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17.11.

17.11.

Derzeit wache ich häufig in der dritten oder vierten Stunde — es ist dann totenstill wie es heißt, Atmen unter der gemeinsamen De Conspiratione. In der Ferne Böllern. Das sind die Kopplungsmanöver am Güterbahnhof von Lichtenberg.

Ich wache auf bei geschlossenen Lidern. Ich sehe Sätze vor mir, Erinnerungen. Ich wache auf, weil diese Sätze festgehalten werden wollen. Es ist wie bei Tangram, wie bei Tetris, die Bestandteile dieser Sätze verschieben sich, finden an Orte, die zu ihren werden. Davon wache ich auf.

Was machen die Menschen in meinem Alter, die ihre Erinnerungen nicht aufschreiben — wollen oder können; wie gehen sie mit ihren Erinnerungen um?

Gestern habe ich mein Brillenproblem endlich lösen können. Seitdem, es sind kostbare Tage, zeigt die Welt sich mir von Neuem. Ich erinnere mich an den Moment, an dem ich feststellte, dass ich entziffern kann — Lesen war das noch länger nicht: Alles war beschriftet.

In den vergangenen Tagen, da ich kaum scharf sehen, kaum die Welt recht entziffern konnte, las ich in den Zimtläden. Bruno Schulz schreibt, nein: er beschwört die visuelle Speicherungskraft der Sprache mit einer Dringlichkeit, wie ich es zuvor nur von Borges kannte — insbesondere in jenem Satz, in dem er die Morgenröte über einem Dschungel mit dem Farbton am Zahnfleisch eines Jaguars beschriebt…

Schulz: «Aus den roten Nebeln dieser neunten Stunde will sich — es ist deutlich zu sehen — das scheckige und fleckige Mexiko schütteln mit einer sich windenden Schlange im Schnabel eines Kondors, heiß und mit grellem Ausschlag befiedert, doch in einbem blauen Himmelstümpel, im hohen Grün der Bäume wiederholt ein Papagei fortwährend: ‹Guatemala, Guatemala!› — beharrlich, in verschiedenen Abständen und mit der gleichen Intonation: und von diesem grünen Wort wird er allmählich kirschrot, frisch und blättrig.»

Ich konnte diesen Papagei sehen, die ganze Zeit über. Und kann es noch immer.

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