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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

21.3.

Frühlingsbeginn! Der gestrige Tag stand im Zeichen des Rotkehlchens, das zum Vogel des Jahres gewählt worden war. Ein Sieg der Vernunft, so empfinde ich es, zwischendurch galt immerhin auch die Stadttaube als Favorit. Das aber nur ironisch.

Dementsprechend weit abgeschlagen fand ich gestern bei strahlendem Sonnenschein immer wieder Tauben im Unterholz vor, als ob sie sich dort zu verstecken suchten; beschämt ob ihrer Niederlage, während es von oben silbrig zwitscherte.

Am Horizont quoll, schneeweiß, wie gefroren, Dampf aus einem Turm der Aluminiumfabrik.

Elternbesuche entführen einen in die Grotte der Konflikte. Man kriegt den Stoff dort unverdünnt, direkt von der Quelle.

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20.3.

«Sie haben Glück», begrüßte mich der Autoverleiher. «Mein Herr, dieses Auto ist noch ganz neu, gerade zwölf Kilometer gefahren.» Er überreichte mir das Schlüsselmodul mit einem Zug um den Mund, als ginge es um seine kleine Schwester.

In der Krone der alten Platane vor dem Penny schräg gegenüber prügelten sich die Krähen um die Ruinen ihrer Nester aus dem vergangenen Jahr. Mir war zuvor noch nie aufgefallen, dass entlang der Mainzer Landstraße, die wirklich alles sein könnte, bloß keine Landstraße, so hohe und schöne Bäume standen. Warum wollten diese Vögel aber ausgerechnet hier ihre künftige Generation in die Welt setzen?

Die (traurige) Wahrheit ist: Unser Treiben ist den Vögeln herzlich egal. Sozusagen wurscht (die sie allerdings nicht verachten, sobald sie davon etwas in die Schnäbel kriegen). Aber gleichwie und wieviel Lärm oder «Lieder» wir auch produzieren mögen: Their live, it goes on.

In einem angejahrten Werk eines hessischen Ornithologen, Weltkriegsteilnehmer, las ich, wie er unter dem Donner der Geschütze sich im Graben wand wie ein Würmle und hoch und ungeheuer droben schlug die Lerche. Denn es war halt Frühling.

Das Auto war ein Ford Puma. Sie hatten das Modell offenbar umbenennen müssen, nachdem zu viele die versteckte Bedeutung von Cougar entziffert hatten. Das wiedergefundene Konzert ist aber nicht geeignet für das Rasen auf der Autobahn; Klaviermusik assoziiere ich unweigerlich mit horizontaler Ausdehnung, in die der Mittelstreifen schneidet. Es fehlt ein Beat.

Aber großartiger Sonnenuntergang hinter dem Chem-Park von Dormagen. Himmelweit.

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19.3.

À chloris ist auch sehr schön. Das gesamte Konzept ist beeindruckend. Seine Versuchsanordnung mit einer Focus Group, um aus ihnen Details für seine Prosa zu destillieren. Sonst wird ja immer Max Frisch herausgehoben, dass der sich für Montauk mit der drogensüchtigen Ingeborg Bachmann eingelassen hat, um sie zu studieren; ihre Wirkung auf ihn.

Die wiedergefundene Musik dieses Abends hat eine ganz seltsame Wirkung auf mich. Als ob die leuchtende Spitze eines Zeigefingers mich dadurch berührt. Ich stelle mir dazu einen Zeitgenossen vor, mit tätowiertem Gesicht, die Haare braucht er nicht zu färben, wie er diesen Melodien aus dem langen Tunnel lauscht. Daran hingegeben…

Ich will die Liste heute laut auf der Autobahn hören, bei mindestens 140 Stundenkilometern. Ein Flugzeug (Propeller) zu Prousts Lebzeiten, lese ich, schaffte, gerade so, knappe elf.

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18.3.

Das Beglückende trotz allem an meiner Zeit: Ich lebe in einer Ära der Rekonstruktion; in der sich alles — beinahe zumindest — rekonstruieren lässt. Re-Construction Time Again.

So gibt es jetzt (bei Harmonia Mundi) eine Einspielung jenes Konzertabends als Playlist (oder Album), zu der Marcel Proust 1907 seine Gäste eingeladen hatte, um deren Reaktionen auf die Stücke von Gabriel Fauré vor allem, aber auch von Robert Schumann und von Chopin studieren zu können. Alex Ross behauptet im New Yorker, dass Proust das Material aus dieser Studie dann in der Recherche verwendet hat; das kann ich schlecht beurteilen. Ich war ja nicht dabei.

Jedenfalls läuft hier den ganzen Tag ein Klavierstück namens Berceuse. Und es gibt noch eine zweite Liste oder ein Album zu dem Thema: Music from Proust’s Salons. Cello und Klavier. Das Allegro in A Dur von César Franck ist wundervoll.

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17.3.

Ich entdecke nun so viel mehr im Vorübergehen. Wobei unklar bleibt, ob es tatsächlich nun so viel mehr zu entdecken gibt, oder ob ich, in Ermangelung einer Alternative, intensiver im Vorübergehen begriffen bin.

Übernachtet haben wir schließlich in einem Hotel, was erstaunlicherweise möglich war. An der Rezeption behaupteten sie zwar, dass wir nicht die einzigen Gäste sind, aber ich glaube, das war gelogen. Irgendwie spürt man es doch, ob ein Haus vollkommen menschenleer ist während der Nacht. Selbst wenn es aus vielen Stockwerken besteht.

Grandioser Anblick, das fremde Panorama am nächsten Morgen. Der leere Platz. Allein mit allen Tauben. Am Himmel der Mercedes Stern. Ich hatte schon vergessen, dass man in Berlin die Tage später anschneidet «Da müssen Sie in zwei Stunden wiederkommen, um Neun».

Meine Milde war dabei dem Sonntagsgefühl entsprungen. Im Angesicht der Menschenleere. Ihr zarter Trieb. Die Vietnamesin im Bahnhof Zoo konnte kaum Deutsch. Der winzige Rest blieb in der Maske hängen als Beifang. Kaffay Okee.

Im Vorübergehen entdeckte ich dann die entzückende Schale und kaufte sie wie mit einem Klick. Es war ja schließlich nicht Sonntag.

Zur Tagesschau daheim, aber nicht einschalten: My kind of tingle.

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