3.11.
Als Kind ließ ich mich von einer Erzählung Ephraim Kishons beeindrucken: Seinen Blaumilchkanal empfand ich als ungeheuer anregend für meine Fantasien. Ebenso «Dany» von Roald Dahl, später das «Große Solo für Anton» von Herbert Rosendorfer. Aus diesen Lektüren hat sich mein Faible für das Wunderbare entwickelt. Ich gebe die Hoffnung, dass es geschehen könnte, wohl nie auf.
Und dadurch geschieht es auch. Gestern beispielsweise machte ich mich auf, die Briefträger zu besuchen. In ihrem sogenannten Zustellungszentrum. Es liegt am Rande unseres Viertels und ist, wie vieles in Berlin, aus einem Provisorium entstanden, das sich mit der Zeit verfestigt hat. In diesem Fall befindet sich das Zustellungszentrum in einem leerstehenden Gebäude, das einst einen Supermarkt beherbergt hatte.
Mein Gang dorthin war notwendig geworden, weil wir seit mehr als zwei Wochen keine Post mehr erhalten hatten. Von einigen der ausgebliebenen Sendungen wusste ich, dass es sie geben müsste — irgendwo. Und wer wusste schon, was noch alles — auch dass man unverhofft Post bekommen kann, ist ja ein kleines Wunder für sich.
Vor einigen Monaten hatte mir eine Briefträgerin sotto voce mitgeteilt, dass in das Zustellungszentrum eingebrochen worden war. Man vermutete eine Bande von Jugendlichen hinter dem Einbruch, gestohlen hatten sie aber brisanterweise den Generalschlüsselbund der Briefträger, mit denen die hier in jedes Haus eindringen können, um den Bürgern ihre Sendungen in die Briefkästen und Schlitze zu stecken.
Als ich gestern im Zustellungszentrum ankam, befanden sich dort etliche Briefträger in ihrer Zigarettenpause. Man zeigte sich dennoch nicht unerfreut über mich, den unverhofften Besucher. Als ich mein Anliegen vorgetragen hatte, auch meiner Sorge um meine Sendungen Ausdruck verliehen, kümmerte man sich sehr liebevoll um mich.
Es ist anscheinend so, dass Briefträger nicht einfach nur Briefe austragen, sondern diese auch wertschätzen. Wie mein Onkel Christian, der seine Jungbullen nicht bloß züchtet und verkauft, sondern alles über diese Tiere weiß. Wie eigentlich jeder vermutlich. Wie ich auch.
Wundersamerweise stellte sich dabei heraus, dass unser Haus das Einzige war im Viertel, das nicht mehr von ihnen beliefert werden konnte. Ganz einfach, weil der Besitzer unseres Hauses ihnen keinen Schlüssel mehr zur Verfügung gestellt hatte nach dem großen Raub.
Dass wir jetzt alle in diesem Haus keine Post mehr erhalten haben, hatte also weder mit Corona oder der Beschäftigungskrise bei der Post zu tun, auch nicht mit den Briefträgern selbst. Einer von ihnen griff in ein gelbe Kiste aus Kunststoff und überreichte mir eine Ansammlung von Umschlägen und Etuis. Es war die Frucht von vierzehn Tagen. Nicht verloren, aufbewahrt.
Wie glücklich das einen machen kann, wenn ein Mysterium sich klärt.
Im Grunde, fiel mir heute früh ein, habe ich überall auf der Welt hochinteressante Dinge auf den Postämtern erlebt. In Pupulden beispielsweise, in Kingston auf Jamaica. In Galle auf Sri Lanka. Und, natürlich, in Addis Abeba. Das Postwesen an sich ist auf jeden Fall wunderbar.