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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

10.11.

Morgen ist Martinstag. Zur Blauen Stunde sitze ich auf dem Vorplatz eines Cafés, das Liebling heißt (immerschon), ich trage ein Polo Shirt von Ralph Lauren, der Farbton nennt sich «Defense» — er ist um die alles entscheidende Nuance dunkler und damit etwas entschiedener olive, als derjenige dieser T-Shirts, in denen es Wolodymyr Selenskyj zur Person-of-the-Year 2022 des Time Magazine schaffen würde und wenn St Martin jetzt vorbei ritte, um mir die Hälfte seines Mantels anzubieten, ich müsste glatt ablehnen — mir würde zu warm.

What a year, huh?

Captain, it’s november!

Auf dem Wochenmarkt gestern, auf dem ältesten Wochenmarkt in Berlin, wollte ich gestern zwei Makrelen kaufen. Die Fischhändlerin hatte bloß noch eine übrig: «Nehmen sie doch Bückling, das ist auch so ein Seniorenfisch!»

What a week huh?

Dabei war doch erst Mittwoch.

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8.11.

Bloß zu den Krähen fallen Dr. Voigt nicht viele Worte ein; ihre gesanglichen Qualitäten schert er über den selben Kamm: «Raben- und Nebelkrähe gleichen einander hinsichtlich der Stimme in jeder Beziehung, während das Kräh der Saatkrähe eine Quarte bis Sexte tiefer liegt.

Von ihrem Sitzplatz herab rufen sie noch mancherlei andere Töne, die bald tiefer und dumpf, fast bauchrednerisch klingen aber auch höher liegen als das Krähen und sich zu letzterem verhalten wie Fistel- zu Brusttönen.

Es sind unebene Gebilde, die sich nicht in Noten darstellen lassen.»

Seltsam, dass bei manchen Vögeln die Ausdrucksformen derart beschränkt erscheinen müssen. Gerade bei den Krähen wundert es mich. Oft treffe ich auf welche von ihnen, die verhalten sich mir gegenüber so, dass es mir vorkommt, als suchten sie mit mir zu kommunizieren. Aber in Körpersprache. Auch mit den Augen vielleicht. Mich würde es jedenfalls nie wundern, falls aus einem dieser langen dunklen Schnäbel einst auch noch ganz andere, ebene Gebilde zu mir herauf- oder vom Wipfel eines Schlafbaumes auf mich herabgeäußert würden als Kräh.

In der vollbesetzten U-Bahn heute baute sich hinter mir eine beeindruckend schöne junge Frau auf und entfaltete eine sehr kleine Ziehharmonika. Ich war müde nach einem langen Gespräch und wollte jetzt meine Ruhe haben. Bevor sie auch nur einen Ton gespielt hatte, zu hören gewesen war bis dahin nur das leis‘ seufzende Geräusch ihres sich entfaltenden Blasebalgs, hasste ich ihre Musik.

Die dann allerdings wunderschön war. Ein Lied von Wehmut getragen. Gesungen in einer Sprache, die ich zuvor noch nie gehört‘.

Die eines Vogels war es mit ziemlicher Sicherheit nicht. Wobei — wer weiß das schon genau?

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7.11.

Des Nachts und auf der Heimfahrt las ich in dem kuriosen Buch, das Erik mir geschenkt hatte: verlegt 1894 bei Robert Oppenheim in Berlin versammelt das «Exkursionsbuch zum Studium von Vogelstimmen» das Wissen und zugleich die Lehre eines Dr. Alwin Voigt.

Dr. Voigt hatte sich, bevor die Möglichkeit bestand, den Gesang der Vögel elektroakustisch aufzuzeichnen, damit beschäftigt, ihn mit einer Notenschrift festzuhalten und den Interessierten verfügbar zu machen. Teilweise verwendet er hierfür die für Musiker bekannte Notationsweise, die sich dann hauptsächlich im ein- bis sechs-gestrichenen Bereich der Skala aufhält, bestimmte Aspekte der für Vögel charakteristischen Lautäußerungen zeigt er in einem von ihm dafür gefundenen System. Das abwippende Perlen des Nachtigallenzungenschlags beispielsweise schaut dann ungefähr so bei ihm aus: 🩸—🩸—🩸—🩸—🩸.

Emoji waren damals freilich ebenfalls unbekannt, ich habe deswegen den dortigen Blutstropfen verwendet, um das Voigt’sche Zeichen nachzuahmen.

