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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

18.11.

Schnee.

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17.11.

Derzeit wache ich häufig in der dritten oder vierten Stunde — es ist dann totenstill wie es heißt, Atmen unter der gemeinsamen De Conspiratione. In der Ferne Böllern. Das sind die Kopplungsmanöver am Güterbahnhof von Lichtenberg.

Ich wache auf bei geschlossenen Lidern. Ich sehe Sätze vor mir, Erinnerungen. Ich wache auf, weil diese Sätze festgehalten werden wollen. Es ist wie bei Tangram, wie bei Tetris, die Bestandteile dieser Sätze verschieben sich, finden an Orte, die zu ihren werden. Davon wache ich auf.

Was machen die Menschen in meinem Alter, die ihre Erinnerungen nicht aufschreiben — wollen oder können; wie gehen sie mit ihren Erinnerungen um?

Gestern habe ich mein Brillenproblem endlich lösen können. Seitdem, es sind kostbare Tage, zeigt die Welt sich mir von Neuem. Ich erinnere mich an den Moment, an dem ich feststellte, dass ich entziffern kann — Lesen war das noch länger nicht: Alles war beschriftet.

In den vergangenen Tagen, da ich kaum scharf sehen, kaum die Welt recht entziffern konnte, las ich in den Zimtläden. Bruno Schulz schreibt, nein: er beschwört die visuelle Speicherungskraft der Sprache mit einer Dringlichkeit, wie ich es zuvor nur von Borges kannte — insbesondere in jenem Satz, in dem er die Morgenröte über einem Dschungel mit dem Farbton am Zahnfleisch eines Jaguars beschriebt…

Schulz: «Aus den roten Nebeln dieser neunten Stunde will sich — es ist deutlich zu sehen — das scheckige und fleckige Mexiko schütteln mit einer sich windenden Schlange im Schnabel eines Kondors, heiß und mit grellem Ausschlag befiedert, doch in einbem blauen Himmelstümpel, im hohen Grün der Bäume wiederholt ein Papagei fortwährend: ‹Guatemala, Guatemala!› — beharrlich, in verschiedenen Abständen und mit der gleichen Intonation: und von diesem grünen Wort wird er allmählich kirschrot, frisch und blättrig.»

Ich konnte diesen Papagei sehen, die ganze Zeit über. Und kann es noch immer.

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16.11.

«Überraschungsgeiz»: mit dieser wunderschönen Schöpfung hat mich Christian Metz heute früh schon überrascht (in seiner Rezension der Gedichte von Marieke Lucas Rijneveld — endelijk, endelijk auf Dutch, nein: Deutsch!)

Dass es nun bald acht Milliarden Einwohner sind auf dem «Musikdampfschiff Earth» (Andreas Neumeister), wie die Auguren behaupten, überrascht mich ja, leider, nicht.

Ich liebe Überraschungen.

Aber sie müssen halt so sein, dass ich sie niemals kommen sehe. So, wie die inneren LKW, vollaufgeblendet, bei Rijneveld.

Vermutlich.

Ich habe den Band soeben bestellt.

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13.11.

Inzwischen war ich selbst nach Zürich gebracht worden.

Wie in jedem Jahr wurde Bedas Geburtstag gefeiert, an einem Tag im Jahr sieht man sich hier wieder. Und nur ganz dünn, unaufdringlich läßt sich dahinter noch der Zeitfilm blicken. Als ich in Begleitung von Olivier dort auf dem Vorplatz eintraf, stockte draußen auf der Langstraße mit einem Mal der Verkehr, dem ein Zug von Banner tragenden Demonstranten entgegen getreten war. Die Banner selbst — quadratisch, aus einem dünnen Stoff, vermutlich war es sogar Seide —, hatten ein identisch strenges grafisches Muster in Rot, sodass dieser Aufmarsch wie von Hermès ausgestattet auf mich wirkte.

Dann fingen die gegen das sogenannte Dumping, den «Stundenklau» protestierenden Arbeiter an Bella Ciao zu singen. Und sämtliche Autos schwiegen still. Währenddessen waren schon weitere Gäste eingetroffen, bald wanderte die Aufmerksamkeit anderswo hin.

Auch wenn man sich einmal im Jahr nur sieht zu einer fixen Gelegenheit, kommt man sich allmählich doch immer näher.

Anderntags wanderte ich weit nach Seefeld hinaus, wo Lorenzo mich in seiner Galerie empfing, durch deren Fenster man einen eindrucksvollen Blick bekommen kann auf den See. Beinahe noch beindruckender fand ich das Klingelschild an der Tür. Auf dem Stand nämlich Rothschild. Aber nicht, weil er selbst so heißt, sondern weil in diesen Räumen mit dem unverbaubaren Seeblick zuvor ein Rechenzentrum untergebracht war von eben jener Bank mit diesem Namen. Und zwar für den Sektor «High Frequency Trading».

Irgendwie auch ergreifend, diese Vorstellung, dass die Server dort jahrelang standen und hochfrequent vor sich hinj rechneten, Milliarden erzeugend, Fantastrilliarden sogar eventuell, ohne auch nur ein einziges Mal die Aussicht auf den See wahrgenommen zu haben. Mangels Rezeptoren.

Danach Soundbad in der Installation von Romane Chabrol: Man liegt dort allein auf einer Tatami-Matte vor einer High-End-Anlage und läßt sich anwehen und durchspülen. Ganz starkes Erlebnis. Wie jener Ausflug auf den kärgsten aller kargen Gipfel damals im Engadin.

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11.11.

Der Abend hatte begonnen mit einem Umzug laternentragender Kinder bei Einbruch der Dämmerung, die das altbekannte Lied sangen, allerdings mit verändertem Text: Ein «Martins-Mann» sollte es nun sein, der ihnen voranging. Selbiger hielt sich ein Steckenpferd zwischen den Schenkeln fest und hatte einen Umhang aus blauem Pannesamt.

Später bei Mosebach in der Fasanenstraße. Die Lesung wurde von Rebecca Casati moderiert, die ihre schriftstellerischen Ambitionen anscheinend auch öffentlich als beerdigt sehen wollte, anders schien mir die Unbedarftheit ihrer Fragerei nicht zu erklären.

MM las dann abschließend jenen Teil aus Taube und Wildente, in dem ein Weihnachtsbaum Feuer fängt und entgegen aller Bemühungen der Umstehenden den gesamten Raum, zuletzt dann auch das im Titel zitierte Gemälde frisst. Und die Beschreibung, wie sich dieses Gemälde erst schwarz einfärbt, sich dann aus seinem Rahmen löst, um in einer Asam-Spirale aus der Flammenwelt in den rußschwarzen Himmel über dem flackernden Parkett aufzufahren, ließ mich abermals und wie erfrischt für die Beschreibungskunst eingenommen zurück.

Mit jener Szene schloss sich auch eine Art Zeit-Kreis für mich, denn zu jener Zeit, da sich das zugetragen hatte, war ich doch gerade erst in Frankfurt angekommen (es war im Winter, wenn ich mich erinnere).

Im Bett las ich noch etwas in dem Buch von Bruno Schulz. Selbst darin ging es noch immer um das Feuer. «Und der Kater wusch sich in der Sonne.»

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