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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

31.3.

Heute kam mir auf ansteigender Strecke ein Asiat auf seinem Hochgeschwindigkeitsfahrrad entgegen. An der Stelle, wo wir beinahe kollidierten (ich war zu Fuß), machte er mit einem Mal völlig geräuschlose Schnappbewegungen mit seinen Kiefern. Wie ein Karpfen.

Wie er an mir vorbeisauste, war ich ihm längst ausgewichen. Das ganze ging so rasend schnell vor sich, beinahe wie unter Zeitlupe, dass ich mich erst als er hinter Forsythien verschwunden war zu fragen begann, warum er so geschnappt hatte?

Dann fiel mir ein: Klar, Pac Man.

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30.3.

«Du brauchst mi‘ net abzuhole‘ weil ich kenn‘ ja den Weg»
Der Spruch ist typisch für Conny, eine geistig behinderte Frau, die neben uns lebt; besser: neben der wir gelebt haben — weil wir ja nicht mehr lange dort leben werden.
Connys Stimme wurde zu einem Element wie Licht, Luft, Nacht oder Tag, im vergangenen Sommer, der ja vor allem hier, in Frankfurt, ein ausgesprochen heißer gewesen war.

Conny lebt im Nachbarhaus. Von daher grenzt ihr Balkon an unsere Schlafzimmerseite. In dem, wie gesagt, außergewöhnlich heißen Sommer ‚021 haben wir unsere Schlafzimmerfenster nachts permanent geöffnet stehenlassen; und permanent wehte, während wir schlafen wollten, Connys Stimme herein.

«Ich bin sonst sorgfältig, aber ich suche die Unterlagen für mein Handy — sonst gibt es Ärger mit Herrn Vogt» war einer der nächtlichen Klassiker, der — ungefähr einhundertmal in geschätzt einhundert Nächten wiederholt — sich bei mir eingeprägt hat wie das Vaterunser.

«Geh‘, wenn Du gehst» war eine kryptische Alternative zu einem jäh hervorgebrachten «Keine müde Mark!».

Und kein Wort, bis heute kein einziges zu «Corona».

Der Sommer im Jahr 2021 war nämlich nicht für alle in Deutschland von Corona geprägt. Für Conny ging es damals hauptsächlich um ihren Abschied von einem Mann namens «Dieter», der sie zu Beginn der Krise verlassen hatte.

Diesen Verlust beklagend, ihr Vermissen des Dieters in die verdammt heiße Nachtluft posaunend, war es im Nachhinein betrachtet (und belauscht) doch viel eher Conny mit ihrer Stimme, die diese vergangene Zeit für mich prägen sollte.

Ich hatte in den Iden des März sogar angefangen, eine längere Erzählung zu schreiben, in der eine Stimme zusammen mit anderen spiritistischen Phänomenen auf das Leben eines Liebespaares Einfluss nimmt. Aber wie das so ist: nach einhundert Seiten stellte ich fest, dass noch nicht genug Zeit verstrichen war zwischen dem Erlebnishorizont und der Erzählzeit. Und so ließ ich diese Arbeit vorerst ruhen.

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29.3.

Das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt im Jahr 1983 hat in meiner Familie ein außergewöhnliches Gewicht erhalten. Die daraufhin folgenden 16 Jahre einer Regentschaft von Helmut Kohl wurden als Facesitting empfunden und stets auch derart zur Sprache gebracht (ich war anfänglich 12 Jahre alt).

Ich konnte nie anders, als die auf Kohls Ära anschließenden 16 Jahre Merkel mit diesem Menektekel der Hinaustreibung des Prinzen in Verbindung zu bringen.

Der Buffalo stance der sogenannten Kanzlerin hatte mich in den vergangenen Tagen auf angenehme Weise an Schmidt erinnert. Ich hatte auf ein Re-Enactement gehofft; auf eines im Geiste der Postmoderne allerdings, in der wir ja noch immer leben zu leben scheinen — vielleicht ja noch mehr denn je.

Auf Merkel gegen Kohl hatte ich also gehofft und auf Kohl gegen Schmidt. Dass irgendwer, am liebsten doch Angela Merkel selbst, damit den gordischen Knoten zerschlägt. Aber sie, Angela Merkel, hat keinen Kampfgeist, auch wenn die Bildzeitung Bild ihr den so gerne einimpfen wollen würde wie in Turings Apfel.

