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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

26.3.

Abends bei den Mosebachs. Ich hatte zuvor noch reichlichst gegessen, was sich dann als (lässlicher) Fehler herausstellen sollte, denn dort wurde uns reichlich aufgetischt. Wir saßen sehr schön in der Bibliothek mit Aussicht auf den Vertical View. Glitzern im Dunkeln.

Alles werde ich vermissen.

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25.3.

Künstler verschwinden wie die Häuser in Frankfurt. Manche nehmen ihre Kunst mit (Beuys), sodass nichts bleibt. Andere würden gerne bleiben, aber sie geraten in Vergessenheit.

Bis ich das Buch über 4AD angefangen habe, war mir Tarnation komplett entfallen. Wie toll diese Musik, diese Stimme und die Stimmung gewesen war. Eindeutig war Paula Frazer die bessere K.D.Lang. Heute hat sie nicht einmal einen anständigen Eintrag in der Wikipedia.

Ich halte es für möglich, dass der größte Teil der Fotokunst als NFT gehandelt werden wird, auch wenn «the old structures of power» in der Kunst sich zuvor noch ein paar Museen errichten. Wenn so viele Werke sowieso bloß produziert werden, um in zollfreien Lagerhallen zu verschwinden never to be seen again war nicht gleich bloß noch für die Screenphäre eines Sammlers?

Es kommt jetzt die Zeit der Magnolienblüte. Heute früh, als ich nach einigen Wochen wieder einmal auf den Opernplatz trat, fehlte dort ein Gebäude. Aus der Lücke schauten mir Hochhäuser, blauverspiegelt, ins Gesicht. Aber das mit der Inschrift Dem Schönen Wahren Guten steht noch. Abgerissen wurde das alte Bankhaus visavis.

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24.3.

Oft sind es die beinahe unbedeutenden, die übersehbaren Ereignisse, die bei mir etwas Bedeutendes auszulösen vermögen. So war es heute morgen ein Missgeschick mit der Teekugel, die, vermittels eines Häkchens am anderen Ende ihres Kettchens, am Griffbogen der Kanne festgemacht, durch eine unachtsame Bewegung meinerseits in einem Plumps unter den dunklen Spiegel des zuende gezogenen Tees gesackt war — woraufhin ich, im Dunklen darin mit einer Fleischgabel umherfischend, dachte: Warum ich soetwas überhaupt trinke?

In seinem sehr lesenswerten, auch unterhaltsamen Text schreibt Dean Kissick im Spectator zum Aufschwung einer neuen Strömung gegenständlicher Malerei. Er formuliert dort etwas, das ich auch so empfinden, aber niemals so mit Argumenten unterfüttern konnte: «There’s a lack of new ideas in art, and so slipshod and incoherent bootlegs of worn-out aesthetics are revived and presented once more as the next big thing. The canon is reimagined with twists […]»

Auf meine (innerliche) Frage, warum die Malerei von Genieve Figgis sehr gut ist und die von Ewa Juszkiewicz nicht; Juszkiewicz aber wiederum von Larry Gagosian vermarktet wird, und Figgis nicht, findet er eine allgemeingültige Begründung: «They belong to and assume the logic of the feed: they’re designed to be fully apprehended in less than five seconds.»

Und das, befürchte ich, gilt seit längerem schon für Texte, die im Feed längst als Bilder wahrgenommen werden und dementsprechend alles auf einen Blick mitzuteilen haben.

In der Umfrage, online durchgeführt vom politikwissenschaftlichen Institutes einer westdeutschen Universität, habe ich neulich nicht wahrheitsgemäß behauptet, ich hätte keinerlei Verständnisprobleme mit «neuesten technologischen Entwicklungen». Ich weiß zum Beispiel nicht, was NFT wirklich bedeuten — sind es Dateien mit einem Wasserzeichen? Sind es Unikate, die man, wie Kunstwerke, nicht kopieren und nicht vervielfältigen kann? Ein Freund aus der Schweiz hat mir zahlreiche Links geschickt zu Seiten, die mir helfen sollen, diese technologische Neuerung zu verstehen.

Auf einer dieser Seiten gab es Das Floß der Medusa von Théodore Géricault, aber vor dem Bug wehte eine Plastitüte mit dem Aufdruck von Tesco im Wind, und auf dem Floß selbst machte einer der Todgeweihten noch blitzende Selfies.