Sehr schön auch, wie er zu den Vögeln schreibt. Zu meinem Spirit Animal Turdus merula beispielsweise stellt er fest: «Jung und Alt, Gebildete und Ungebildete, alle die unter dem düsteren Regiment des Winters seufzten, wenden den Blick freudestrahlend nach ihr, wenn aus einem Park oder Garten mitten im Häusermeere der Stadt zum ersten Male eine Amsel ihre volltönenden, melodienreichen Lieder hören läßt».

Um es mit Moritz von Uslar zu sagen: Jawollo!

Übrigens hat mir auf jenem Abend in Eriks behaglich geheizter Klause bei rohem Fisch auch Boris Lochthofen versichern wollen, dass er ein Freund der Amsel sei. Hierfür lassen sich viele Gründe finden, das Aussehen der Vögel spielt in Dr. Voigts Ausführungen nur insofern eine Rolle, als dass sich die einzelnen Sänger dadurch identifizieren lassen, um daraufhin mit dem Hörsinn tiefer an sie heran zu dringen.

Apropos das neue Album von Carla del Forno ist endlich erschienen — und damit freilich die Frage Who on earth is Thomas Bush!

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6.11.

Herrlicher Abend im Neuen Erfurter Kunstverein, wo es auch endlich ein Wiedersehen geben sollte mit Boris Lochthofen. Dass es mir dort, in Erfurt, darüber hinaus noch zu einem veritablen Abenteuer gereichen sollte, ahnte ich freilich nicht — wie auch?

Ich hatte ein Bett im Gästehaus des Parks der Gartenausstellung reserviert. Mir war im Zuge dessen auch mitgeteilt worden, dass diese Unterkunft vollautomatisch vergeben wurde, was bedeutete, dass es in diesem Gästehaus keinerlei Personal gab. Haustüre und die Zimmertüre waren durch Eingabe eines übermittelten Codes aufzuschließen. Selbst für das Eingangstor zu dem Park wurde mir eine Zahlenkombination zugeschickt.

Und tatsächlich schob sich nach Betätigung der ausgewählten Tasten in der vorgeschriebenen Reihenfolge das meterbreite Rolltor beiseite, währenddessen eine orangefarbene Warnleuchte blinkte. Es war schon lange dunkel geworden. Der Park, den ich durch die Lücke, die das Rolltor für mich ließ, betreten hatte, lag vor mir in großer Dunkelheit.

Obwohl ich mich genau an die mir übersandte Wegbeschreibung halten wollte und, zur Sicherheit, auch noch auf meinem Telefon Maps mit den übermittelten Koordinaten des Gästehauses gefüttert hatte, konnte ich mein Bett nicht finden. Meine Suche wurde dabei im wesentlichen erschwert von drei Faktoren: Die Wegbeschreibung war missverständlich oder vage formuliert; das Kartenmaterial von Maps für den Park war falsch; nach einer Weile wurden sämtliche Laternen entlang der Parkwege abgeschaltet, woraufhin aus der großen Dunkelheit eine echte Weltraumschwärze geworden war.

Ich rief die Notfallnummer des Gästehauses an. Nach kurzer Zeit meldete sich eine Frau. Sie schien meinen Anruf befürchtet zu haben, entschuldigte sich für die Wegbeschreibung und die Unmöglichkeit, vermittels Maps sich durch den Park zu navigieren. Dass die Laternen nach 22 Uhr ausgeschaltet würden, läge am Energiesparprogramm der Parkverwaltung.

Sie wollte versuchen, mich von ihrem Bett aus in meines zu leiten. Gut eine halbe Stunde lang führte mich ihre Stimme durch die Dunkelheit. Ab und an leuchtete ich Wegzeiger an mit der eingebauten Taschenlampe meiner Uhr. Aber immer waren das Punkte, die sie, die Stimme in der Dunkelheit, ratlos ließen. Aufgeben wollte ich nicht.

Irgendwann entdeckte ich ein Paar Schweinwerferpunkte. Sie sagte, dass müsste der Sicherheitsdienst sein. Ich lief, mein helles Display schwenkend wie die Stofffetzenfahne eines Schiffbrüchigen auf die beiden Lichtle in der Dunkelheit zu. Überreichte dem Fahrer mein Telefon und ließ mich an seinem Ohr von ihrer Stimme legitimieren.