Das Wichtigste bleibt ihr so gewöhnlich wie bloß irgendwie möglich zu scheinen; in einem Land, von ihr regiert, das «weiterhin und weitgehendst» auch im Jahr Eins ohne öffentliche Toiletten, ohne eine auch irgendwie erwähnenswerte Innovation seit dem 22. März im vergangenen Jahr verharren soll.

Lese im Verführten Denken von Czesław Miłosz; Wie er dort die Landschaft der Warenvielfalt beschreibt, durch die Stalin im Geiste lustwandelt…

«Ich bin wie ihr, ich will bloß noch in Rente gehen.»

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28.3.

Nachdem uns im Schlaf eine Stunde gestohlenen worden war, brachen wir auf in eine bislang unbekannte Gegend bei dem alten Propellerflugplatz von Egelsbach. Auf der Fahrt dorthin kamen wir auch in Buchschlag vorbei, einem für mich aus zweierlei Gründen magischen Ort, weil dort in einer Art Niemandsland ein Fabrikgebäude mit meinen Initialen beschriftet ins Bild ragt. Allerdings heißt der Fabrikant anders als ich, nämlich Jean Bratengeier.

Könnte ich mir mein Leben so wie bisher aber mit Namen Jean Bratengeier vorstellen? Mais oui! Sogar avec plaisir. Neulich las ich (an entlegener Stelle, bien sur) die Zeile «Messing, das Metall der Munterkeit und des Frohsinns» — schade, dass ich nicht so heißen kann.

Der Spaziergang wuchs sich dann unter heiterem Himmel zu einer Wanderung aus. Überall schon Apfelblüte, duftige Haufen. Und in manchen Hohlweg wandelten wir wie in eine vor Hummeln summende Traufe hinein. In einem Wald, gleich hinter «Deutschlands zweitgrößter Blaubeerenplantage» entdeckte ich einen schillernden Waldsee samt Bachstelze und Grünspecht, der mich an ein Werk von Urs Fischer, das ich, Jahre vor dem Jahr 2020 bei Max Hetzler auf der Etage geschaut.

Bloß war der See dort in dem Wald jetzt mit einem Mal doppelt so schön.

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27.3.

Den ganzen Sommer über hielt sich im vergangenen Jahr ein Amselsänger in unserer Nähe auf. Meist hatte er sich auf dem First der kleinen Schmiede im Hinterhof aufgebaut, um in der Morgenfrühe und später noch einmal in die Blaue Stunde hinein sein Lied zu bringen. Dass es stets der selbe Vogel war, ließ er an einer Phrase erkennen, die nicht bloß rhythmisch aus seiner Komposition ragte und die er immer dann einzubauen schien, wenn sein Vortrag allzu geschmeidig zu werden begann.

In der Erinnerung ist mir seine kleine Phrase geblieben. An ihr wollte ich ihn wiedererkennen können nach der Winterpause. Er ist bis dato nicht zurückgekehrt. Aber ich höre andere Amselhähne singen. Lieder verschwinden mit dem Sänger, falls man sie nicht notiert.

In der neuen Ausgabe der Schwäbischen Heimat wird die Geschichte einer Band von Indonesiern erzählt, die aus unerfindlichen Gründen, aus Holland kommend, im Stuttgart der Nachkriegszeit hängengeblieben waren. Dort traten sie in einer Barackenbar auf, die es natürlich längst nicht mehr gibt und spielten eine Gitarrenmusik, von der nur wenige Aufnahmen erhalten geblieben sind. Es kommen Zeitzeugen zu Wort, die sich an die Auftritte erinnern können, unter anderem auch der ehemalige Betreiber des Musikhauses Barth, wo auch ich später noch meine zweite, eine bessere Gitarre erstehen konnte. Es wird unter anderem die Theorie aufgestellt, dass Jimi Hendrix seinen Tick oder Trick, die Saiten mit Zunge, Zähnen und Füßen zu traktieren, von eben diesem Indonesier übernommen haben soll. Auch wie die Kunde aus dem Stuttgarter Barackendörfle via G.I.-Mund-Zu-Mund-Propaganda an das Hendrixsche Ohr herangetragen wurde, steht in diesem Text drin.

Alles an dieser Geschichte war gefährdet, unerzählt zu bleiben: Die Barackenbar längst abgerissen (an ihrer Stelle wurde in den achtziger Jahren das sogenannte Schwabenzentrum inklusive Baghwan-Diskothek gebaut), Musikhaus Barth eingeebnet, Hendrix tot, die Musik aus der Mode, der Indonesier als Privatier an Krebs verstorben.

Doch dann dieser Text. Wie eine Truhe oder Barke. Etwas Bergendes halt.

Das ist, worum es geht.

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