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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

5.3.

In einem hervorragenden, wenn ich gleichsam befürchten muss: weitgehend unbeachteten, Gespräch wird Matthew Williams gefragt, was es mit der zu beobachtenden Neigung von Modeschöpfern auf sich hat, eine Sammlung von bestimmten Objekten anzulegen, die nicht direkt mit ihrem Feld in Verbindung zu bringen sind (Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang an ein Gespräch mit Miuccia Prada, das in ihrem berühmt gewordenen Büro mit der Rutschbahn stattfand und in dessen Verlauf sie mir von ihrer Sammlung von Wörterbüchern erzählte, für die sie wohl sogar ein eigenes Zimmer hatte; Wörterbücher für alle möglichen Sprachen, auch für solche, die sie selbst nicht sprechen oder lesen konnte, gar verstand).

Williams antwortet, dass er derart oft schon umgezogen ist in seinem Leben und nun, in Paris, zum ersten Mal so etwas wie eine Empfindung von Sesshaftigkeit verspüren kann. Er wird nun aber nicht etwa eine Sammlung anzulegen beginnen, um sich von den Dingen (auch Bücherrücken haben diese Gabe) Mut zusprechen zu lassen. Sein Ideal besteht, wenig überraschend, in Besitzlosigkeit. Besitz, so Williams, auch Grundbesitz und Zäune erscheinen ihm zugleich als menschliche Errungenschaft und Wurzel allen Übels.

Für diese Antwort gebraucht er 397 Wörter. Ich habe sie gezählt.

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4.3.

Knifflige Situation vor dem Pilzregal — ausgerechnet — in dem neuen Biosupermarkt an der Mainzer Landstraße, die nun wirklich alles, bloß keine Landstraße ist.

Der Biosupermarkt hingegen full blown bis ins kleinste Detail. Gerade war ich dabei, aus den diversen Spankörben mir ein Sortiment an Pilzen einzusacken (in eines dieser Plastiksackerl von der Rolle, deren Öffnung sich anfänglich ungefähr gleich wenig als zuhanden erweist wie der sogenannte Anfang einer Rolle Tesafilm), da drang von weiter unten eine Stimme, ein veritables Stimmlein an mein Ohr:

«Es gibt auch andere Tüten», sagte die Stimme, die zu einer Frau gehörte. Sie wies jetzt, da sie meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte wie das Sonnenlicht in einen Spiegel, auf einen Fächer brauner Papiertüten, die glatt und schön, glatt wie gebügelt aus einem Wald von Petersiliensträußen ragten, wie dort angestammt.

Ich dankte und widmete mich wieder den Pilzen. Doch ließ sie nicht locker: Papier sei doch ein viel besseres Material. Gerade für — Pilze!

Da ich für gewöhnlich sehr geduldig bin im Umgang, dachte ich, ich raste zur Abwechslung mal aus. Und hielt ihr also einen kleinen Vortrag, dass ich Plastik über alles liebe, dass ich ein Kind des Plastikzeitalters bin und so fort.

Sie schaute mich so an, wie John Berger das über den Blick der Tiere geschrieben hat: über den schmalen Abgrund zwischen uns hinweg. Bloß halt ohne jeden Verstand.

Sie, die Unbekannte blieb wie angewurzelt bei den Papiertüten stehen und rief mir, während ich mich längst zur Kasse aufgemacht hatte, dort zahlte und dann auch hinaus auf die Landstraße trat, in regelmäßigem Rhythmus zu: «Männer!»

Männer!

Männer!…

Die Leute sind unruhig. Man muss aufpassen, was man zu ihnen sagt.

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3.3.

Gelbe Krokusse dringen aus dem Erdboden und öffnen ihre Blütentrichter. Das würden sie sein lassen, wenn Pflanzen ein Bewusstsein hätten. Die Krokusblüten werden jetzt, ob ihrer Gelbheit, ob ihrer Schnabelförmigkeit, von Amselhähnen als Rivalen attackiert.

Warum Pflanzen kein Bewusstsein haben, darum ging es gestern noch auf unserem Spaziergang durch die abendliche Welt in unserem Viertel. Ántonio Dámasio schreibt, die Pflanzen brauchten keines zu entwickeln, weil sie keine Anlagen zur Fortbewegung ausgetrieben haben. Anwurzelung statt Fight or flight. Von Chamaechoren abgesehen…

Was uns, die wir bald selbst weiterziehen werden, sonst noch aufgefallen ist in unserer liebgewonnenen Umgebung, unserem Pflanzgefäß mit Namen Heimat: Der Sperrmüll taugt schon lang nichts mehr. Es ist jetzt schon vier Jahre her, dass wir zum letzten Mal etwas Schönes auf der Strasse gefunden haben. Trotz stetiger Zunahme der Zahl von Zu-Verschenken-Kisten.

Die Zeit, da Menschen weiterzogen, um reicher zu werden, zumindest gleichreich bleiben zu können, sie sind vorbei. Die meisten müssen ständig weiter und kommen trotzdem niemals an auf ihrem grünen Zweig.

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2.3.

Chamber of Reflection ist das Lied der Stunde. Der Pepperoni Playboy hat hier um die Ecke, am Eingangstor zur Großbaustelle, seinen Imbisswagen aufgestellt. Im Schatten des Skyline Plaza, das auch sonst irgendwie nutzlos geworden ist. Es gibt Rindsbratwurst und andere Spezialitäten vom Grill. Auf einer umfunktionierten Wurstpappe steht «Halal Food». Mein favorite place to hangout, derzeit.

Ich trage keinen Walkman, ich summe leise vor mich hin.

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1.3.

Sonntäglicher Ausflug in einen Wald hinter Oberursel — obwohl ich die Wälder in dieser Zeit zwischen Frühlingsbeginn und dem Tauwetter im Grunde nicht anschauen mag. Mir sieht es dann vielerorts einfach bloß unaufgeräumt aus mit all dem kahlen Holz, den Ästen und Stangen, das dort auf dem feuchten Waldboden übereinander herumliegt… wie?

Nein. Nicht: wie. Einfach nur so.

Wobei sich dann die über den Waldweg einherschießenden Radfahrer als noch viel störender für meinen Waldgenuss herausgestellt haben. Ob einzeln, wie rauchend scharf geschossen, oder in Garben von drei oder fünf Radlern, teils en bloc, als Riegel, oder in Keilformation: Wenn einen etwas stört, wo auch immer man es findet, so empfindet man Hass, schreibt Ortega y Gasset und vermutlich hat er damit recht.

Dazwischen gab es freilich auch lichte Momente. Eine Schonung habe ich gesehen, von lauter rötlich braunem Geäst bestanden, auf deren Rinde sich die Sonnenstrahlen spiegelten wie in einem weit gespannten Spinngewebe. Dann einen Afrikaner, der das glitzernde Emblem einer Sportwagenfirma, aus Pailetten zusammengefügt, auf seiner Hemdbrust spazieren führte. Und das Waldbad von Kronberg: Bald wieder hin.

Abends brachte Friederike dann noch ein Brandopfer dar (Schokoladenkuchen). Da saßen wir dann an den Wassern zu Babel: die schönen Zutaten…

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