Der Fahrer, er hatte schon ordentlich einen im Tee, weigerte sich zunächst, mich zu dem Gästehaus zu fahren. Er könnte mir den Weg dorthin aber erklären, es sei ganz einfach…

Ich öffnete die Beifahrertür, setzte mich dort und sagte: «Nein. es reicht jetzt. Fahren sie los, bitte!»

Er musste lachen, drehte den Zündschlüssel und nach zwanzig Minuten Fahrt durch die Nach auf verschlungenen Pfaden erreichten wir dann endlich das Gästehaus.

Dort aufzuwachen allerdings, bei Sonnenschein, mit einem gigantischen Park ganz für mich allein war sämtliche meiner Mühen mehr als nur wert.

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3.11.

Als Kind ließ ich mich von einer Erzählung Ephraim Kishons beeindrucken: Seinen Blaumilchkanal empfand ich als ungeheuer anregend für meine Fantasien. Ebenso «Dany» von Roald Dahl, später das «Große Solo für Anton» von Herbert Rosendorfer. Aus diesen Lektüren hat sich mein Faible für das Wunderbare entwickelt. Ich gebe die Hoffnung, dass es geschehen könnte, wohl nie auf.

Und dadurch geschieht es auch. Gestern beispielsweise machte ich mich auf, die Briefträger zu besuchen. In ihrem sogenannten Zustellungszentrum. Es liegt am Rande unseres Viertels und ist, wie vieles in Berlin, aus einem Provisorium entstanden, das sich mit der Zeit verfestigt hat. In diesem Fall befindet sich das Zustellungszentrum in einem leerstehenden Gebäude, das einst einen Supermarkt beherbergt hatte.

Mein Gang dorthin war notwendig geworden, weil wir seit mehr als zwei Wochen keine Post mehr erhalten hatten. Von einigen der ausgebliebenen Sendungen wusste ich, dass es sie geben müsste — irgendwo. Und wer wusste schon, was noch alles — auch dass man unverhofft Post bekommen kann, ist ja ein kleines Wunder für sich.

Vor einigen Monaten hatte mir eine Briefträgerin sotto voce mitgeteilt, dass in das Zustellungszentrum eingebrochen worden war. Man vermutete eine Bande von Jugendlichen hinter dem Einbruch, gestohlen hatten sie aber brisanterweise den Generalschlüsselbund der Briefträger, mit denen die hier in jedes Haus eindringen können, um den Bürgern ihre Sendungen in die Briefkästen und Schlitze zu stecken.

Als ich gestern im Zustellungszentrum ankam, befanden sich dort etliche Briefträger in ihrer Zigarettenpause. Man zeigte sich dennoch nicht unerfreut über mich, den unverhofften Besucher. Als ich mein Anliegen vorgetragen hatte, auch meiner Sorge um meine Sendungen Ausdruck verliehen, kümmerte man sich sehr liebevoll um mich.

Es ist anscheinend so, dass Briefträger nicht einfach nur Briefe austragen, sondern diese auch wertschätzen. Wie mein Onkel Christian, der seine Jungbullen nicht bloß züchtet und verkauft, sondern alles über diese Tiere weiß. Wie eigentlich jeder vermutlich. Wie ich auch.

Wundersamerweise stellte sich dabei heraus, dass unser Haus das Einzige war im Viertel, das nicht mehr von ihnen beliefert werden konnte. Ganz einfach, weil der Besitzer unseres Hauses ihnen keinen Schlüssel mehr zur Verfügung gestellt hatte nach dem großen Raub.

Dass wir jetzt alle in diesem Haus keine Post mehr erhalten haben, hatte also weder mit Corona oder der Beschäftigungskrise bei der Post zu tun, auch nicht mit den Briefträgern selbst. Einer von ihnen griff in ein gelbe Kiste aus Kunststoff und überreichte mir eine Ansammlung von Umschlägen und Etuis. Es war die Frucht von vierzehn Tagen. Nicht verloren, aufbewahrt.

Wie glücklich das einen machen kann, wenn ein Mysterium sich klärt.

Im Grunde, fiel mir heute früh ein, habe ich überall auf der Welt hochinteressante Dinge auf den Postämtern erlebt. In Pupulden beispielsweise, in Kingston auf Jamaica. In Galle auf Sri Lanka. Und, natürlich, in Addis Abeba. Das Postwesen an sich ist auf jeden Fall wunderbar.

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