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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

16.3.

In der Nachbarschaft der Wohnung, in der wir eines Tages wohnen werden, gibt es eine Villa, in der niemand wohnt, beziehungsweise wohnt dort wahrscheinlich jemand schon seit langer Zeit, so lange, dass sie oder er die allmählichen Verfallserscheinungen an der Fassade nicht auffällig finden kann, weil die Person, die dort schon lange wohnt synchron mit ihrer Behausung in die Jahre gekommen ist. Und gemeinsam ging man ein ins Land.

Im Garten dieser Villa mit der blätternden Fassade steht ein Apfelbaum, dem hat in diesem Herbst keiner die Äpfel abgenommen. Jetzt hängen sie zu Rosinen geschrumpft an den kahlen Ästen. Das Gras ist blau, beinahe schwarz, wie der Himmel. Im Freibad ist niemand. Dahinter die Wiesen am Rande der Stadt.

Mir ist dort eine Begebenheit eingefallen vom Sonntag, da waren wir eingeladen. Aus dem Kinderzimmer kamen Kinderstimmen, da wurde eine grammatische Form abgefragt.

Eines Tages

Wessen?

Deines.

Und auf dem Tisch vor mir stand eine Sahnetorte. Unangeschnitten. Duftig weiß, wie Porzellan, bevor es in den Ofen muss.

Dahinter wurde die Kaffekanne abgesetzt. Aus ihrer Schnaube verströmte sie den Kaffeeduft als warmen Dunst.

Der Charakter des Tortenanblicks veränderte sich, als würde meine Scheibe beschlagen. Die Anmut des sahnigen Runds war verflogen — Bye Bye Whitebird — Und ich erinnerte mich, dass es früher für mich noch schlimmer war, dieser Moment, da der Kaffeeduft sich hernieder senkte.

Weil ich einst mit der Nase noch dichter dran war an der Tischplatte.

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15.3.

Ein gänzlich grau verwaschenes Bild vor den Fenstern und im Bordmagazin unterhält sich Bahnchef Lutz mit dem Verkehrsminister. Kein Mise en abyme. Aber in meinem Traum, der auch nicht frei von Zumutungen geblieben war, fühlte ich mich frei.

Im Zug selbst sitzt mir schräg gegenüber ein alter Mann in der schwarzen Jacke eines Motorsportlers, von bunten Aufnähern seiner Sponsoren übersät. Seine Maske ist an ihrem Kniff vergraut, so lange hat er sie schon nicht mehr ausgetauscht; so häufig auch, zieht er daran seinen Luftfilter etwas nach unten, um seine Nase hervorspringen zu lassen. Dann trinkt er Red Bull aus der Dose. Andauernd meldet sich sein iPhone, mit dessen Display er sich daraufhin intensiv beschäftigt. Um seine Augen herum zeigt sich, dass er unter seiner Schmuddelmaske schmunzelt.

Aber nicht der Greis ist pervers, es ist die Situation, in der er lebt.

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13.3.

Gestern abend Facing the Other Way abgeschlossen. Am Ende war das eine Erleichterung. So sehr ich mich für die Geschichte von 4AD interessiert habe: Die Lektüre war dann schwere Arbeit.

Schon länger habe ich mich nicht mehr durch ein Buch kämpfen müssen. Dieses bestand aus einer irritierenden Mischung von unangebrachter Ausführlichkeit und nichtssagenden Zitaten. Meine Vermutung ist, dass Ivo Watts-Russel sich vom Autor ein Produzentenrecht vorbehalten hatte, das es ihm letztendlich erst ermöglicht hat, auf jeden einzelnen Absatz inhaltlichen Einfluss auszuüben. Überhaupt schade, wie diese Figur mir jetzt so fürchterlich unsympathisch erscheinen will, obwohl ich doch kaum mehr über sie erfahren habe als ich zuvor schon zu wissen geglaubt hatte.

Aber — Immer positiv, sei meine Devise — der allerletzte Absatz, der Schluss, der nur aus zwei Sätzen besteht, konnte alles herausreissen. Da fährt er eine seiner Musikerinnen zu ihrem Konzert, das in der Wüste von New Mexico stattfinden soll und kurz vor der Ankunft sagt er zu ihr: «Wir sollten einfach weiterfahren. Das wollten wir doch eigentlich. Und stattdessen gab es halt zu viel Gerede, zuviel Gepluster, zuviel Danebenes auch. Dabei wollten wir doch bloß wie diese Musik sein

Einzig dieser eine Absatz, und die Titel, der Umschlag natürlich, das wäre die bessere Geschichte des Labels geworden.

Und auch mehr im Sinne von 4AD

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12.3.

Wenn Bauarbeiter ihre Helme mit beiden Händen festhalten müssen — was ich gestern bezeugt habe. Und eine Frau mit rotgefärbten Haaren, die sich, allein auf weiter Flur in einem Park, in einer windgeschützten Ecke niedergelassen hatte, um zu relaxen. So saß sie dort allein, mit ihrer weißen Maske im Gesicht, vor sich hinschauend. Während im Hintergrund ein Lastwagen in den Farben von DHL zum Halten gekommen war. Werden wir diese Zeit, irgendetwas davon, in Erinnerung bewahren wollen?

Mein Vater hat Geburtstag. In Jahren ist es noch nicht lange her und zugleich liegt es schon sehr weit hinter uns, dass er sehr krank gewesen war. Am Telefon reden wir auch über Puzzle und das Puzzeln. Meine Mutter sagt «Schade, dass wir damals alle Deine Puzzle verschenkt haben.»

Ich kann mich an kein einziges erinnern. Wieder und immer wieder werde ich sie zusammengesetzt haben aus ihren vielen Teilen und kein einziges dieser Motive habe ich im Gedächtnis bewahrt.

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11.3.

Dramatischer Wetterumschwung wie prophezeit. Am Nachmittag trieb der Wind mit einem Mal die Krähen und Tauben im Kessel des Hinterhofs ringsum, ich hatte hinter meinen Scheiben davon erst nichts mitbekommen, bis das Kreischen der Tiere zu mir durchgedrungen war.

Ein Bussard, der sonst ganz oben über allem kreist, war jetzt auch Teil der wilden Jagd. Bei einer Runde ließ er sich bis an mein Fenster aus der Kurve tragen. Ich konnte seine fein in Brauntönen gezeichneten Federn einzeln vor mir sehen, wie die Flechten auf den Pflastersteinen, wenn einer aus dem Fenster fällt.

Und genauso plötzlich war alles wieder vorbei. Der Sturm hatte sich gelegt, wie es heißt. Wo? Auf jeden Fall woanders hin. Hier war es still gworden wie zuvor.

Und hinter dem Messeturm, auch er jetzt hyperdetailliert dargestellt, quoll eine Wolke aus der Landschaftsmalerei des späten 19. Jahrhunderts; so langsam quoll sie, dass mir scheinen wollte, sie stünde still.

Wie angehalten. Ich würde sie vermissen.

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