäste warteten, fing es wieder zu schneien an. Die Flocken schwebten dicht an dicht hernieder. Der Schwibbogen leuchtete still.
Nach dem Kuchen machten wir einen Spaziergang durch die Dunkelheit. Inzwischen war eine Schneedecke entstanden und im Park stand auf weißer Flur eine Person, aus Schnee gemacht, von ihrem Schöpfer verlassen mit weißen Augen und Hut.
In der Leihwagenlotterie war uns ein Mini Cooper zugelost worden, in dem wir anderntags knapp über dem Aspahlt gen Thüringen flogen. Kurz hinter Potsdam und noch vor der Ausfahrt nach Beelitz kam uns ein Schwerlasttransport des Technischen Hilfsweg entgegen, der transportierte den Westberliner Weihnachtsbaum. Und über den festverschnürten Tannenspitzen sah ich die blauen Lichtlein blitzen.
Heim durch das Sun Valley hinter Halle. Allein auf der Autobahn, nachts, im warmen Gehäuse und ringsum, auch über uns, selbst der Schnee auf den Feldern: alles nachtrabenschwarz. Ich dachte an die Zeit in den Zeilen «als die Winter noch kalt und schneereich waren.» Irgendwo dort in der Nacht war doch Krölpa. Arrow PC.
Und vor uns blinkten die Warnlichter von dutzenden Windturbinenmasten. Das war wie ein rotes Sternbild, auf das wir zuflogen. Und da hindurch.
Into the future