Kostenpunkt (derzeit): rund 32’000 Dollar. Umgerechnet aus der Kryptowährung, in der NFT auf dieser Plattform gehandelt werden.

Und/aber

Oh, that magic feeling

Nowhere to go

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23.3.

Der Kaktus, ein Greisenhaupt, den ich vor unserer Reise noch jeden Morgen auf das Fensterbrett in die Morgensonne gestellt hatte, bleibt jetzt wieder drinnen. Er macht beinahe den Eindruck auf mich, dass er sehnsüchtig hinausschaut in die Trübnis vor der Scheibe. Bestrafen — in einem Sinne von mitgefangen… — will ich ihn jedenfalls nicht; das feuchte Wetter ist nicht gut für ihn, da sonst sein Mantel aus silbrigen Fasern, die sich seidig anfühlen, solange man sich vor den darunterliegenden Dornen in acht nimmt, vergilbt.

Angelockt von dem lustigen und lustmachenden Text, den Rachel Syme über «Poog» geschrieben hatte, gab ich dem Medium Podcast erneut eine Chance. Leider abermals ohne Gewinn oder Erfolg oder wie immer man das auch nennen sollte — ich konnte den beiden Sprecherinnen einfach nicht folgen. Und ausserdem schien es mir schon nach wenigen Minuten so, als ob die Rezensentin schon alles Bemerkenswerte aus den Folgen exzerpiert und in ihren Text eingearbeitet hatte. Das war mir in den vergangenen Jahren immer wieder aufgefallen — mit amerikanischen Filmen, mit Büchern et cetera: Das Hauptstück enthält noch Partien, die sich zur Weiterverarbeitung anbieten. Kommt man von einem dieser Meta-Texte angelockt auf den Kern der Sache zurück, wird man aber enttäuscht. Beispielsweise kenne ich kaum noch Sachbücher, die es nach Seite 120 noch zu lesen lohnt. Bis dahin werden die wesentlichen Punkte gemacht, der Rest des Textkörpers ist dazu da, die Unermüdlichen ins Bett zu kriegen, beziehungsweise, einen für den Verkaufspreis relevante Rückendicke zu akkumulieren.

Ob das daran liegt, das die dort eine Distillery Culture haben? Von Feuerwasser und John Appleseed bis Moonshine und den Cocktails ging es doch immer um Schnaps. Der Schiefer aus Bernkastel-Kues kam spät nach Napa County.

Jetzt höre ich eine neunstündige Aufnahme von Chris Watson aus einem englischen Wald während des ersten Lockdowns. Sonnenaufgang, Specht und Kröten. User Harry Gilonis kommentiert: «Wonderful stuff; but when I lost my connection around 4 a.m. it started from the beginning again, even when I refreshed the page. Very disorientating, hearing ‹real time› 7 hours out of synch!»

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22.3.

Abends kam ein japanisches Paar, das sich für unser Sofa interessiert gezeigt hatte. Die Frau begrüßte Friederike mit einer sanften, vogeligen Stimme. Der Mann war nur unwesentlich größer von Wuchs. Ich war da gerade mit der Zubereitung einer asiatischen Tütensuppe beschäftigt, was mir aber erst in dem Moment, da die Japaner hereinlugten, klar geworden war; anbiedernd kam ich mir jetzt vor.

Sie hielten sich dann über die Gebühr lange in dem Raum mit dem Sofa auf und unterhielten sich in ihrer Sprache. Allmählich gefiel mir die Situation sehr gut. Ich spürte sogar ein Verlangen, mit Kabuki-Schminke angemalt und ohne Vorankündigung zu ihnen in diesen Raum zu stürmen und mit kehliger Stimme ein paar pseudo-japanische Brocken hervorzustossen. «Doscho!» zum Beispiel. Und «Mattamé!»

Das hätte den Japanern vermutlich gefallen. Vielleicht auch nicht, aber dann hätte es ihnen wohl ihre Höflichkeit befohlen, mich vor einem Gesichtsverlust zu bewahren. Vom Ergebnis her hätte das wiederum so auf mich gewirkt, als ob ihnen meine Nummer im kunstseidenen Kimono gefallen hätte.

Was in den Japanern in Wirklichkeit vorgegangen war, würde ich niemals herausbekommen.

Allerdings wollen sie das Sofa haben. Die Frau hat bei Friederike eine Anzahlung gemacht.

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